Wirtschaft
anders denken.

Neoklassik und romantischer Konsumismus: Bremsklötze gegen Veränderung

09.01.2020
OXI

Nicht erst die Klimakrise, aber sie aktuell besonders, macht deutlich: Will die Menschheit ihre Entwicklungsmöglichkeiten erhalten, ist eine klimaverträgliche und nachhaltige Weltwirtschaftsordnung nötig. Einmal die strategischen Probleme und die Differenzen beiseite gelassen, ab wann von einer wirksamen Alternative gesprochen wird – erst beim Ökosozialismus oder schon beim Green New Deal? – stellt sich angesichts der empirisch begründeten Dringlichkeit eine Frage: Warum reißen wir das Steuer nicht herum? Uwe Krüger und Juliane Pfeiffer haben einen Vorschlag.

»Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.« Mit diesem Zitat des römischen Dichters und Philosophen Seneca eröffnete der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen vor inzwischen gut acht Jahren sein Gutachten »Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation«. Es war eine der vielen Wortmeldungen aus der Wissenschaft, die eine »Vermeidung gefährlicher Klimaänderungen« als einen zentralen Baustein der Transformation zur Nachhaltigkeit beschrieb: »Klimaschutz allein kann den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für die Menschheit nicht sichern, aber ohne Klimaschutz entfallen essentielle Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit.« 

Das unabhängige Gremium zeigte in seinem Gutachten 2011 »am Beispiel des Klimawandels«, dass eine »Transformation technisch machbar und finanzierbar ist. Voraussetzung dafür ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, der Zukunftsverantwortung mit demokratischer Teilhabe kombiniert.« Es gehe um nichts Geringeres als einen »neuen Weltgesellschaftsvertrag für eine klimaverträgliche und nachhaltige Weltwirtschaftsordnung« – ohne eine solche »Große Transformation«, die der Beirat mit historischen Veränderungen wie der Neolithischen oder der Industriellen Revolution vergleicht, werde die »Fähigkeit des Planeten, die Lebensgrundlage für künftige Generationen bereitzustellen« gefährdet. 

Zur Begründung wurde seinerzeit verwiesen, was schon zuvor und erst recht heute in aller Munde ist: dass die wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschheit die planetaren Grenzen überschreiten und ihre kohlenstoffbasierte Wachstumsökonomie das Erdsystem mit geologischer Wucht verändern: Anstieg der mittleren globalen Temperatur, Anstieg des Meeresspiegels, Versauerung der Ozeane, hohe Aussterberate von Tier- und Pflanzenarten, Degradation und Versteppung von Landflächen und so weiter und so fort.

Greift man Senecas Zitat auf, laut dem ein globales Umsteuern »schwer ist«, weil »wir es nicht wagen«, und es eben nicht gewagt werde, »weil es schwer ist«, stellt sich doch die Frage: Warum passiert dann zu wenig, wie es ja ebenfalls aus wissenschaftlich berufenem Munde heißt? Oder anders formuliert: »Mit welchen mentalen Infrastrukturen und Ideologien« lässt sich »die Transformationsresistenz insbesondere westlich-kapitalistischer Gesellschaften« erklären?

Zwei große Bremsklötze

Seit einiger Zeit liegt ein Antwortvorschlag von Uwe Krüger und Juliane Pfeiffer vor. Ihre Argumente, die vor allem das neoklassische Paradigma der Wirtschaftswissenschaft, »das auf der Produktionsseite für Nachhaltigkeitsfragen blind macht, und den Romantischen Konsumismus, der Konsumptionssteigerungen in der breiten Bevölkerung begünstigt«, ins Zentrum rücken, wurden bereits Ende 2018 auf der Jahrestagung des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft in München vorgestellt. Nun ist ihr dortiger Beitrag in einem Sammelband der Konferenz-Vorträge erschienen.

»Obwohl bereits seit den 1970er Jahren von renommierten Institutionen auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen wird«, heißt es da einleitend, sei »eine Trendumkehr weg von Rohstoff-Extraktivismus und emissionsreichem Verbrauch fossiler Brennstoffe hin zu nachhaltiger Produktion und Konsumption nicht zu verzeichnen«. Dies habe sich »selbst im Angesicht einer existenziellen Bedrohung« nicht verändert. »Es stellt sich die Frage: Warum?«

Krüger und Pfeiffer sehen in »psychologischen Prozessen der Leugnung von Realitäten zum Ziel der Aufrechterhaltung von Identitätskonstruktionen, internalisierten Werten, Lebensstilen und Lebenszielen« sowie in den Interessen der »Produzent*innen von Waren und Dienstleistungen«, die »weiter ungehindert nach Gewinn streben« wollen, »zwei große Bremsklötze für eine ›Große Transformation‹ zur Nachhaltigkeit«. Beide hängen »mit der Wirtschaftsform des Kapitalismus zusammen, dessen zentrales Merkmal der Zwang zur permanenten Gewinnsteigerung ist«. Doch die Frage ist für Krüger und Pfeiffer hier noch nicht zum ganzen Kern des Problems vorgedrungen: »Welches sind die ideologischen Grundlagen, die diese Wirtschaftsform stützen und reproduzieren?« 

Unterhalb und oberhalb

Die Antwort wird in mentalen Infrastrukturen des Kapitalismus gesehen, in Ideologien, die mit Rahel Jeaggi gesprochen »praktische Konsequenzen haben. Sie wirken praktisch und sind ihrerseits Effekte einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis«. Machtansprüche und Herrschaftsstrukturen werden dadurch »selbstverständlich« und naturalisiert, aber auch das subjektive Handeln von Beschäftigten und KonsumentInnen tritt so praktisch in einen Nebel »hinter dem Rücken«, wo sie der Kritik und also auch der eigenen Veränderungsbereitschaft entzogen werden. 

Auf die unter linken populäre und einfache Antwort, dies habe mit dem »Neoliberalismus« zu tun, lassen sich Krüger und Pfeiffer nicht ein – dass dieses »wirtschaftspolitische Überzeugungssystem«, das »Unternehmen durch Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung, Steuersenkung und Sozialstaatsabbau zu stärken versucht«, wirksam ist, wird zwar nicht bestritten. Aber erstens sind »Produktion und Konsumption im Globalen Norden schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs exponentiell angestiegen«. Und zweitens »sind sogar Teile der Linken mit einer Fixierung auf den nationalen Wohlfahrtsstaat seit Langem in das Steigerungs- und Ressourcenvernutzungsspiel des Kapitalismus und seine Externalisierungspraktiken verstrickt«. Die Suche nach der Antwort müsse daher auf »Überzeugungssystemen führen, die gleichsam ›unterhalb‹ des alles überwölbenden Kapitalismus als Wirtschaftssystem, aber ›oberhalb‹ der ordnungspolitischen Vorstellungen des Neoliberalismus angesiedelt, also klein(teilig)er als Kapitalismus, aber basaler als Neoliberalismus sind«. 

Bei der »Suche nach zu kritisierenden Ideologien« komme es also darauf an, »nicht nur die Angebotsseite, also die ideologische Grundierung der Produktion von Waren und Dienstleistungen, sondern auch die Nachfrageseite, also die ideologische Grundierung des Konsums derselben« in den Blick zu nehmen. Die »Transformationsresistenz unserer westlich-kapitalistischen Gesellschaften« sehen Krüger und Pfeiffer »in zwei Paradigmen bzw. Mindsets begründet ist, die beide im 18. Jahrhundert wurzeln, also der Zeit, in der sich der Kapitalismus in der westlichen Welt durchzusetzen begann: die neoklassische Theorie der Wirtschaftswissenschaft, die das mainstream economic paradigm‹ darstellt und auf der Produktionsseite für Nachhaltigkeitsfragen blind macht, und der ›Romantische Konsumismus‹, der Konsumptionssteigerungen und Konsumkultur in der breiten Bevölkerung begünstigt«.

Die Kritik an der »Realitätsferne des neoklassischen Paradigmas«, das »ontologisch auf einen Selbstregulierungsoptimismus« bezüglich des Marktes festgelegt sei »und sich fast komplett auf allokative Fragestellungen kapriziert, statt Stabilitätsbedingungen und -risiken zu hinterfragen«, wie Arne Heise und Sebastian Thieme zitiert werden, dürfte weitgehend bekannt sein. Dass »die Neoklassik massive blinde Flecken im ökologischen und sozialen Bereich« aufweist, weil »der subjektive Nutzen eines Produkts, dargestellt durch den Preis, eine zentrale Kategorie ist und Menschen als unersättliche Maximierer ihres Eigennutzes erscheinen«, ist im Zuge der Debatten um Pluralität in der Ökonomik nun schon länger verhandelt worden. 

Wo vielschichtige Bedürfnislagen ausgeblendet werden, wo Nutzen vor allem durch Konsum entsteht und »eine umfassende Betrachtung der natürlichen Mitwelt« fehlt, gerät Entscheidendes aus dem Fokus. Zudem wird eine politische Frage, nämlich die, ob der Markt das beste Allokationsverfahren ist, vorentschieden, indem die Neoklassik« erst nach ihrer positiven Beantwortung mit der Wissenschaft« beginne. Dies produziere ein »unausgesprochenes, verdecktes Axiom« und führe in eine »mathematisch rationalisierte Ideologieproduktion«. Schlussfolgerung: »Für eine wünschenswerte ›Große Transformation‹ zur Nachhaltigkeit ist die Dominanz eines solchen marktfixierten wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmas fatal, wenn sie verhindert, dass eine längerfristige politische (demokratisch kontrollierte) Planung und Steuerung nötiger Teilprozesse überhaupt in den Bereich des Denkbaren rückt.«

Der Romantische Konsumismus

Die zweite »mentale Infrastruktur des Kapitalismus, die Krüger und Pfeiffer kritisieren, ist der Romantische Konsumismus – und damit ist ein Thema angesprochen, das in den oft aufgeregten Debatten über »Hypermoral« und selbst per Flugzeug reisende Klimaschützer eher untergeht als in kritischer Absicht durchdrungen wird. Anknüpfend an Yuval Noah Harari und den Kultursoziologen Colin Campbell geht es hier um »eine Mischung aus ›zwei zentralen Ideologien der Moderne: Romantik und Konsumismus«: Ab dem späten 18. Jahrhundert hätten diese die Entstehung einer Konsumethik befördert, die nicht nur die »Grundlage der modernen Konsumgesellschaft bildet«, sondern der Integration der übergroßen Mehrheit »in ein Überzeugungssystem der westlichen Kultur« dient, »das uns Glück durch eine Vielzahl und Vielfältigkeit von Erlebnissen (Romantik) sowie Glück durch die Inanspruchnahme von Waren und Dienstleistungen (Konsum) verheißt«.

Es geht bei diesem Gedanken nicht um notwendigen Konsum im Sinne von notwendigem Bedarf, sondern einen Konsumismus, der dem Konsum »gesteigerte Bedeutung für das soziale Zusammenleben und die eigene Identität« zuschreibt. Da die diesem zugrundeliegende »Sehnsucht der Konsument*innen prinzipiell nicht durch Konsum befriedigt wird, wirft er außerdem ein Licht auf den Motor, der das kapitalistische Wachstumssystem am Laufen hält«. 

Dabei agieren die frühen »Konsum-Romantiker« ebensowenig wie die heutigen VerbraucherInnen nicht als willenlose Subjekte eines irgendwie »bösen« Gesamtzusammenhangs, sondern durchaus selbstbestimmt, werden »aber teilweise durch das soziale Umfeld und Medien beeinflusst«. Zitiert wird in diesem Zusammenhang auch der US-Marketingexperte Victor Lebov, der in den 1950er Jahren gesagt haben soll: »Unsere ungeheuer produktive Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zu unserem Lebensstil und den Kauf und die Nutzung von Gütern zu einem Ritual machen, dass wir unsere spirituelle Befriedigung und die Erfüllung unseres Selbst im Konsum suchen.«

Wie kann man an den Mindsets rütteln?

Um noch einmal auf Seneca zurückzukommen: Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen betont das »Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht« und stellt, weil »Transformation technisch machbar und finanzierbar ist«, auf den zweiten Teil des Zitats ab (»sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer«). Krüger und Pfeiffer gehen noch einmal einen Schritt zurück – denn es ist eben doch schwer, und das mag auch ein Grund dafür sein, dass es nicht gewagt wird. Eben weil es eine »Transformationsresistenz insbesondere westlich-kapitalistischer Gesellschaften« gibt, die sich nicht allein mit gutem Willen oder vernünftigen Argumenten überwinden lässt.

Im letzten Abschnitt widmet sich der Beitrag deshalb der Frage zu, was eine »transformative Kommunikationswissenschaft« kritisch und verändernd beitragen kann, um an den »ideologischen Grundlagen, die diese Wirtschaftsform stützen und reproduzieren« zu rütteln. Vorgeschlagen wird unter anderem eine »Theorie zur Vermachtung von Fachöffentlichkeiten« sowie »eine ideologiekritische Werbeforschung«. Zudem sollen »systemüberwindende Perspektiven« nach dem Willen der AutorInnen mehr Raum erhalten, »die Transformation zur Nachhaltigkeit begünstigen« – aufgezählt werden hier »etwa eine Neudefinition des Begriffs ›Arbeit‹, eine Reduktion der Warenmenge, die Etablierung von Suffizienz und Subsistenz als Ziel von Wirtschaftsaktivität, Produktionsverbote von Nonsens-Waren, Dekommodifizierung, Werbeverbote und eine Relokalisierung der globalisierten Ökonomie«.

Uwe Krüger und Juliane Pfeiffer: Die Neoklassische Ökonomik und der Romantische Konsumismus: Ideologische Bremsklötze einer »Großen Transformation« zur Nachhaltigkeit, in: Ideologie, Kritik, Öffentlichkeit – Verhandlungen des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft, hrsg.v. Uwe Krüger und Sebastian Sevignani, München 2019.

 

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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