Wirtschaft
anders denken.

16 Millionen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen

08.11.2017
Andreas 160578 / Pixabay

Aus dem Gutachten der so genannten Wirtschaftsweisen wird vorab gemeldet, die Mehrheit der Sachverständigen werbe dafür, nicht länger den Verteilungsdiskurs ins Zentrum zu stellen. Wie sachverständig sind diese Leute? Laut den Bundesstatistikern sind hierzulande 16 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. 

Update 10.45 Uhr

Das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft hat sich beeilt und gleich einmal zu den vom Statistischen Bundesamt vorgelegten Zahlen zur Bedrohung von 16 Millionen Menschen mit Armut oder sozialer Ausgrenzung zu Wort gemeldet. »Dieser scheinbar hohe Wert ergibt sich aber vor allem durch die sehr weit gefasste Definition«, so das IW Köln.

Erstens wird auf statistische Probleme verwiesen, so sei das Leben in einem Haushalt mit geringer Erwerbsintensität zum Beispiel nicht zwingend auch eines unter sozialem Druck, denn, so schreibt es Christoph Schröder, nach dieser Definition wäre »auch der reiche Privatier, der allein von seinem Vermögen leben kann, scheinbar gefährdet«. Zweitens wird auf die Tatsache verwiesen, dass die Gefährdungsquote hierzulande »in den vergangenen beiden Jahren um knapp einen Prozentpunkt gesunken« ist, was das IW Köln auf die gute Entwicklung am Arbeitsmarkt zurückführt. Drittens bestreitet das Institut aber auch gar nicht, dass »Handlungsbedarf bei der Armutsbekämpfung … nach wie vor« bestehe, vor allem wegen der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Vorschläge, darunter mehr befristete Lohnsubventionen, dürften umstritten bleiben.

Der Hinweis darauf, dass sich »die Aufstiegsmobilität … bisher kaum verbessert« habe, wird beim IW Köln mit der Forderung nach verbesserter frühkindlicher Betreuung, mehr Ganztagsbetreuung sowie einem Ausbau der Förderinfrastruktur an Schulen verknüpft. Da Migranten überdurchschnittlich von Armut bedroht sind, müsse auch hier mehr getan werden – schnellere Integration in den Arbeitsmarkt, leichtere Anerkennung ausländischer Abschlüsse, mehr Förderung der Deutschkenntnisse stehen hier auf dem Forderungszettel des IW Köln.

 

Der Originaltext:

Aus dem Gutachten der so genannten Wirtschaftsweisen wird vorab gemeldet, die Mehrheit der Sachverständigen werbe dafür, nicht länger den Verteilungsdiskurs ins Zentrum zu stellen. Wie sachverständig sind diese Leute? Laut den Bundesstatistikern sind hierzulande 16 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. 

Fragen sozialer Gerechtigkeit werden meist von zwei Seiten diskutiert. Die eine Blickrichtung schaut auf die Möglichkeiten von steuerlicher oder primärer Umverteilung – oder darauf, warum das mal wieder nicht gehen soll, wenn die Umverteilungsrichtung von oben nach unten zeigt. In der anderen Blickrichtung steht die Frage im Zentrum, wie eigentlich die Lage ist.

Geht es hierzulande ungerecht zu? Was ist der Unterschied zu sozialer Ungleichheit? Wird übertrieben? Oder werden Armut und Ausgrenzung eher beschwiegen? Im Bundestagswahlkampf war das eines der Themen, es hat auch die Diskussion darüber angefeuert, wie man und anhand welcher Daten man Ungerechtigkeit und Ungleichheit messen kann – und wie man die Zahlen interpretieren sollte.

Zuletzt hatte sich das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft dazu zu Wort gemeldet; auch die gewerkschaftsnahe Böckler-Stiftung veröffentlichte Forschungsergebnisse. Andere Institute wie das DIW taten das ihrige. Nun kommen die Bundesstatistiker – und melden: »19,7 Prozent der Bevölkerung Deutschlands von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.«

Dieser Anteil liegt zwar deutlich unter dem Durchschnitt der EU (23,5 Prozent), bedeutet aber immer noch, dass in »Deutschland 16 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen« sind. Da hier der relative Abstand zu anderen Einkommenshöhen im Mittelpunkt steht, handelt es sich um einen Indikator für soziale Ungleichheit. Das Maß der Armutsbedrohung hat das Statistische Bundesamt auf Basis der EU-SILC-Zahlen dreidimensional gefasst: Es müsse mindestens »eine der folgenden drei Lebenssituationen« zutreffen, damit ein Mensch als »von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht« gilt: »Ihr Einkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze, ihr Haushalt ist von erheblicher materieller Entbehrung betroffen oder sie lebt in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.«

Nach den Daten kann dann für jede dieser drei Lebenslagen der Anteil an der Bevölkerung ermittelt werden: Jede sechste Person (16,5 Prozent) hierzulande galt 2016 als »armutsgefährdet. Das entsprach rund 13,4 Millionen Menschen«. Diese Menschen verfügten also über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung. In absoluten Zahlen waren das 2016 bei Alleinlebenden 1.064 Euro im Monat, bei zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren 2.234 Euro im Monat.

3,7 Prozent der Bevölkerung waren 2016 »von erheblicher materieller Entbehrung betroffen«, also ihr Leben war »aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln« stark eingeschränkt. Das bedeutet, das verfügbare Geld reicht nicht, um »Rechnungen für Miete, Hypotheken oder Versorgungsleistungen zu bezahlen, ihre Wohnungen angemessen zu beheizen oder eine einwöchige Urlaubsreise zu finanzieren«. Um unter den Bedingungen »erheblicher materieller Deprivation« zu leben, müssen bei den Befragten mindestens vier von neun Kriterien der Entbehrung erfüllt sein. Im EU-Durchschnitt waren 2016 7,5 Prozent von erheblicher materieller Entbehrung betroffen.

9,6 Prozent der Bevölkerung unter 60 lebt zudem in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung – das heißt von allen Mitgliedern zu Hause im Alter von 18 bis 29 gehen weniger als 20 Prozent einer Lohnarbeit nach. Dies geht mit Abhängigkeiten von Sozialtransfers und kulturellen Ausgrenzungsfolgen einher.

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