Wirtschaft
anders denken.

Das andere 1968: Der Osten, die Wirtschaftsreformen und der Prager Frühling

01.01.2018
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Marktsozialismus? Was haben uns Behrens, Bernary, Sik und viele andere heute noch zu sagen? Wer über linke Wirtschaftskompetenz reden will, darf »das Ökonomische 1968 des Ostens« nicht links liegen lassen.

Das begonnene Jahr bringt wichtige Jahrestage: Karl Marx wird 200, der Revolution von 1918 und der Apo von 1968 wird erinnert. Die Jahrestage gehen mit ihrer Jahrestagsberichterstattung einher und diese Berichterstattung ist Teil des Getriebes, das geschichtspolitische Merksätze und Bilder immer wieder neu erzeugt.

Alle drei Jahrestage sind per roten Fäden miteinander verknüpft: vom 1818 geborenen Denker der Kritik der Politischen Ökonomie, der keine Praxisanleitung liefern wollte, zur Praktischen Kritik der Verhältnisse in der Revolution von 1918 und ihrem Scheitern bis hin zu einer gesellschaftlichen Modernisierung um 1968 herum, die sich gegen einen Zustand richtete, der nicht erklärt werden kann, nimmt man die Folgen dieses Scheiterns von 1918 aus dem Blick.

Und dann gibt es da noch ein viertes Datum, einen Jahrestag, der ebenso in bestimmter Beziehung zu allen drei schon genannten steht: das 1968 des Ostens. Ein historisches Signum, das man nicht auf den Prager Frühling reduzieren kann und darf, das sich auch nicht als eine nur politische, nur demokratische Auflehnung verstehen lässt.

Mit den sowjetischen Panzern in der Tschechoslowakei wurde nicht nur diese praktisch gewordene Hoffnung eines anderen Sozialismus niedergewalzt, sondern es wurde auch jener Lernprozess schon im Keim zerstört, der früher begonnen hatte und das Fundament für einen alternativen Weg hätte sein können, hätte sein müssen: die wirtschaftspolitischen Reformbemühungen, ökonomische Gehversuche, volkswirtschaftliche Debatten in den nominalsozialistischen Staaten.

Wir reden hier über Ansätze in einer Zeit, in der Kybernetik neue Ressourcen der gesellschaftlichen Steuerung versprach. In der die Rede vom Überholen ohne einzuholen nicht nur eine aberwitzige Phrase irgendeines Parteihäuptlings war, sondern man dafür durchaus wirtschaftliche Indikatoren heranziehen konnte. In der sich schon gezeigt hatte, dass man ökonomische Probleme nicht mit Mauern lösen kann. In der man eine Idee von Fortschritt hatte, in die noch weniger generelle Skepsis und ökologische Kritik eingebaut war. In der die Menschen schon im Weltall waren und bald auf dem Mond stehen sollten. In der Kritik am nominalsozialistischen Status quo nicht automatisch in die Forderung nach mehr Kapitalismus führte. Ansätze waren dies freilich auch, die zu einer Zeit versuchten Wurzeln zu schlagen, in der sich jeder Denk-Humus blitzschnell in politischen Beton verwandeln konnte.

Jenseits des geschichtspolitischen Kanons

Wer einmal grob überblickt, was bisher zum Jubiläumsjahr 2018 vorab in den öffentlichen Raum geworfen wurde, wird vom Prager Frühling wenig und von den Wirtschaftsreformen in osteuropäischen Staaten praktisch gar nichts finden. Sie stehen jenseits des geschichtspolitischen Kanons, und das ist zum Teil auch nachvollziehbar:

In der heutigen Erinnerung an 1968 schwingt die Debatte über die Folgen einer linksliberalen Modernisierung der Gesellschaft mit, der ab Mitte der 1970er Jahre  auf ökonomischem Gebiete eine neoliberale Volte gegen den wohlfahrtsstaatlichen Unterbau des politischen »Auslüftens« folgen sollte, die bis heute wirkt. Und in der offiziellen Erinnerung an 1918 steckt die staatsbürgerkundliche Warnung, bei aller »verständlichen« Renaissance der Kapitalismuskritik, die heute unter freundlicher Anerkennung von Marx zur Standardfloskel bis weit hinein in die Katholische Kirche geworden ist, doch bitte nicht zu vergessen, dass diese nur in einem Rahmen praktisch werden sollte, also zu realen gesellschaftlichen Veränderungen nur führen darf, sofern die Gesellschaft dabei im Grunde unverändert bleibt.

»Sozialismus mit menschlichem Antlitz«

Am 5. Januar 1968 wurde Alexander Dubcek Generalsekretär der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Damit war ein »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« auf die Tagesordnung gesetzt worden, der eine lange Vorgeschichte hatte, die nicht nur in der Tschechoslowakei spielte, sondern vor allem auch in der DDR. Stefan Wolle, dessen 2008 erschienener »Der Traum von der Revolte« immer noch zu den lesenswertesten Büchern über die widersprüchliche Wirklichkeit der DDR zählt, platziert nicht ohne Grund ein Kapitel über das »neue Denken« in der sozialistischen Ökonomie und Wirtschaftspolitik vor die Betrachtung der politischen Erdbeben, die dann 1968 folgten.

»Seit 1962 diskutierten die Führungsgremien der SED eine grundlegende Wirtschaftsreform. Es war offensichtlich, dass die DDR ohne eine Erhöhung der Effizienz ihres Wirtschaftssystems immer weiter hinter dem Westen zurückzubleiben drohte. Die sozialistische Volkswirtschaft war dabei, die sogenannte wissenschaftlich-technische Revolution zu verschlafen. Die Anhänger einer Reformpolitik erhielten durch ähnliche Diskussionen unter sowjetischen Ökonomen Ende 1962 den entscheidenden Auftrieb«, so Wolle.

Vordenker wurden zu »Revisionisten«

Anknüpfen konnten die Wirtschaftsfachleute in der DDR dabei freilich auch an früheren eigenen Debatten. Arne Benary, Fritz Behrens und andere entwarfen schon in den 1950er Jahren alternative Vorstellungen »zur ökonomischen Theorie und ökonomischen Politik in der Übergangsperiode«. Ihre Kritik an den Folgen bürokratischer Verwaltung, ihre Ansätze zu einer demokratischen sozialistischen Selbstverwaltung der Betriebe und zur wirtschaftspolitischen Rolle des Staates brachten ihnen nicht nur den elenden Allzweckvorwurf des »Revisionismus« ein, sondern auch Parteiverfahren.

Knapp zehn Jahre später waren Grundzüge ihres Denkens dann doch zur Linie einer SED-Spitze geworden, der ökonomisch die Felle davonschwammen. Nun spielten Leute wie Wolfgang Berger bei der Konzeption der Reformen eine wichtige Rolle, sie knüpften an frühere Vorschläge an. 1963 beschloss eine Wirtschaftskonferenz der SED-Führung die Reformen.

Das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft sollte zentrale Lenkung und eigenständiges wirtschaftliches Handeln der Betriebe mit dem Ziel verknüpfen, die Arbeitsproduktivität und die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt zu heben. Anfang der 1960er Jahre standen Fragen wie die Industriepreisreform im Mittelpunkt, auch sie sollte Elemente des Marktes und der Planung verbinden.

Der Markt als Kriterium des Plans

Peter Ruben hat später darauf hingewiesen, dass hier eine »Grundannahme des Kommunismus« Leninscher Prägung verworfen wurde, nämlich das Primat der Politik (der Partei), das mit der Idee eines Primates des Marktes als Kriterium des Plans konfrontiert wurde. Für Ruben, der selbst Opfer realsozialistischer Denkverbote geworden war, beginnt hier die Phase einer Dominanz der Wirtschaftspolitik in den nominalsozialistischen Staaten. Denn die DDR stand nicht allein.

1965 starten Wirtschaftsreformen in der CSSR, 1966 in der UdSSR, 1968 in Ungarn. Die Entwicklung gerät allerdings schon seit Mitte der 1960er Jahre Zug um Zug wieder unter die Räder. Schon im Frühjahr 1964, so Ruben, werden die Reformversuche im Parteiapparat mit der Funktionärsfrage konfrontiert, »ob man nun ›sozialistische Millionäre‹« schaffen wolle. Aus allein machtpolitischen Interessen sammelt Erich Honecker auch Kritiker der Wirtschaftsreformen um sich, es geht gegen Walter Ulbricht, der bis 1971 im Grunde an der Richtung festhält, auch wenn er dazu Umwege gehen muss und dann doch scheitert.

Kahlschlag, Eiszeit, Panzer

1964 wird in Moskau Nikita Chruschtschow abgesetzt, den Ulbricht in der Frage als Partner ansehen konnte. Unter Leonid Breschnew wird eine Politik wieder dominanter, in der es für die Satellitenstaaten des Moskauer Universums keine reformpolitischen Spielräume mehr gibt. 1965 erschießt sich der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Erich Apel, kurz vor Unterzeichnung des Wirtschaftsabkommens mit der Sowjetunion für die Laufzeit von 1966 bis 1970. Kurz danach erschüttert das »Kahlschlag-Plenum« des Zentralkomitees der SED die DDR, unter dem Wortführer Erich Honecker legt die Parteispitze einen bleischweren Mantel des politischen Frostes über das Land – alles, was einer verunsicherten Machtelite nicht in den Kram passte, wurde einer Verbotskultur ausgeliefert, die das selbstständige Denken in die Keller illegaler Vorführräume und in die privaten Wohnzimmer der verbliebenen Freigeister verbannte.

1968 als »das faktische Ende« der DDR-Wirtschaftsreformen

»In gewissem Sinne kann man sagen«, so Ruben in seiner ebenfalls 2008 erschienenen Betrachtung über 1968 in der DDR, bedeutete dieses historisch aufgeladene Jahr »das faktische Ende« der Wirtschaftsreformen, »obwohl sich der Reformabbruch noch zwei Jahre hinzog«. Aber »mit dem Einsatz der Staaten des Warschauer Pakts gegen den Prager Frühling wurde auch der unter anderem vom tschechoslowakischen Ökonomen Ota Sik propagierte und in der DDR intensiv rezipierte Marktsozialismus obsolet – und damit Ulbrichts Idee, den Markt als Kriterium des Plans zu verstehen.«

Zugleich war mit der Niederschlagung im August 1968 von Moskau aus die mit der Wirtschaftsreform verbundene politische Frage nach der Form der Demokratie eines solchen Sozialismus militärisch beantwortet worden: »Für die Möglichkeit, zum demokratischen Mehrparteienstaat überzugehen«, so Ruben, hatte man in der Sowjetunion aus Gründen des Machterhalts und der Beschränkungen des Denkens gelinde gesagt nichts übrig. Außer Panzer und die Knute.

Daraufhin trat auch für die Beobachter im Westen, die nicht »nur« die Frage der Demokratisierung im Blick haben wollten eine prekäre Lage ein. So sehr der Prager Frühling verteidigt wurde, so sehr musste man nun neuerlich darum ringen, überhaupt sozialistische Optionen als denkbar, sagbar, machbar zu erhalten. Das wiederum war nicht »nur« eine Frage der politischen Form, sondern eben »auch« eine der Ökonomie.

Das Band zwischen Versuch und Korrektur zerschnitten

Hinzu kam, dass mit der Niederschlagung des Prager Frühlings die Debatten über »Wirtschaftsmodelle im Sozialismus« und damit einhergehende »Probleme der neuen ökonomischen Systeme« (mit diesem Schwerpunkt befasste sich zum Beispiel 1966 eine Ausgabe der Zeitschrift »Das Argument«, deren Texte Maßstäbe erfüllten, nach denen man heute in ökonomischen Debatten der Linken suchen muss) nicht nur diskursiv unter Druck gerieten – wie sollte man noch über Sozialismus reden, wenn der seine Panzer gegen jede Abweichung auf dem politischen und ökonomischen Millimeterpapier loslässt? Es wurde auch auf einer praktischen Ebene das Band zwischen Theorie und Aneignung, Versuch und Korrektur, Lernen und Schlussfolgern zerschnitten.

Stefan Wolle hat einmal geschrieben, »die Westachtundsechziger träumten von der Revolution und haben eine gesellschaftliche Reform bewirkt. Die Ostachtundsechziger dagegen wollten den Sozialismus reformieren und haben damit später eine Revolution ausgelöst«. Gegen diese Revolution schickte niemand mehr Panzer.

Aber die kurze Hoffnung des Spätherbstes 1989, dass nun das Erbe der alternativen Wirtschaftskonzeptionen der 1950er und 1960er Jahre noch einmal aktualisiert, neu begonnen werden könnte, zerschlug sich schnell. Das macht die Ansätze von Behrens, Bernary, Sik und vielen anderen heute nicht weniger lesenswert. Wer wird sich ihrer annehmen im erinnerungspolitischen Zirkus 2018?

Eine große Konferenz wirtschaftspolitischer Alternativen?

Es könnte sein, das diese Tradition im Jubiläumsjahr keine oder nur eine randständige Rolle spielt. Was nicht sein muss. »Was wird uns das neue Jahr bringen?«, fragt Maxim Gorki in seiner »Nowaja Schisn« vom 31. Dezember 1917. »Alles, was wir selbst tun können.«

Um es als roter Faden des Jahrestagsjahres 2018 zu formulieren: Wer aus der Kritik des real existierenden Kapitalismus, zum Beispiel im Anschluss an Marx, auf die Schlussfolgerung einer praktischen Kritik der Verhältnisse kommt, so wie es unter ganz anderen Umständen auch 1918 verschiedene politische Strömungen taten, kann und darf heute am Erbe des doppelten 1986 mit seiner gesellschaftlichen Öffnung a la Westen und seiner eben auch ökonomischen Reformideen a la Osten nicht vorbeigehen.

Oder, um es als Frage auszusprechen: Wo wir doch zurecht den Ruf nach Auffrischung linker wirtschaftspolitischer Kompetenz hören, danach, dass es nicht reicht, den Kapitalismus zu kritisieren, sondern es auch eine Idee geben muss, was ihm oder in ihm folgt, wo lesen wir aber den Aufruf zu einer großen Konferenz im Jahr 2018, die sich mit jenen alternativen ökonomischen Konzepten befasst, die 1968 eine so wichtige, vielleicht aber nicht so sichtbare Rolle spielten?

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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