Wirtschaft
anders denken.

Die Frage sozialistischer Veränderung in der Demokratie

11.07.2019

Für viele war die »Linkswende« der Jusos 1969 ein »richtig großer Aufbruch«. Was kann man 50 Jahre später daraus für die Diskussion über die Erneuerung der SPD lernen? Ein Blick nicht nur in die neue Ausgabe der »spw«.

Woodstock, die Mondlandung – 1969 war ein großes Jahr, das gilt allerdings auch politisch: In jenem Jahr »vollzogen die Jusos den Schritt von der Nachwuchsorganisation der SPD hin zu einem kritischen Richtungsverband«, wie es in der Parteizeitung »Vorwärts« heißt. Heidemarie Wieczorek-Zeul, beim Bundeskongress im Dezember 1969 mit dabei, spricht rückblickend über die dann auch so genannte »Linkswende« als von einer »Demokratisierung der Sozialdemokratie«, oder besser: von einem »richtig großen Aufbruch«. Etwas, das die SPD auch aktuell ganz gut gebrauchen könnte.

»Eine schnelle Besserung im Sinne einer Rückkehr zur 30 Prozent+-Partei ist nicht in Sicht«, heißt es denn auch im Kommentar von Kai Burmeister in der neuen Ausgabe der »Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft«. Die Partei werde »Geduld brauchen«, ein Ziel sei: eine  »Grundlage für ein fortschrittliches  Bündnis aus Arbeit, Wissenschaft und Kultur in  der Gesellschaft zu schaffen«. Und: »Aufgabe für MarxistInnen in der SPD ist es, zunächst innerparteilich das  Verständnis dafür herzustellen, die SPD zu einer reformistischen Partei im besten Sinne, d.h. grundlegender strukturelle Reformen, werden zu lassen.«

Kann der Rückblick auf 1969 und die Linkswende dabei helfen? Jan Dieren, Thilo Scholle und Stefan Stache plädieren in ihrer Einleitung zum Heftschwerpunkt zunächst einmal dafür, den Blick zu weiten: Prägende gesellschaftliche Entwicklungen hätten »in den Jahren um 1968 auf den ersten Blick ihren Anfang«, doch was da zum Ausdruck kam, kumulierte, Neues hervorbrachte, war auch »Teil weit umfassenderer ökonomischer,  sozialer und politischer Entwicklungsdynamiken«, die teils bis in die 1950er Jahre zurückreichten.

Wenn der Fokus dabei auf die »Ausdifferenzierung von Mentalitäten und Milieus« oder den steigenden, gewerkschaftlich erkämpften »Wohlstand und Konsumverheißungen für wachsende Teile der Bevölkerung«  gerichtet wird und die damaligen Widersprüche – etwa mit restriktiven Alltagskonventionen, autoritären Institutionen etc. – betont werden, fallen einem sogleich Parallelen zu heute auf: Die Gesellschaft befindet sich in einem tiefgreifenden, beschleunigten Wandel, der auf der einen Seite die gesellschaftliche Nutzung technologischer Fortschritte auf die Agenda setzt, auf der anderen die ökologischen Grenzen des bisherigen Wachstumsmodells immer deutlicher werden lässt. Die politische Orientierung von Milieus hat sich, in starker Abhängigkeit von sozialen und kulturellen Konsequenzen der vergangenen Jahrzehnte kapitalistischer Entwicklung – Stichworte sind hier Globalisierung, Ungleichheit, neue Spaltungen -, verändert; die Krise der SPD ist ein Ausdruck hiervon (und weniger eine Frage der bloßen Performance ihrer jeweils führenden Funktionäre oder eine direkt-negative Ableitung von Regierungsbeteiligungen).

Dass die sozialdemokratische Linke nach Brücken der Erkenntnis zwischen 1969 und heute sucht, liegt also nahe – der Linkswendekongress der Jusos Anfang Juli hat das auch gezeigt: hier wurde nicht nur erinnert, sondern auch aktuell kritisiert und vorausgedacht. Ein Blick in die tieferen Schichten gesellschaftlicher Entwicklung kann dabei die historischen Besonderheiten der Zeit der Linkswende von 1969 ins Licht rücken. In der »spw« verfolgt Michael Vester diesen großen Bogen und analysiert die Entstehungsbedingungen der damaligen Linkswende.

Vester zeichnet nach, »wie die Entstehung einer neuen linken Aktivistenszene, einer linksreformistischen Arbeitnehmerklasse und der antiautoritären Jugendmilieus« allmählich aber deutlich »gesamtgesellschaftliche Machtverschiebungen« bewirkten. Aber: »Die tiefgehende Umwälzung um ›1968‹ entsprach ganz und gar nicht dem  Schema eines durch Wirtschaftskrisen beförderten ökonomischen Klassenkonfliktes aus den Lehrbüchern der alten  marxistischen  Linken. Aber sie entsprach einem anderen Marx, der beobachtet hat, dass ›die  Produktivkräfte sich gleichzeitig mit dem Widerstreit der Klassen entwickelten‹ und damit auch ›die materiellen Bedingungen ihrer  Emanzipation‹ hervorbringen und dass es immer die jüngeren Generationen sind, die die  neuen Produktivkräfte übernehmen und weiterentwickeln und diese selbst kontrollieren wollen«.

Auch Max Reinhardt sieht es für die SPD »an der Zeit«, eine neue Linkswende einzuleiten – »nicht um den Flügel der SPD-Rechten abzuschneiden, sondern um die Ausgewogenheit beider Flügel wiederherzustellen«. Die Sozialdemokratie könne nur dann wieder erstarken, wenn sie »die entscheidenden gesellschaftspolitischen Konflikte wie Stadt–Land, Religion–Säkularisierung, Kapital–Arbeit/Ökologie artikuliert«, wobei dabei derzeit »oftmals übersehen« werde, dass »die Arbeitnehmer*innenseite auch ein Anrecht auf Gesundheit und ökologische Unversehrtheit« habe, »der Widerspruch also durch  die Kapitalseite entsteht und die gesellschaftlichen Folgekosten sozialisiert werden«. 

Thilo Scholle verfolgt in seinem Beitrag den Weg von der Linkswende 1969 zu den »Herforder Thesen« des Hannoveraner Kreises, deren erste Fassung 1978 erschien, die zweite 1980 – und die bis heute ein wichtiges Dokument sozialistischer Politik ist – im Zentrum geht es um die Rolle einer marxistisch orientierten Linken im demokratischen Verfassungsstaat, also um die Frage sozialistischer Veränderung in der Demokratie.

Scholle sieht hier Punkte, die als für die sozialdemokratische Debatte noch heute zentral betrachtet werden könnten: »Mit was für einer Art von Kapitalismus und mit was für einer Gesellschaft haben wir es eigentlich zu tun? Wie nehmen die  Menschen die ökonomische und gesellschaftliche Situation um sich herum wahr? Wie lassen sich Ansprüche an ein selbstbestimmtes Leben herausarbeiten und für ein linkes politisches Projekt politisieren? Wie sind  parlamentarisches  und  zivilgesellschaftliches  Arbeiten miteinander zu verbinden?« Es gehe dabei nicht um ein »abstraktes Bild« von einem Sozialismus, sondern um eine »sozialistische Perspektive«, die sich »aus den gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen heraus« entwicklen und vor allem machen lässt.

In weiteren Beiträgen schlägt Annika Klose »Ansätze für eine Politik der sozial-ökologischen Transformation« vor, Jan Dieren plädiert im Anschluss an Marx für ein »Programm der  Entwicklung von Reformen, die die Voraussetzungen für die Entfaltung unserer produktiven Fähigkeiten schaffen und so auf einen umwälzenden Bruch mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hinarbeiten«. Arne Heise geht der Frage nach, wo bei diesem »Bruch« die Scheide zwischen sozialer und sozialistische Marktwirtschaft liegt. Die Jusos Katharina Andres, Matthias Glomb und Sepp Parzinger formulieren einige »jungsozialistische Impulse zur Erneuerung« der SPD, auch der Europaabgeordnete Joachim Schuster skizziert seine diesbezüglichen Überlegungen.

Wie sich der Anspruch, eine »sozialistische Perspektive« zu formulieren, konkret in den Köpfen linker Sozialdemokraten entfaltet, kann in einem Gespräch mit Franziska Drohsel, Michael Guggemos, Kevin Kühnert und Benjamin Mikfeld nachgelesen werden, allesamt frühere oder aktuelle Jusos-Vorsitzende, die die Frage zu beantworten suchen, »was bedeutet die Linkswende heute?« Ein noch etwas größerer Kreis von Jusos kommt in einem Video von Lea Gronenberg und Anna Kleimann zu ihrer Sicht auf die Linkswende damals und heute zu Wort.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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