Wirtschaft
anders denken.

Warum Linke sich mit Inflation beschäftigen sollten

01.09.2021
Vor einem blauen Himmel stehen zwei gelbe KräneFoto: analogicus auf PixabayBeim Umbau der Wirtschaft hängt die Politik der Wissenschaft hinterher

Der sozial-ökologisch Umbau stellt große Anforderungen an die polit-ökonomische Kompetenz und die Hegemoniefähigkeit der Linken. Themen wie die Inflation muss sie diskutieren können. Sechster Eintrag im Tagebuch des politischen Umbruchs.

1. Ausgangspunkt

Linke Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist heute nicht mehr in der Defensive wie noch vor 15, 20 Jahren. Damals war eine Politik im Rückwärtsgang, die sich offensiv den Interessen der Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten verschrieb. Unter Druck und Eindruck einer neoliberalen Offensive galt es, zu kämpfen gegen die Deregulierung des Arbeitsmarkts zugunsten der Arbeitgeber, Privatisierungen zulasten öffentlicher Infrastruktur sowie gegen Umverteilung von unten nach oben. Deswegen ist es verständlich, dass Linke lange Zeit anderes zu tun und im Kopf hatten als die Beschäftigung damit, welche Konflikte und Folgeprobleme die Durchsetzung ihrer eigenen Forderungen hätte. Nun hat sich der Wind bislang nur zur Hälfe gedreht. Am Ende der Ära Merkel sind in Deutschland und Europa weithin keine neoliberalen Politiken mehr durchsetzbar. Aber andererseits reichen die Mehrheitsverhältnisse bei Wahlen und die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse nicht hin, eine wirkliche linke Steuerung der Wirtschaft, der Finanzen, Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen wirklich werden zu lassen.

Während auf intellektuellem Gebiet, in den Feuilletons, Parteiprogrammen, Verbandsetagen und selbst Mainstream-Medien fortschrittliche Ansätze wie Links-, und Postkeynesianismus, Modern Monetary Theory oder Linkschumpeterianismus an Boden gewonnen haben, die klar mit den Grundannahmen der neoliberalen Ära brechen, hinken die politischen Verhältnisse hinterher. Gerade die sozialistische Linke sollte sich bereits jetzt den Kopf zerbrechen über die Schwierigkeiten, die ihr blühen, sollte sie in die Nähe oder tatsächlich in die Regierungsmacht gelangen, wie es Strategie von Bernie Sanders, Jeremy Corbyn und ihrer jeweiligen Verbündeten gewesen ist. Dieses Anliegen wird hier verdeutlicht am Thema Inflation, das nach gefühlt ewiger Abwesenheit dieser Tage wieder auf der öffentlichen Agenda gelandet ist.

2. Zur derzeitigen Diskussion um Inflation

Viele Leserinnen und Leser werden das Thema schon altersbedingt wenn, dann nur noch aus historischen Texten kennen. Inflation wird hier verstanden als allgemeiner, d.h. sektorenübergreifender Preisanstieg in der Wirtschaft in einem bestimmten Zeitraum. In Lehrbüchern wird u.a. unterschieden zwischen geringer Inflation, bei der Preiserhöhungen deutlich im einstelligen Prozentbereich bleiben; gallopierender Inflation, die ab zwei- und dreistelligen Anstiegen des Preisniveaus droht, sowie Hyperinflation, die völlige Entknappung des Geldes und für gewöhnlich das Ende einer Währung bedeutet, weil sie die Funktionen verliert, Zahlungsmittel, Wertspeicher und Wertanzeiger in Kaufverträgen zu sein. Hohe Inflation bedeutet eine Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern, da die Last der letzteren sinkt, sowie eine Verzerrung wirtschaftlicher Tätigkeiten, weil die Leute die Flucht in Sachwerte antreten, um zu verhindern, dass mit ihrem Geld auch ihre Ersparnisse entwertet werden. Nicht plausibel ist die monetaristische These von Milton Friedman und seinen Anhägerinnen und Anhängern, wonach Inflation »immer und überall ein monetäres Phänomen sei«, sich also auf das Geldmengenwachstum zurückführen lasse. Diese Sicht ist empirisch nicht stichhaltig, sie kann bereits theoretisch nicht überzeugen. Eine höhere Geldmenge im Umlauf ändert noch nichts an den Preisen. Inflation trifft erst ein, wenn entweder eine erhöhte Nachfrage auf begrenzte Kapazitäten stößt und die Unternehmen daraufhin ihre Preis erhöhen, weil und wenn ihre Konkurrenzsituation es zulässt. Oder die Preise steigen, wenn Unternehmen bei gleichbleibender Nachfrage ihre Preise erhöhen, um ihre Profite zu steigern und daraufhin viele Leute weniger sparen, um sich im Verbrauch nicht einschränken zu müssen (ein ähnlicher Effekt kann bei verteuerten Importen auftreten). Beide Szenarien kommen ohne Steigerung der Geldmenge als Ursache aus. 

Die Periode erhöhter Inflation in den 1970er Jahren im globalen ›Westen‹ galt im Nachhinein als kritische Phase, die den Vorwärtsmarsch der Arbeiterbewegung (Eric Hobsbawm) stoppte. Weil die bis dahin vorherrschende Wirtschaftspolitik das Problem nicht in den Griff bekam, schlug die Stunde neoliberaler Politik. Ihre Durchsetzung begann noch vor der Regierungsübernahme durch die konservativen Regierungen unter Thatcher, Reagan und Kohl jeweils in Großbritannien durch die Sparpolitik, die eine Labour-Regierung als Auflagen für einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) verfolgen musste; in den USA durch den sogenannten Volcker-Schock, bei dem der damals neue Vorsitzende der Zentralbank Federal Reserve das Land durch radikale Anhebung der Leitzinsen sehenden Auges in eine Rezession führte; sowie in Deutschland durch die Hartwährungspolitik der Bundesbank ab den 1970ern, die eine expansive Politik nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen europäischen Ländern unterband und so etwa maßgeblich zum Scheitern des sozialistischen Experiments unter François Mitterand zu Beginn der 1980er Jahre beitrug.

Das alles scheint ewig her, wie aus einem anderen Leben. Auch deswegen wirkt es wie die Wiederkehr eines Phantoms, wenn für Juli 2021 eine Preissteigerung von 3,8 % in Deutschland registriert wurde. Pflichtgemäß meldeten sich die Wortführer von Focus und Springer-Presse (WELT, BILD) zu Wort, um an Ängste zu appellieren, die man seit der Hyperinflation in der ersten Phase der Weimarer Republik für einen Teil der deutschen DNA hält. Allerdings zündete die konservativ-liberale Angstmache bisher nicht. Selbst in Zeitungen und Zeitschriften des Mainstreams, die linksradikaler Umtriebe kaum verdächtig sind wie der ZEIT, der FAZ oder dem Handelsblatt wurde eine Reihe wiederum keinesfalls nur fortschrittlicher Ökonomen zitiert, deren Tenor recht eindeutig ausfiel: Die für die letzten Jahre ungewöhnliche Teuerung in diesem Jahr verdanke sich der Corona-Pandemie und ihrer Bewältigung. In Deutschland sei die Preissteigerung zurückzuführen auf das Auslaufen der Mehrwertsteuersenkung vom vergangenen Jahr, zudem auf Verteuerung von Rohstoffen und Lieferengpässe bei Vorprodukten und Vorleistungen. In dieses Umfeld reiht sich die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) ein, das Inflationsziel von »nahe, aber unter 2%« auf »2%« zu korrigieren. Nicht nur verfolgt die mächtige Institution künftig ein ›symmetrisches‹ Inflationsziel.  Womit die EZB traditionalistisch-ordoliberalen deutschen Ökonominnen und Ökonomen, aber auch Juristinnen und Juristen noch stärker die blanke Wut ins Gesicht treibt, ist ihre Ankündigung, künftig moderate Abweichungen über ihrem Zielwert zu akzeptieren.

3. Linker Diskussionsbedarf zur Inflation

Wir sehen mittel- und langfristig wichtigen Verständigungsbedarf auf der sozialistischen politischen Linken zur Inflation. Kurzfristig lassen sich konservativ-liberale Behauptungen ohnehin leicht zurückweisen, wonach Inflation vor allem den Ärmsten schade und deswegen eine harte Geldpolitik die beste Sozialpolitik sei. Wie Mark Schieritz dem bereits entgegnete, verfügen gerade einkommensschwache Haushalte meist gar nicht über Geldvermögen, das durch Inflation entwertet werden könnte. Im Gegenteil könnten sie im Falle privater Verschuldung sogar davon profitieren, weil eine relative Geldentwertung auch die Last ihrer Schulden mindert. Darüber hinaus ist die Inflations-Anklage der Wirtschaftsliberalen auch Kennzeichen von Doppelmoral. Denn sie empören sich meist nur über gesamtwirtschaftliche Preisanstiege, die ja angeblich alle schlimm träfen: Man kenne keine Klassen mehr, man kenne nur noch (deutsche) Geldvermögensbesitzer. Für Leute ohne Vermögen in Immobilien und Sachwerten sind aber Erhöhungen ganz bestimmter Preise viel bedrohlicher, selbst wenn sie nicht auf die gesamtwirtschaftliche Preisentwicklung durchschlagen: Man denke hierbei natürlich an die Entwicklung der Miet- und Immobilienpreise sowie die Energiepreise, aber auch Preise für Sprit und Fahrkarten des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs. Hier bewegen sich die Leute dauerhaft auf einem ›Anbietermarkt‹ ohne realistische Ausweichmöglichkeiten.

Um im Hinblick die Gemüter zu beruhigen, wurde die Situation in Deutschland und Europa mit derjenigen in den USA verglichen. Tatsächlich sprechen die Zahlen hier eine eindeutige Sprache. Während das Bruttoinlandsbrodukt (BIP) in den USA im Jahr 2020 um 5,8% sank, stieg das Haushaltsdefizit um 10,7% des BIP. In der Eurozone sank das BIP um 7,5%, hier stiegen die Budgetdefizite insgesamt aber nur um 6,4%. In den USA erlaubte man der Verschuldung also, für jeden Prozentpunkt BIP-Rückgang um beinahe 2% des BIP zu steigen, in der Eurozone dagegen weniger als 1%. Das erklärt sicherlich maßgeblich, warum in den USA schon im Juni 2021 der gesamtwirtschaftliche Preisanstieg mit 5,4% merklich höher ausfiel als in der Eurozone, wo er im gleichen Zeitraum nur bei 1,9% lag. Nun sollten Linke mit diesen Zahlen aber gerade nicht beschwichtigen, sondern im Gegenteil anstacheln. Es ist absolut richtig und wichtig, dass die US-Regierung unter Joe Biden – sicherlich auch unter dem innerparteilichen Druck der Linken wie AOC, Bernie Sanders u.a., sowie als Lerneffekt aus der damals zu zögerlichen und sparsamen Finanzpolitik der ersten Obama-Regierung – kräftig die Schleusen für eine expansive Ausgabenpolitik geöffnet hat. Linke sollten einfordern, dass in Europa eine mindestens nicht weniger ambitionierte Fiskalpolitik durchgesetzt wird. Aus mehreren Gründen sollte Europa investieren, bis es quietscht und im Zweifelsfall sollten die EU, die Eurozone und ihre Mitgliedstaaten den von der EZB gewährten Spielraum voll ausreizen, um ihre Volkswirtschaften auszulasten und gegebenenfalls sogar vorübergehend zu ›überhitzen‹, und aus zwar mehreren wichtigen Gründen. Der Schaden, den die jahrelang Politk der Spar- und Deregulierungsdiktate in den Wirtschaften und Gesellschaften Europas angerichtet hat, ist bei weitem noch nicht behoben und überwunden. Ganz im Gegenteil hat die Corona-Pandemie ungeheilte Wunden aufgerissen und neue geschaffen. Zur Erfahrung mit massenhafter Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern kommen nun für spätere Jahrgänge die zahlreichen Entbehrungen durch die Lockdowns. Auch wurden durch die Troika-Politik während der Eurokrise Kapazitäten vernichtet, die immer noch nicht wieder aufgebaut sind. Das daraufhin entstandene Misstrauen gegenüber der Politik wussten und wissen leider auch radikale rechte Populisten zu nutzen. Weiterhin gibt es auch, aber nicht nur in Deutschland massiven Investitionsbedarf. Nur vier Aspekte seien hier genannt. Erstens geht es darum, die Möglichkeiten der Digitalisierung von Wirtschaft, Verwaltungen und Privathaushalten besser auszuschöpfen. Zweitens zeichnet sich ein Konsens ab, die Infrastruktur des Katastrophenschutzes gegen Starkregen-Ereignisse wie in diesem Juli zu verbessern, die angesichts des sich schon ändernden Klimas kein Einzelfall bleiben werden. Schon länger bekannt ist drittens der  Investitionsstau in den Kommunen, der sich unter Covid-19 noch verschärft hat. Viertens schließlich bedarf es mehr Investitionen in Sachkapital, um die wirtschaftliche Produktivität zu erhöhen, was wiederum notwendig ist, um trotz demographiebedingt rückläufigem Erwerbstätigenanteil in der Bevölkerung Sozialstaat finanzieren und Rufe nach Rente erst mit 68, 70 usw. abwehren zu können.

Die Ökonomen Charles Goodhart und Manoj Pradhan sagen in ihrem jüngsten Buch für die nächsten Jahre aufgrund ›säkularer‹, d.h. vom ausdrücklichen Willen der Leute unabhängige Entwicklungen voraus, die wiederum in Richtung einer Rückkehr der Inflation wirken. Davon lässt sich eine These als Kurzschluss zurückweisen. Aufgrund des höheren Anteils von Rentnerinnen und Rentnern stehe der Gütermarktnachfrage eine geringere Menge von Erwerbstätigen gegenüber, um den Warenkorb an Gütern und Dienstleistungen zu produzieren, der von noch nicht – und nicht mehr- Arbeitenden konsumiert wird. Daraus, schlussfolgern sie, müsse ein inflationstreibender Nachfrageüberhang folgen. Dabei vernachlässigen sie allerdings die Bedeutung von Produktivitätsfortschritten, durch die ein- und der gleiche Warenkorb mit weniger menschlicher Arbeitskraft herstellbar ist. Ernstzunehmender ist ihr Hinweis, dass Verlangsamung oder gar Rückwärtsgang bei der Globalisierung, die abnehmende Zahl von Neuzugängen aus Schule, Ausbildung und Studium und geringere Migration das Knappheitsverhältnis am Arbeitsmarkt zugunsten der Lohnabhängigen verändern werden, wie es bereits jetzt auf einigen sektoralen Arbeitsmärkten zu beobachten ist. In den USA klagten Arbeitgeber im prekären Dienstleistungsbereich zu Beginn der Biden-Regierung über Arbeitskräfteknappheit, woraufhin der Präsident meinte, dann solle man die Beschäftigten einfach besser bezahlen. Die neue Macht der Lohnabhängigen, sich unattraktiven Arbeitsplätzen zu entziehen, könnte inflationär wirken, wenn zugleich die Marktsituation der Unternehmen es zulässt, die als Zugeständnis gezahlten höheren Löhne auf ihre Preise zu überwälzen. Wichtig ist auch der Hinweis von Goodhart und Pradhan auf die gesamtwirtschaftlichen Finanzierungssalden. Anders als man meinen sollte, erfreuten sich die kapitalistischen Unternehmen in den Jahren nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise günstiger Bedingungen. »Traditionell und normalerweise verzeichnete der (nicht-finanzielle) Unternehmenssektor Defizite, wobei die Investitionen die einbehaltenen Gewinne übertrafen. Durchaus ungewöhnlich (…) hat dieser Sektor in vielen Ländern Überschüsse verzeichnet«. Kehrseite der Überschüsse der Privathaushalte und der Unternehmen waren Defizite des öffentlichen Sektors (Staat und Sozialversicherungen) sowie (gerade gegenüber exportorientierten Ländern wie der Bundesrepublik) des Auslands. Hätte man diese Defizite verweigert, wären Nachfrage und Kapazitätsauslastung gesunken und die Arbeitslosigkeit wäre noch höher ausgefallen – wie es in den sog. ›Programmländern‹ in der Eurokrise unter Troika der Fall war. Nun prognostizieren Goodhart und Pradhan, dass sich das Verhältnis umkehren werde, weil einerseits die o.g. gewachsene Macht der Beschäftigten die Unternehmen wieder in ihre ›normale‹ Lage als Schuldner befördere, andererseits die Alterung der Gesellschaft und davon geprägte politische Mehrheiten aber ein Zurückfahren der Staatsausgaben und –defizite unterbinden würden. Die Folge sei wiederum ein dauerhafter inflationärer Nachfrageüberhang.

4. Inflation beim fortschrittlichen Umbau einer kapitalistischen Wirtschaft

Alle vorgenannten Diskussionen sind für die politische Linke von großer Bedeutung, auch wenn sie einen gewissen technokratischen Flair versprühen. Die gleichen Wirkkräfte, die bereits Ökonomen und Beobachter des Mainstreams jetzt oder künftig am Werke sehen, würden sich erst recht bemerkbar machen, wenn sich die politische Linke auch nur annäherungsweise durchsetzt. Gegen Wolfgang Streecks sehr deutsche Vorsicht vor einer Wiederkehr der Inflation hatte bereits Adam Tooze eingewendet, es sei gerade deflationäre Konsens unter Eliten ab den 1980ern Jahren, den es abzuschütteln gelte. Zu den Vorhaben, bei denen man sich über nahezu alle Strömungen der antineoliberalen Linken hinweg einig ist, zählen die Stärkung der Kampf- und Verhandlungsmacht der Beschäftigten bzw. ihrer Gewerkschaften einerseits, sowie ein tiefgreifender ökologischer Umbau der Produktionsweise andererseits, der wiederum massive Investitionen erfordert, zumal wenn dadurch keine Gering- und Normalverdienerinnen und –verdiener schlechter gestellt werden sollen. Im Falle der Umsetzung dieser linken Vorhaben ist mit einem höheren Preisanstieg zu rechnen, als ihn die europäischen Volkswirtschaften und vor allem die deutsche Wirtschaft lange gewohnt waren. Da ›Inflation‹ einen gesamtwirtschaftlichen Durchschnittswert meint, wird auch damit zu rechnen sein, dass manche Güter und Dienstleistungen merklich höhere Preisanstiege verzeichnen als andere.

Die Linke sollte sich davon nicht überraschen lassen, sondern vielmehr für den Ernstfall denken und fortschrittliche, möglichst hegemoniefähige Formen politischer Steuerung für diesen Fall vorbereiten und diskutieren. Wir wollen im Anschluss an den postkeynesianisch-marxistischen Ökonomen Karl Georg Zinn einige erwartbare Fälle gesamtwirtschaftlicher Preissteigerungen erschließen anhand von Gleichgewichtsproblemen, von denen sich drei ›systemneutral‹, d.h. in jeder arbeitsteiligen Geldwirtschaft stellen und eines spezifisch in einer kapitalistischen Ökonomie, in der das Profitmotiv übergreifender Antrieb des Wirtschaftens ist. Unter dem Investitionsgleichgewicht ist die Keynes’sche Gleichgewichtsbedingung zu verstehen, wonach, so Zinn, »die freiwillige Ersparnis einer Periode durch die geplante Investition in dieser Periode absorbiert werden muss, wenn der bisherige Beschäftigungsstand erhalten bleiben soll. Übersteigt die geplante Investition die freiwillige Ersparnis, so kommt es je nach Beschäftigungs- und Kapazitätslage zu einem realen oder nur inflationären Expansionsprozess«. Umgekehrt bedeutet eine Investition, die hinter der freiwilligen Ersparnis zurückbleibt, dass Kapazitäten unterausgelastet bleiben und weniger Arbeitskraft nachgefragt wird – also höhere Arbeitslosigkeit. Wenn linke Politik sich durchsetzte, träte neben die von Goodhart und Pradhan diskutierten Entwicklungen eine ›Aufschwunginflation‹ ein. Der ökologische Umbau würde dann nämlich nicht mehr wie bislang mit angezogener Handbremse betrieben, sondern erfasste alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche und die Unternehmen würden durch gesetzgeberische Auflagen, durch Ge- und Verbote gedrängt, ihre Ressourcenproduktivität (gleicher oder eher weniger Ressourcenverbrauch bei gleich viel oder mehr Output) zu erhöhen. Weil auch die Staatsapparate und öffentlichen Infrastrukturen um- und ausgebaut werden müssen, kann man nicht davon ausgehen, dass dieser Prozess glatt als reine, die Preise nicht beeinflussende ›Mengenkonjunktur‹ ablaufen wird. Gerade bei Investitions- und Gebrauchsgütern, die den neuen Bedürfnissen und Vorschriften nach nachhaltigem Verbrauch und ökologischer Erzeugung entsprechen, ist mit Preissteigerungen zu rechnen. Immerhin würde eine linke Regierung neben Staatsanleihen einen größeren Teil der öffentlichen Investitionen durch Umverteilung finanzieren, was den inflationären Effekt dämpfen könnte, weil nicht alle Nachfrage nach ökologischen Investitions- und Konsumgütern neben die bisherige Nachfrage, sondern zum Teil an deren Stelle treten.

Mit dem Kapazitätsgleichgewicht ist laut Zinn das Problem gemeint, dass neue Kapazitäten in etwa durch eine im gleichen Umfang und Tempo steigende Nachfrage ausgelastet werden müssen. Die Entwicklung der Kapazitäten hängt dabei vom Investitionsvolumen der vorherigen Perioden und der technischen Kapitalproduktivität ab. Eine ›punktgenaue‹ Kapazitätsauslastung, die einerseits den Umfang der Nachfrage trifft, andererseits unter Berücksichtigung der technischen Kapitalproduktivität bei voller Auslastung auch Vollbeschäftigung gestattet, wäre auch unter nicht-kapitalistischen Randbedingungen nicht selbstverständlich. Unter Bedingungen kapitalistischer Konkurrenzwirtschaft ist diese Wunschkonstellation erst recht unwahrscheinlich, weil die Investitionspläne der Unternehmen ja gerade nicht untereinander abgestimmt sind. Setzt nun eine linke Politik entsprechende öffentliche Investitionen in ökologischen Umbau durch und zwingt oder drängt Unternehmen durch Auflagen hinsichtlich zulässigen Ressourcenverbrauchs und Emissionen, ebenfalls ihren Kapitalstock entsprechend zu erneuern oder auszutauschen, wird das Kapazitätsgleichgewicht absehbar eine ganze Zeit lang verfehlt werden. Ein ökologischer Innovationszyklus, bei dem sich noch in einem Prozess von Versuch und Irrtum klären muss, welche ressourcenschonende und emissionsarme Technik sich am Ende durchsetzt, trifft dann nämlich auf oligopolisierte Märkte, in denen die Unternehmen ihre Mehrkosten an die Verbraucher weitergeben, weil sie ihre Marktanteile auch bei höheren Preisen verteidigen können. Auf Seiten der Verbraucher wiederum wird es – wie oft bei Innovationszyklen – sog. ›early adopters‹ geben, die sich gleich nach Ankündigung neuer Produktlinien vor den Läden in die Schlange stellen und dadurch den Unternehmen ermöglichen, höhere Preise zum Einstieg zu verlangen. Diese Tendenz wird sich verstärken, wenn – wie von links gewollt – die Einkommen im unteren Bereich merklich ansteigen.

Das Strukturgleichgewicht findet sich bereits angesprochen in Band II des ›Kapitals‹. »Marx hatte […] den Zusammenhang von Verteilungsquoten (Mehrwertrate) und Konsumquoten einerseits und Proportionierung der Konsum- und Investitionsgüterproduktion andererseits deutlich gemacht und darauf hingewiesen, daß es reiner Zufall sei, wenn über die dezentralen konkurrenzwirtschaftlichen Entscheidungen eine proportionierte Entwicklung der Gesamtwirtschaft eintritt« (Karl Georg Zinn). Mit anderen Worten: Die heutigen Investitionsentscheidungen bestimmen nicht nur quantitativ den Umfang der künftigen Kapazitäten, sondern auch wie viel und welche Ressourcen in der Gesellschaft jeweils auf Konsum- und Investitionsgüter verwendet werden. Selbst in einer sozialistischen Wirtschaft bestünde das Problem, dass die dabei herauskommende Allokation nicht genau auf den Bedarf passt, wie er sich in der Nachfragestruktur ausdrückt. Gerade in einer wirtschaftlichen Umbruchphase muss damit gerechnet werden, dass manche Güter und Dienstleistungen besonders gut, andere weniger und manche gar nicht angenommen werden. Zu den Preiserhöhungen bei den besonders erfolgreichen Waren kämen dann mögliche Preisaufschläge, um etwa die dringend notwendigen Verbote von ›geplanter Obzoleszenz‹ und kurzlebigeren Investitionsgütern auszugleichen, durch die Unternehmen mit weniger Ersatzkäufen rechnen müssen. 

Ein auf den ersten Blick spezifisch kapitalistisches Problem begegnet uns im Zusammenhang mit dem Verteilungsgleichgewicht. Wie Zinn argumentiert, wird ein Privatinvestor unterm Kapitalismus »nur dann investieren, wenn die Investition eine ›bestimmte‹ Rentabilität aufweist; es genügt also beispielsweise auf Dauer nicht, dass neue Kapazitäten bei nur kostendeckenden Preisen ausgelastet werden können, um die Unternehmer zu Investitionen zu veranlassen, sondern es müssen auch gewisse Rentabilitätsvorstellungen erfüllt werden«. Wie rentabel die Investition ist, hängt neben der Absatzmenge auch von der Produktivität und der Lohnhöhe der Beschäftigten ab. Es ist aber –und dieses Problem beträfe auch eine nicht-kapitalistische Wirtschaft – unwahrscheinlich, dass über verschiedene Branchen hinweg die Unternehmen gleiche Produktivitätsfortschritte und Absatzerfolge – und damit gleichhohe verteilungsneutrale Spielräume bei Lohnverhandlungen – aufweisen. Steigen in einer besonders erfolgreichen und produktiven Branche die Löhne deutlich, ist eine Nachahmung durch Beschäftigte in Branchen mit geringerer Produktivität erwartbar und nachvollziehbar, zumal wenn sie eine linke Politik im Rücken haben. Die Durchsetzung dieser Forderungskaskade wäre im Effekt aber inflationär, wenn die Unternehmen sie auf die Preise überwälzen. Die Inflation wird dann zu Mittel und Nebenfolge eines Verteilungskonflikts. Gebremst werden könnten solche Konflikte theoretisch durch Ausgleichsprozesse über den Arbeitsmarkt, indem Beschäftigte in die produktiveren Branchen wechseln. Da aber Berufsqualifikationen zwischen den Branchen nicht einfach und schnell austauschbar sind, ist mit solchen Konflikten zu rechnen. Unterm Kapitalismus wird die Erreichung der anderen genannten Gleichgewichte durch den Verteilungsaspekt erschwert. Denn die Einzelkapitale richten sich dann ja gerade nicht nach einer gesamtwirtschaftlichen Vernunft, sondern werden angetrieben vom Profitmotiv und dem konkurrenzbedingten Zwang, es durchzusetzen. »Es kennzeichnet ja die Willkür kapitalistischer Investitionspolitik, dass es keine bestimmte, quasi natürlich gegebene Rentabilität gibt, sondern dass bei der als hinreichend angesehenen Rentabilität eine Fülle subjektiver Faktoren mitspielt« (Zinn). Solange Unternehmen sich auf einem Anbieter-Markt bewegen, zwingt ihre Preissetzungsmacht die Beschäftigten, die ihrerseits keine Kaufkraftverluste durch steigende Preise erleiden wollen, in eine Art ›Gefangenendilemma‹: Wer zu lange zögert, seinen Anteil an der laufend hergestellten Einkommensmasse durch Lohnerhöhungsforderungen zu verteidigen, verliert. Dieses Problem dürfte sich eher noch verschärfen in einem Umfeld, in dem durch massive Investitionen und ökologischen Umbau die Produktivitätsentwicklungen einem scharfen Wandel unterliegen.

5. Schlussfolgerungen

Man könnte die Gründe für die Inflationsaffinität des sozial-ökologischen Umbaus auf die Formel bringen, dass sich nicht nur die stofflichen Grundlagen des Wirtschaftens verknappen, sobald fossile Ressourcen durch politischen Beschluss ausscheiden oder deutlich verteuert werden. Es verknappt sich auch die Arbeitskraft, während gleichzeitig durch staatliche Kreditaufnahme einmal für öffentliche wie für privatkapitalistische Kapazitätserweiterung keine Knappheit fiktiven Kapitals befürchtet werden muss, sofern die Schuldenbremse aufgehoben, relativiert oder durch öffentliche Investitionsgesellschaften umgangen werden kann. Linke Politik sollte mit mindestens drei Vorgehensweisen auf diese Konstellation reagieren. Sie sollte sich erstens für eine Innovationspolitik einsetzen, die die Produktivität erhöht, vor allem in solchen Branchen, in denen Produktivitätsgewinne bislang geringer ausfallen. Dadurch wird es einfacher, das Auseinanderdriften der Löhne zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren zu verhindern. Zugleich ist klar, dass eine solche Politik auf Grenzen stößt: Man kann in der Pflege Roboter einsetzen, wenn dies gesellschaftlich akzeptiert ist. Ein Orchester kann mehr Zuhörerinnen und Zuhörer durch Streaming, aber nicht durch schnelleres Spiel mehr Leute in den Sälen erreichen. Zweitens sollte linke Politik sich für neue Formate des ›politischen Tauschs‹ einsetzen. Es kann in bestimmten Fällen nicht nur gesamtwirtschaftlich, sondern auch strategisch sinnvoll sein, wenn die Lohnabhängigen nicht den maximalen Spielraum für Lohnerhöhungen durchsetzen und sich dieses Zugeständnis in ›tripartistischen‹ Runden mit Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern durch eine höhere Lohnersatzrate in der Arbeitslosenversicherung und/oder ein höheres Renten- und Mindestsicherungsniveau teuer ›abkaufen lassen‹. Aus der günstigen Verhandlungsposition in bestimmten Sektoren würde so ein Fortschritt für die ganze Arbeiter:innenklasse errungen. In engem Zusammenhang damit sollte drittens linke Politik auf bestimmten Teilmärkten für Preiskontrollen kämpfen. Wo die Leute ans Konsumentinnen und Konsumenten auf billiger herstellbare Austauschprodukte ausweichen können, sollte man getrost den Preismechanismus wirken lassen. Anders verhält es sich bei Märkten, die Grundbedarfe betreffen, auf denen Preissteigerungen nicht zur Erhöhung des Angebots führen und das Angebot womöglich gar nicht beliebig vermehrbar ist. In solchen Fällen. wie auf dem Wohnungs- und Bodenmarkt, wo der Preismechanismus nur auf der einen Seite Notlagen verschärft, auf der anderen Seite jedoch ›rent-seeking‹, d.h. Einkommensgewinnung ohne Gegenleistung ermöglicht, können Preiskontrollen angezeigt sein. Diese können und sollten aber nur vorübergehende Maßnahmen sein. Linke Politik muss an die Wurzel des Problems gehen, d.h. bis an die unterschiedlichen Anfangsausstattungen von Verteilungskonflikten, die letztere in selbstverstärkende Inflationierungen ausarten lassen können. Der sozial-ökologische Umbau wird weder als technokratisches Projekt nur ›von oben‹, noch alleine mit Agitationsparolen zu bewältigen sein. Er stellt vor dem Hintergrund ökonomischer und demographischer Trends große Anforderungen an die polit-ökonomische Kompetenz und die Hegemoniefähigkeit der Linken. Es ist höchste Zeit, sich diesen Fragen zu stellen.

Geschrieben von:

Alban Werner

Politikwissenschaftler

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