Wirtschaft
anders denken.

»Generation Corona« oder Kinder der Ungleichheit?

12.03.2022

In dieser Gesellschaft bestimmt die materielle Lage der Familie darüber, welche Chancen die Kinder haben. Aus OXI 3/22.

Seit das als SARS-CoV-2 bezeichnete Virus im Januar/Februar 2020 die Bundesrepublik erreichte, hat sich Deutschland ökonomisch, sozial und politisch noch stärker gespalten als zuvor schon. Einerseits deckte die Covid-19-Pandemie teilweise seit Langem bestehende Missstände, politische Versäumnisse und soziale Ungleichheiten auf. Andererseits verschärften die Pandemie selbst, die letztlich von den staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen (zweimaliger bundesweiter Lockdown, Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen) mit ausgelöste Rezession sowie die stark auf Wirtschaftsunternehmen bzw. deren sozialversicherungspflichtig Beschäftigte zugeschnittenen Hilfspakete, »Rettungsschirme« und Finanzhilfen die sozioökonomische Ungleichheit weiter.

Die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie und die wirtschaftlichen Kollateralschäden der Infektionsschutzmaßnahmen des Staates verteilten sich nicht gleichmäßig über alle Bewohner:innen des Landes. Vielmehr gab es Gewinner und Verlierer:innen, sowohl in der Wirtschaft (wegen eklatanter Unterschiede zwischen den Branchen) als auch in der Gesamtgesellschaft (Polarisierung zwischen verschiedenen Klassen, Schichten und Berufsgruppen). Bereits während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 wurde erkennbar, dass ein großer Teil der Bevölkerung bis weit in die Mittelschicht hinein trotz eines relativ hohen Lebens- und Sozialstandards entgegen den Beteuerungen der politisch Verantwortlichen, die Bundesrepublik sei eine »klassenlose« Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, nicht einmal kurze Zeit ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt.

Verständlich ist dies in einer wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaft nur vor dem Hintergrund einer Konzentration des Privatvermögens in wenigen Händen, die beinahe das US-amerikanische Rekordniveau erreicht und dazu führte, dass auch Soloselbstständige, Freiberufler/innen und Kleingewerbetreibende hierzulande nicht genug finanzielle Rücklagen für Durststrecken hatten, sondern eher von der Hand in den Mund lebten. 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien besitzen laut DIW-Angaben so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Die Hälfte, das sind über 40 Millionen Menschen, denen gerade einmal 0,5 Prozent des Nettogesamtvermögens gehört, wie der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung dokumentiert. Würde dabei neben der Quantität auch die Qualität des Vermögens berücksichtigt, wäre die Kluft zwischen Arm und Reich noch tiefer, denn beim Vermögen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung dürfte es sich weniger als beim Vermögen der Wohlhabenderen um Kapitaleigentum handeln.

In einer durch die Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung fast aller Lebensbereiche geprägten Gesellschaft bestimmt die materielle Lage der Familie darüber, wie gut es einem Kind geht und welche Chancen es hat. Dass sich die materielle Verteilungsschieflage in gesundheitlicher, Wohn- und Bildungsungleichheit niederschlägt, trat selten ähnlich deutlich zutage wie im Verlauf der Covid-19-Pandemie. In dieser Ausnahmesituation wurden vornehmlich Kinder aus sozial benachteiligten Familien ohne Internetanschluss und digitale Endgeräte regelrecht abgehängt, während Kinder »aus gutem Hause« manchmal wie selbstverständlich über einen Laptop, ein Tablet und/oder ein iPhone verfügen.

Finanzschwäche zieht regelmäßig Immunschwäche nach sich, weil sozial Benachteiligte häufiger Vorerkrankungen aufweisen als die übrigen Gesellschaftsmitglieder. Ihre meistenteils schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen sowie ihre beengten Wohnverhältnisse erhöhten das Risiko für eine Infektion mit SARS-CoV-2 sowie für einen schweren Krankheitsverlauf. Die armen Bewohner:innen der Hochhäuser an den Rändern unserer Großstädte, die sich in überfüllten Aufzügen leicht anstecken konnten, leben dort schließlich nicht der guten Aussicht wegen, sondern weil ihnen das Geld für die Anmietung einer teuren Altbauwohnung im Stadtzentrum fehlt.

Kinder und Jugendliche sahen sich auch deshalb mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert, weil zwei Jahre der Besorgnis, der Unsicherheit und der Beschränkungen ihres Handlungsspielraums für sie eine sehr viel längere Zeitspanne als für Erwachsene darstellten. Gerade in der Adoleszenz wirken aufgezwungene Vereinzelung, Vereinsamung und soziale Isolation, die für junge Menschen mit dem wiederholten Lockdown verbunden waren, deprimierend und demoralisierend, weil diese Lebensphase für die Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen und die Frage, wie selbstbewusst sie als Erwachsene auftreten können, von entscheidender Bedeutung ist. Von dem Problemdruck nicht unberührt blieb auch die Kinder- und Jugendhilfe mitsamt ihren Einrichtungen, denn vor allem junge Menschen, die in Armut aufwachsen, wurden noch stärker als sonst benachteiligt und bedurften professioneller Hilfe, ohne sie immer zu erhalten.

Die nichtakademische, stark von Prekarisierung bedrohte Jugend litt während der Covid-19-Pandemie unter einem signifikanten Rückgang des Lehrstellenangebots in krisengeschüttelten Branchen und Betrieben. Offenbar folgte der »Generation Praktikum«, die zur Jahrtausendwende mit unbezahlten oder minderbezahlten Tätigkeiten abgespeist wurde, statt sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu erhalten, im Zeichen der Coronakrise eine »Generation kein Praktikum«, der 2020/21 weder genug Ausbildungs- noch genug Praktikumsplätze zur Verfügung standen.

Obwohl der Bund ein Programm »Ausbildungsplätze sichern« auflegte, das es der Agentur für Arbeit ermöglichte, kleinen und mittelständischen Unternehmen, die weniger als 250 (später: 500) Beschäftigte hatten und trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten verstärkt ausbildeten, eine »Azubi-Prämie« in Höhe von maximal 3.000 Euro bzw. später sogar 6.000 Euro pro Lehrstelle zu zahlen, fiel es Schulabgänger(inne)n während der Pandemie schwerer als früheren Jahrgängen, einen für sie passenden Ausbildungsplatz zu finden. Wo die Einkommen sowieso niedriger sein werden als bei akademisch Gebildeten und hochqualifizierten Fachkräften, wurde der Start ins Berufsleben dadurch zusätzlich erschwert, verzögert oder verhindert.

Auch die akademische Jugend wurde sozial und ökonomisch stärker gespalten. Da nur 12 Prozent der 2,8 Millionen Studierenden vor der Pandemie staatliche Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög) erhielten und mehr als zwei Drittel von ihnen einen Nebenjob hatten, gehörten sie größtenteils zu den Krisenopfern. Studierende, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden (können) und/oder mit ihrem Bafög-Satz nicht auskamen, verloren wegen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 und daraus resultierender Geschäftsaufgaben und Betriebsschließungen häufig ihren Nebenjob (z.B. in der Gastronomie), der ihren Lebensunterhalt bis dahin mitgesichert hatte. Da sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld I oder II erhalten konnten, waren akuter Geldmangel und manchmal der Abbruch des Studiums die Folge, es sei denn, es gelang ihnen, einen Aushilfsjob im (Lebensmittel-)Einzelhandel oder bei einem Lieferdienst zu bekommen.

Wohnten notleidende Studierende nicht ohnehin dort, kehrten manche von ihnen aus Kostengründen ins Elternhaus zurück. Die preiswerte Wohnform der studentischen WG wies eine höhere Ansteckungsgefahr auf, weil man seinen Kommiliton(inn)en und deren Besucher(inne)n in der Gemeinschaftsküche schlecht aus dem Weg gehen kann. Ihre zumeist relativ kleinen Zimmer, die Studierenden sonst hauptsächlich als Schlaf- und Ruheraum dienen, wurden angesichts der über ein Jahr lang geschlossenen Hochschulen zum permanenten Arbeitsplatz umfunktioniert.

Schon während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 wurde häufig von einer »Generation Corona« gesprochen, die wegen der gerade junge Menschen hart treffenden Abstandsregelungen, Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren eine gemeinsame Lebenserfahrung verbinde. Kinder und Jugendliche bilden jedoch keine sozial homogene Bevölkerungsgruppe, lassen sich vielmehr in Minderjährige aus armen, wohlhabenden, reichen und hyperreichen Familien unterteilen. Deshalb wäre es auch falsch, die sich wegen des Schuldenberges der öffentlichen Hand nach der Pandemie mutmaßlich noch intensivierenden Verteilungskämpfe als Generationenkonflikt zu begreifen. Früher hätte man in diesem Zusammenhang eher von Klassenauseinandersetzungen gesprochen, denn die zentrale soziale Scheidelinie verläuft in unserer Gesellschaft nach wie vor nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Kapital und Arbeit. Scheinbar wird dieser Antagonismus im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus von der Spaltung in Arm und Reich ersetzt, in Wahrheit aber nur ergänzt und teilweise überlagert.

Schul- und Kitaschließungen haben sich zwar spürbar auf das Familienklima sowie das Wohlbefinden sämtlicher Kinder und Jugendlichen ausgewirkt, aber in sehr unterschiedlicher Weise. Während besonders gut situierte Eltern, denen ein geräumiges Kinderzimmer und ein großer Garten zur Verfügung standen, die zusätzlich in und mit der Familie verbrachte Zeit als durchaus positiv bewerteten, ging es einkommensschwachen Familien in beengten Wohnverhältnissen weitaus schlechter. Psychosozial am stärksten belastet waren jene Kinder und Jugendlichen, die wegen prekärer Lebensbedingungen, ständiger Geldsorgen und daraus erwachsender Konflikte ohnehin unter großem Stress standen.

Seit zwei Jahren beherrscht die Covid-19-Pandemie das Leben der Minderjährigen hierzulande mit wenigen Unterbrechungen, und zwar von morgens bis abends und nachts ebenso, weil viele Kinder und Jugendliche nicht mehr (gut) ein- oder durchschlafen können. Zu den Existenzsorgen armutsgefährdeter Familien gesellte sich bei ihnen nun die für sensible Zeitgenoss(inn)en besonders unangenehme Infektionsangst. Vornehmlich für kleine Kinder, die nichts über Virusinfektionen und Infektionskrankheiten wissen konnten, war das neuartige Coronavirus ein ebenso rätselhaftes wie unheimliches Phänomen, welches sie in Angst und Schrecken versetzte. Außerdem beeinträchtigten Arbeitsplatzverluste, Phasen der Kurzarbeit sowie Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen das Familienklima.

Für die Kinder aus sozial benachteiligten oder armutsgefährdeten Familien, denen man ohnehin wenig Aufmerksamkeit schenkt, war die im Lockdown verhängte Kontaktsperre gegenüber Erzieherinnen und Lehrern, ihren nach oder neben den Eltern wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen, ein traumatisches Erlebnis, das in Einzelfällen panikartige Reaktionen auslöste. Oftmals fiel solchen Kindern die Decke auf den Kopf, gab es im häuslichen Bereich doch noch seltener als sonst Anregungen und Abwechslungen. Mancherorts entlud sich die gereizte Stimmung der anderen Familienmitglieder, die zu Hause »eingesperrt« waren, auch in Partnerschaftskonflikten und häuslicher Gewalt.

Was in der pandemischen Ausnahmesituation für Erwachsene vielleicht ein akuter Geld- und Zeitmangel war, erlebten Kinder in einer zu kleinen Wohnung hauptsächlich als Bewegungsmangel. Wenn die Familie auf engstem Raum zusammenlebte, stieg während der wiederholten Lockdowns oder einer Quarantäne- oder Isolationsmaßnahme das Risiko für Kinder und Jugendliche, Opfer gewaltsamer Übergriffe und sexuellen Missbrauchs durch ihre (Stief-)Väter zu werden. Da die vorhandenen Betreuungseinrichtungen, Kontaktstellen und Beratungsbüros vielfach geschlossen waren, blieben solche Delikte eher unentdeckt, weshalb von einer höheren Dunkelziffer auszugehen ist.

Dr. Carolin Butterwegge ist als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln tätig; Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat dort von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft gelehrt. Gemeinsam haben die Eheleute das Buch »Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt« veröffentlicht.

Literatur:

Carolin Butterwegge/Christoph Butterwegge: »Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt«, Frankfurt am Main/New York: Campus-Verlag 2021.

Christoph Butterwegge: »Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland«, 2. Aufl., Beltz Juventa Verlag 2021.

Christoph Butterwegge: »Ungleichheit in der Klassengesellschaft«, 2. Aufl., Papyrossa-Verlag 2021.

Geschrieben von:

Christoph Butterwegge

Professor für Politikwissenschaft

Carolin Butterwegge

Dozentin

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