Wirtschaft
anders denken.

Blick zurück von vorn

16.12.2022

Ein paar Jahrzehnte weitergedacht klingt die Erzählung über die Wirtschaftsweise der Gegenwart wie eine Gruselstory. Mit Happy End in den Commons? Aus OXI 12/22.

Danke, dass Sie mich als Historikerin eingeladen haben zu erzählen, wie wir es geschafft haben vor hundert Jahren, also ungefähr ab 2022, uns hinzuentwickeln zu der wirklich demokratischen, herrschaftsfreien und bedürfnisorientierten Gesellschaft unserer heutigen Zeit im 22. Jahrhundert.

Im Nachhinein erscheint immer alles so einfach. Ich fasse es gerne so zusammen: Wir sind immer demokratischer geworden, haben uns deshalb immer erfolgreicher gegen die schlechten Strukturen der Konkurrenz wehren bzw. diese abbauen können, und damit das Gute kooperativ in die Welt gebracht. So leben wir heute in einer commonsbasierten und Commons schaffenden Weise, in der wir füreinander sorgen. Die Frage, die ich hier also eigentlich beantworten soll, ist wohl weniger: Wie haben wir das geschafft? Sie lautet stattdessen: Wieso nicht schon viel früher?

Damit sind wir genau an dem Punkt, der mich als Historikerin am meisten fasziniert: Wie Menschen der Vergangenheit mit so vollkommen anderen Selbstverständlichkeiten leben konnten, die sie überhaupt nicht zu hinterfragen fähig waren. Und selbst geschichtlich jeweils relativ neue Institutionen, also gesellschaftliche Regelungen, für schon immer dagewesen hielten. Die Hexenverfolgungen zum Beispiel, die eigentlich erst Anfang der Neuzeit, im Zuge der Herausbildung des Homo oeconomicus, also des angeblich rationalen Wirtschaftsmenschen, als abgespaltene Übertragungen das Nicht-Rationale auf Frauen projizierten und diese zu Hexen erklärten. Als erste Zweifel daran auftraten, wurden diese vom Tisch gewischt mit dem Hinweis, es müsse Hexen geben, denn es habe schon immer Hexen gegeben. Oder John Stuart Mill, der als erster Ökonom über diese Zugrundelegung eines rationalen Subjekts in der Wirtschaftstheorie schrieb, und sich, angeregt durch seine Frau, Harriet Taylor Mill, vehement bei seinen Zeitgenossen lächerlich damit machte, auch Frauen Rationalität zuzusprechen. Er glaubte gleichzeitig, Mitte des 19. Jahrhunderts, Schwarze wären nicht dazu fähig.

Und dann Karl Marx: Einerseits saß er in seinen jungen Jahren noch in Prozessen, wo es um die alten Allmende-, also Commonsrechte der Landbevölkerung am Holz der Wälder ging. Und andererseits hat auch er schon nicht mehr Commons denken können. Erst gegen Ende seines Lebens gab es einen Briefwechsel mit einer Russin, in dem sie ihn auf das Potenzial hinwies. Er zerriss mehrere Briefentwürfe, weil er nicht vernünftig darauf antworten konnte. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was der Menschheit im 20. Jahrhundert alles erspart geblieben wäre, wäre nicht auch er so sehr Kind seiner Zeit gewesen. Dabei schrieb Rosa Luxemburg schon kurz nach ihm darüber, wie überall auf der Welt »dorfkommunistische« Formen vorgefunden wurden. Ihr Hinweis, dass der Kapitalismus ja wohl offensichtlich auf der Ausbeutung der Kolonien beruhe, brachte ihr lediglich einen Shitstorm der gesamten Linken kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein. Auch dieses Wissen brauchte hundert Jahre, bis es sich bei fortschrittlichen Kräften wirklich durchgesetzt hatte.

Das war dann schon die Zeit, in der emanzipatorische Menschen begannen, sich weltweit zu vernetzen – das Internet machte es möglich. Die Zapatistas, eine kleine indigene Widerstandsbewegung im Südosten Mexikos, luden 1996 zu einem »Interkontinentalen Treffen für eine menschliche Gesellschaft« ein. 3.000 Menschen aus allen Erdteilen kamen bei ihnen im Urwald von Chiapas zusammen. Sie beschlossen, ein Netz ihrer Widerständigkeiten zu bilden, und ein Jahr später entstand »Peoples Global Action«, kurz PGA, eine Vernetzung von Basisbewegungen. Sie lehnten den Kapitalismus radikal ab, aber auch explizit jede Form von Herrschaft. Sie organisierten sich dezentral, und statt Forderungen an die Herrschenden zu stellen – was deren Macht nur reproduziert hätte –, begannen sie, neben ihren Protesten bei den Gipfelevents (wie damals Zusammentreffen hochrangiger Wirtschafts- und anderer Repräsentant:innen genannt wurden) Alternativen aufzubauen.

Letzteres war natürlich viel weniger mediengängig als die Proteste, und darum glaubten viele an das Abklingen dieser sogenannten Globalisierungsbewegung.

Einige Jahre später trat eine neue Protestform auf: Occupy. Platzbesetzungen. Die Medien waren verwirrt, weil auch diese zumeist keine Forderungen aufstellten, sondern einfach ihren Alltag öffentlich organisierten. Und zwar genauso, wie es auch schon bei PGA üblich gewesen war, wo teilweise Karawanen mit bis zu 500 Menschen über Wochen hinweg in anderen Kontinenten unterwegs waren. Die Organisierung war wie heute – und wie es auch damals vielen Basisbewegungen als Selbstverständlichkeit galt: Es wird geschaut, was es braucht. Es bilden sich Menschengruppen heraus, die sich für etwas zuständig erklären. Weil sie es gut können oder ganz gerne machen. Was lokal zu organisieren ist, wie unser täglich Brot, wird lokal organisiert, was großräumlich zu organisieren ist, wie das Transportwesen, wird großräumlich organisiert. Und das globale Wissen: global. Aber ohne feste Territorien! Den Fehler haben wir historisch zum Glück hinter uns gelassen.

Genau wie all den anderen Scheiß – sorry, auch eine Historikerin darf mal emotional werden –, den es damals gab: Arbeit, Geld, Eigentum. Eins furchtbarer in seinen Konsequenzen als das andere, aber letztlich zusammengehörend. Jetzt habe ich das Problem, erklären zu müssen, wie die Wirtschaft damals organisiert war. Das ist schwierig. Rosa Luxemburg fragte schon im 19. Jahrhundert, warum die Gesetze der Nationalökonomie bloß so kompliziert seien, im Reich von Karl dem Großen (welches im 9. Jahrhundert auch schon beinah das halbe Europa umfasste) sei das doch sehr einfach gewesen: Menschen produzierten was, und andere kamen und nahmen es unter Androhung von Gewalt weg. Das habe auch der dümmste Bauer verstanden, so Luxemburg, und tatsächlich begannen bald darauf auch schon die sozialen Bewegungen des Mittelalters. Was sie damit zu Recht sagen wollte: Die ganze Komplexität der Wirtschaftswissenschaften, wie es dann ab dem 20. Jahrhundert hieß, hatte lediglich den Zweck der Verschleierung. Das hebe ich mir bis zum Schluss auf, erst mal weiter im Verlauf der Transformation.

In Wirklichkeit war »Occupy« also nur ein weiterer von immer häufigeren Momenten, in denen offenkundig wurde, dass Menschen die Selbstverständlichkeit wiederentdeckten, sich kooperativ zu organisieren. Jedoch glaubten sie damals noch, im Großen ginge das nicht. Aber ausgehend von den Bewegungen des Globalen Südens setzte sich das alte Wissen über Commons immer weiter durch, und wurde auch den neuen Verhältnissen angepasst.

2020 war für vieles der Wendepunkt: sich manifestierend zunächst in der Pandemie, bald auch mit der Zuspitzung aller anderen Krisen. Doch gleichzeitig fand sich eine kleine Gruppe von Menschen zusammen, die sich jahre- und jahrzehntelang dem Thema anderen Wirtschaftens gewidmet hatten. Sie waren dabei scheinbar erst mal nicht zu denselben Schlüssen gekommen, denn die einen fokussierten darauf, die Zerstörungen durch Unternehmen zu begrenzen, andere bauten gleich ihre kleinen Halbinseln im kapitalistischen großen Ganzen auf. Aber sie sagten: Wir sind nur auf unterschiedlichen Wegen. Unser Ziel ist dasselbe, und es kann nur dasselbe sein: eine wirklich basisdemokratische, herrschaftsfreie und bedürfnisorientierte Gesellschaft.

Kommt Ihnen bekannt vor? Bingo!

Ausgelöst durch den plötzlichen Tod ihrer Hauptinitiatorin, Silke Helfrich, damals die bedeutendste Commonsforscherin der Welt, wurde das Ganze im Jahr 2022 relauncht als »Netzwerk Ökonomischer Wandel – Network Economic Transformation«, kurz: NOW NET. Als Weg des Wandels wurde beschrieben: Marktkonkurrenz abbauen + Demokratie ausbauen + Commons aufbauen. Ich zitiere aus einer damaligen Analyse: »Der Markt führt zum Ausschluss von ausreichenden Ressourcen. Er stellt uns unter Verwertungszwang, lässt uns in Leistungsangst und im strukturellen Hass zueinander leben. Er zwingt uns, Dinge zu tun, die wir nicht tun wollen, und wenn wir etwas wirklich gern tun, dann unter Umständen, die wir nicht frei wählen können. Der Markt kann nur Krisen vermeiden, in dem er immer weiterwächst, aber jedes Wachstum vernutzt unseren Planeten weiter. Der Markt zwingt Unternehmen dazu, möglichst viel Ressourcen von Natur, Tier und Mensch möglichst un- oder unterbezahlt zu vernutzen, um im Konkurrenzkampf billiger sein zu können. Der Markt benachteiligt reproduktive, sorgende und die Leistungen des Globalen Südens immer, und immer mehr, und reproduziert damit Nationen als arm, und bestimmte, wenn auch im Zweifel wechselnde Identitätskategorien als unterlegen und damit besonders geeignet für Scheißjobs. Kurz: Er macht uns unglücklich, statt uns zu erlauben, füreinander zu sorgen.« Die Richtung, die NOW NET dagegensetzte, war also einfach: den Markt bzw. die Konkurrenz abbauen, wo immer möglich. Und wenn es dann nicht mehr der anonyme Markt war, der entschied, und es auch kein zentralisierter Staat sein sollte (wie in so mancher Katastrophe des 20. Jahrhunderts), galt es, die Gesellschaft umfassend zu demokratisieren. Die Menschen hatten verstanden, dass Demokratie nicht einfach »Wählen gehen« bedeutete, sondern aktives Gestalten aller Lebensbereiche. So wurde begonnen, unsere Commons-Gesellschaft aufzubauen: als Kooperation unter Ebenbürtigen.

Das damalige Wirtschaften zu erklären ist nicht einfach. Ich versuche es anhand einer Geschichte von Luisa Klein, die hat es am Beispiel einer Suppe erzählt: Eine Person galt als Eigentümer:in (so hieß das damals) der Küche. Sie durfte bestimmen, wer darin was kocht, oder ob die Küche einfach ungenutzt bleibt, selbst wenn andere keine Kochmöglichkeit haben. Sie hätte die Küche sogar zerstören dürfen – echt absurd. Aber da sie den Raum vermietet, bekommt sie so viel, dass sie bald noch eine zweite Küche kaufen kann. Sie erklärt wen zur Chef:in, die oder der darf dann alles bestimmen. Auch, wer von den anderen was arbeiten darf: Zwiebeln schneiden, Kartoffeln schälen, rühren, und das Putzen hinterher. Alle kriegen unterschiedlich viel dafür, fürs Putzen gibt es fast nichts. Der Zeitplan ist knapp, jeder Arbeitsschritt genauestens ausgerechnet, um möglichst effizient die Suppe fertigzustellen. Die Chef:in kontrolliert alles ständig, was noch den letzten Spaß am Tun verdirbt. Dann ist die Suppe endlich fertig; ab hier zitiere ich Luisa Klein wörtlich: »Ich bekomme für mein Geld fünf Teller, Marie eine Kartoffel. Sie blickt traurig auf ihren Teller, aber ich will ihr auch nichts abgeben, sie hat schließlich viel weniger geleistet als ich und ich habe ja auch extra diese Ausbildung gemacht, in der ich gelernt habe, wie die Suppe am besten umgerührt wird! Am Ende wird ein Drittel der Suppe weggeschmissen, weil die mit viel Geld nicht mehr essen können. Ein bisschen gemein ist das schon, denke ich, vor allem wenn ich an Jürgen denke, der am meisten Geld bekommt, nur weil die Küche sein Eigentum ist. Aber ich sage nichts, es ist schließlich mein Beruf und wie sollte das mit dem Kochen auch anders funktionieren?«

Darüber können wir aus heutiger Perspektive natürlich nur müde lächeln. Wie unsinnig das alles war …

Gekürzte Rede vom Zukunftskongress »2122 – Wer werden wir* gewesen sein?« organisiert von vfdkb und laPROF Hessen in Frankfurt (Main) im November 2022.

Geschrieben von:

Friederike Habermann

Volkswirtin

Hinweis

Guter Journalismus ist nicht umsonst…

Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.

Zahlungsmethode

Betrag