Wirtschaft
anders denken.

Mitbestimmung ist nicht Bestimmung

06.11.2016
Eine Nahaufnahme einer Druckereipresse.Foto: Guido Wessel / photocase.deAntizyklische Politik statt Austerität. So kann die Krise abgeschwächt werden.

Erwiderung auf einen Beitrag in der Oktoberausgabe von OXI über den Gewerkschafter und kritischen Denker Victor Agartz

Die Hommage auf Victor Agartz in der Oktoberausgabe von OXI irritiert. War er doch für mich eine tragische Figur, weil er – trotz seines scharfen Intellekts – offensichtlich nicht in der Lage war, politische Realitäten zu erkennen und sich darauf einzustellen. Politische Realität war, dass die CDU 1953 die Bundestagswahl mit 45,2 Prozent haushoch gewonnen und gegenüber 1949 sogar 14,2 Prozentpunkte dazugewonnen hatte. Dagegen war die SPD von 29,2 Prozent (1949) auf 28,8 Prozent zurückgefallen. Für die Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, wie Agartz sie vertrat, gab es also weit und breit keine politische Mehrheit. Die Wähler wollten sie nicht. Und sie gaben dem CDU-Kanzler Konrad Adenauer bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 1957 sogar die absolute Mehrheit!

Mitbestimmung und Einheitsgewerkschaft sind die tragenden Säulen des »Modells Deutschland«. Mitbestimmung ist aber nun mal nicht Bestimmung. Unbestritten ist: Mitbestimmung ändert nichts am Kapitalismus; das gilt übrigens auch für die Sozialpolitik. Bei beiden geht es um Zähmung und Gestaltung des Kapitalismus, nicht um dessen Überwindung! Ich weiß nicht, ob sich Hans Böckler (1949 zum ersten Vorsitzenden des DGB gewählt und zentrale Figur beim Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung in der Nachkriegszeit) mehr von der Mitbestimmung erwartet hat und glaubte, damit ein grundsätzlich anderes Wirtschaftssystem schaffen zu können.

Die Einheitsgewerkschaft hat die Funktion, die unfruchtbaren Kämpfe von Richtungsgewerkschaften gegeneinander, wie wir sie aus der Weimarer Republik kannten, zu überwinden. Das gelingt nur, wenn auch der linke Flügel integriert wird und nicht die Übermacht in den Gewerkschaften erhält. In einer so exponierten Position wie als Direktor des Wirtschaftswissenschaftlichen Institutes (WWI) der Gewerkschaften war Victor Agartz aufgrund seiner Positionen nicht mehr zu halten. Bis heute haben die Gewerkschaften keinen exponierten Linken mehr an die Spitze des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes (WSI) berufen, und auch nicht an die Spitze des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Kein WSI-Geschäftsführer wurde jemals wieder eingeladen, auf dem DGB-Bundeskongress das Grundsatzreferat zu halten.

Theo Pirker, Agartz‘ Mitstreiter, wurde – anders als Agartz – Professor an der FU und anerkannter Betriebssoziologe. Er schrieb sich seine Wut über die Gewerkschaften offen und öffentlich von der Seele: in seinen beiden Bänden »Die blinde Macht«. Als Betriebssoziologe leistete er wertvolle wissenschaftliche Arbeit auf einem Gebiet, das für die Arbeiterbewegung wichtig war. Agartz stand sich dagegen mit seiner starren Ideologie selbst im Weg.

Was sollen denn Leser aus der Lektüre des Agartz-Artikels und des Kommentars von Rudolf Walter lernen? Dass die Gewerkschaften besser auf Agartz hätten hören sollen und der ganze Kurs seitdem falsch war?

Geschrieben von:

Hermann Adam

Professor für Politikwissenschaft

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