Wirtschaft
anders denken.

»Alle sind nervös«: Die Transformation der Automobilindustrie und das progressive Lager

30.11.2018
Free-Photos, CC0 Creative Commons, pixabay.com

Wer gibt den Takt vor bei der Transformation der Autobranche? Der Markt, die Gerichte, der Protektionismus – oder alternative Vorstellungen sozial-ökologischer Mobilität und Produktion? Über offene Fragen im progressiven Lager und eine Idee von Ulrich Bochum. 

Die Automobilindustrie gehört zu den ökonomischen Fundamenten der Bundesrepublik. 41 Endmontagewerke, viele mittelständische Zulieferer, ein vielgliedriges Wertschöpfungsnetzwerk mit etwa 1,5 Millionen Beschäftigten. Die ganze Branche ist aus mehreren Richtungen unter Druck, und das wirft viele Fragen auch für eine kritische Ökonomie und das progressive Lager auf: von der ökologisch engagierten Zivilgesellschaft über die Gewerkschaften und Mitte-Links-Parteien bis hin zu Forschung und alternativer Wirtschaft.

Die schlagzeilenträchtigen Äußerungen von Lobbyisten der Industrie, die Hoffnungen der Gewerkschaften, der kriminelle Abgasbetrug und die möglichen Folgen der neuen protektionistischen Welle sind dabei nur ein Teil – es sind die Geräusche, die eine große, über diese Einzelaspekte hinausreichende Transformation macht. 

Worum es geht, haben die jüngsten Konjunkturzahlen ein bisschen angedeutet: Der Rückgang des Bruttoinlandsproduktes im dritten Quartal um 0,2 Prozent wurde weithin mit den Problemen erklärt, welche die Automobilindustrie bei der Umstellung auf ein neues Abgastest- Verfahren habe. Ein Husten der Branche, so Ulrich Bochum in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift »Sozialismus«, kann »die Wirtschaftsleistung der gesamten Republik ins Stottern« bringen. 

Mit der Automobilindustrie kommt eine ganze Fabrikkultur, kommen auch bisher andere Bereiche prägende Beschäftigungsstrukturen, Arbeitsformen, fordistische Arrangements usw. in eine prekäre Lage. Die Auswirkungen des bereits laufenden Wandels auf regionale Beschäftigung, öffentliche Haushalte, kommunale Kultur und so weiter dürften gravierend sein. Wer von diesem Wandel spricht, wird nicht davon absehen können, dass er eine gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Dimensionen hat – Energieerzeugung, Infrastruktur, Qualifikation. 

»Komplizierter Dreischritt«

Da haben wir noch nicht einmal mit der Frage begonnen, ob und wie ein Umbau Richtung weitergehender Alternativen möglich ist. Und selbst eine Etage unterhalb von Ideen mit utopischem Überschuss ist offen, wie jener »komplizierte Dreischritt« aussehen könnte, von dem Bochum spricht – nämlich »Klimaschutz, neue Geschäftsmodelle und sichere Arbeitsplätze miteinander in Einklang zu bringen«. 

Wird die Transformation dem Markt überlassen, vielleicht sogar den Gerichten, die angesichts des riesenhaften Abgasbetrugs derzeit zu den Taktgebern gehören? Wie entscheidend werden womöglich neue Zölle sein? Und welches gesellschaftliche Ensemble, das demokratisch-planend in diesen Prozess eingreifen kann, wäre vorstellbar? 

»Um die für die Industrie und die Beschäftigten sowie die Bewohner*innen des Landes wichtige Transformation der Mobilität zu erreichen, wird die Politik eine Führungsrolle bei der Moderation und Umsetzung einer Verkehrswende einnehmen müssen«, schreibt Bochum in »Sozialismus«. Hier beginnen ein paar wichtige Fragen, wer von »die Politik« spricht, weiß auch, welche parlamentarischen Kräfteverhältnisse mit welcher Offenheit für gestaltende Industriepolitik in Verbindung steht, für sozial-ökologischen Umbau oder wie weit auch immer der Horizont der Alternativen gefasst wird. 

Autopopulistische Konfrontation und Drohgebärden

Aktuell stürzt sich die öffentliche Debatte über den Automobilismus und die Produktion von Kraftfahrzeugen meist auf Einzelaspekte – Abgasbetrug, Elektroantrieb und Folgen für Beschäftigung, Fahrverbote, Beitrag zur Wirtschaftsleistung etc. Es geht verschärft auch um Fragen der Macht, um die Hoheit über den Diskurs, um Angstmache. Die CDU macht in autopopulistischer Konfrontation Front gegen die Umwelthilfe wegen der Fahrverbote, Medien positionieren sich als Retter der deutschen Industrie, Unternehmensfürsten der Autohersteller drohen: »Wir wollen ja auch weiterhin eine Zukunft als Wohlstandsnation haben. Das wird nicht gehen, wenn wir den Ast absägen, auf dem wir sitzen.« 

Dabei wird absichtlich übergangen, dass die Autokultur selbst die große Säge ist, wie man an den neuesten Zahlen zum Verhältnis von Motorleistung und gestiegenen Emissionen sieht. Auch davon wie strukturell, wie tiefgreifend der Wandel ist und dass es hier nicht um ein durch Standortpolitik mal eben lösbares Problem der deutschen Branche geht, soll abgesehen werden.

Diese ist aufgrund ihrer Struktur aber besonders stark von den globalen Umwälzungen betroffen. »Hohe Rohstoffpreise, Investitionen in die Elektromobilität und steigende Zölle haben die Gewinnspanne der Autobauer weltweit auf den niedrigsten Stand seit der Finanzkrise gedrückt«, hieß es unlängst in einer Meldung über eine Studie der Wirtschaftsberatung EY. »Besonders deutsche Hersteller sacken im Ranking ab«, in einer anderen Nachricht dazu.

Wahrscheinlich größter Umbruch ihrer Geschichte

Und das ist nur die eine Seite. Bochum hat in dem angesprochenen Beitrag auf die Herausforderungen hingewiesen: »Insgesamt geht es um das Mobilitätskonzept, das dem Industriezweig seit den 1960er Jahren stetiges Wachstum beschert hat. Das Mobilitätskonzept der Zukunft sieht offensichtlich anders aus, als das des motorisierten Individualverkehrs, das die Infrastrukturen moderner kapitalistischer Länder und ihrer Städte geprägt hat.« 

Mehrere aktuelle Trends zeigen sich, die teils miteinander verwoben sind: der zur Elektrifizierung des Antriebs, der zum »Auto als wandelnde Datenerzeugungs-Maschine«, das automatisierte Fahren und das pattformökonomisch fundamentierte Sharing von Mobilität. Jeder einzelne Trend hat seine Schlagzeilentreiber. Andere Experten nennen fünf Veränderungsdimensionen oder drei. 

Das ist nicht so entscheidend, entscheidend ist die Dimension, wie Timo Daum das für die Rosa-Luxemburg-Stiftung unlängst formuliert hat: »Der Automobilindustrie steht der wahrscheinlich größte Umbruch ihrer Geschichte bevor. Der fossile Antrieb wird durch den elektrischen abgelöst und der Mensch am Steuer wird von Algorithmen verdrängt. Zudem bringen neue Generationen, die mit dem Internet und digitalen Services aufgewachsen sind, etablierte Nutzungsweisen und Geschäftsmodelle ins Wanken. Eine Transformation des Mobilitätssektors – wie vieler anderer Bereiche auch – zum digitalen Service zeichnet sich ab.« Als spezielle Herausforderung für die deutschen Hersteller kommt »ihre Globalisierungs- oder Internationalisierungsstrategie« hinzu. 77 Prozent der Pkw-Produktion gehen in den Export. 

»Alle sind nervös«

»Alle sind nervös«, schreibt Ulrich Bochum – und das ist weder eine gute Voraussetzung für Diskussionen über große Veränderungen, vor allem nicht, wenn man sich die realpolitischen Gelegenheiten für gesellschaftliche Gestaltung ansieht. Was man von der Politik hört, verstärkt »den Eindruck der Konzeptionslosigkeit und Handlungsschwäche«. Eine Regierung, die hier grundlegend anders agieren würde, ist nicht in Sicht. Das hat auch etwas mit dem Debattenstand unter jenen zu tun, die den »gesellschaftlichen Block« für eine progressive Mehrheit bilden könnten. 

Anregungen für die Debatte lassen sich zwar zum Beispiel in den »Thesen des Initiativkreises Zukunft Auto« finden, die der Linie folgen, »die Transformation der Automobilindustrie und der Mobilität nicht nur als Problem einer Branche zu begreifen und anzugehen, sondern als eine gesellschaftliche, mithin soziale und ökologische Problematik von globalem Ausmaß. Dabei geht es immer auch um Beschäftigungsverhältnisse, Arbeitsbedingungen und Alternativen«. 

Doch man sollte ehrlich sein: Eine breit getragene gemeinsame Idee, wenigstens ein weithin im progressiven Lager akzeptierter Rahmen für eine Gestaltung dieses Umbruchs existiert noch nicht. Ein solcher entsteht auch nicht durch bloße Addition von zusammenpassend erscheinenden Einzelforderungen. So sehr man es begrüßen kann, wenn zum Beispiel in Städten verkehrspolitisch Umdenken sichtbar wird, zeigt schon allein die Diskussion über Fahrverbote, wie widersprüchlich Interessenlagen zwischen Pendlern, Umwelt, städtischen Belangen, Beschäftigung usw. sind. Neue Formen des Lieferkapitalismus und die damit zusammenhängenden Fragen von Logistik und Transport kommen noch hinzu.

Eine Idee von Bochum zielt auf dieses Problem: Er nennt einen »großen demokratischen Aufschlag bei der Definition von Zielen, Strategien und Maßnahmen auf der nationalen Ebene und mit Kooperation auf der europäischen Ebene im Sinne eines Mobilitätspaktes« nötig. Doch die dann folgende Einschätzung ist skeptisch: »Diesbezüglich stehen die Zeichen allerdings eher schlecht«. 

Das heißt nun wiederum nicht, dass die Idee falsch wäre. Wichtig wäre der »große demokratische Aufschlag« auch deshalb, weil er der Kurzatmigkeit und den Rastern der aktuellen Schlagzeilen etwas entgegensetzen könnte – nämlich ein Bild der Widersprüche, etwa zwischen sozialen, ökologischen und strukturpolitischen Zielen; die Erkenntnis der enormen Dimension eines gesellschaftlichen Umbauvorhabens, das von der Mobilität über die Infrastruktur, die Industrie bis zu mannigfaltigen Aspekten der Kultur reicht; die Anerkennung, dass manche Frage auch noch nicht beantwortet werden können. 

Foto: Free-Photos, CC0 Creative Commons, pixabay.com

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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