Alles eine Frage der Interpretation
Der IWF gilt als Durchsetzer austeritärer Krisenpolitik. Eine eigene Veröffentlichung rechnet mit seiner neoliberalen Politik ab. Die Reaktionen? Sind überraschend. Ändern wird sich dennoch nicht viel.
Vor ein paar Jahren hat Colin Crouch, der durch seine Kritik an der Postdemokratie bekannt wurde, das »befremdliche Überleben des Neoliberalismus« beklagt. Tatsächlich hatte es nach dem Kriseneinbruch von 2007 kurz so ausgesehen, als ob das Mantra von Markt, »Strukturanpassung« und Austerität ein für alle Mal geschwächt sein könnte. Kritik am Neoliberalismus war plötzlich nicht mehr nur eine Sache linker Gegenbewegungen. Wie wir heute wissen, läuft der alte Dampfer aber weiter auf seinem verhängnisvollen Kurs. Die Durchsetzung der Krisenpolitik in Europa, die 2015 mit der Erpressung Griechenlands ihren vorläufigen autoritären Höhepunkt erreicht, spricht davon Bände.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) spielte dabei auch eine – und vielen gilt er als Gralshüter neoliberaler Anpassungsprogramme. Umso überraschter fielen einige Reaktionen auf eine Veröffentlichung des IWF vor ein paar Tagen aus: Drei Spitzen-Ökonomen des Fonds, darunter Vizedirektor Jonathan D. Ostry, veröffentlichten eine Kurzstudie, die »die zentralen Heilsversprechen des Neoliberalismus scharf« kritisiert, so formulierte es die Süddeutsche Zeitung. Die Neue Zürcher Zeitung zeigte sich sogar hell entsetzt über das Papier aus Washington. Die darin aufgeführte Selbstkritik müsse »sich für die Phalanx der Kapitalismuskritiker anfühlen wie Weihnachten und Geburtstag zusammen«. Mit der Veröffentlichung habe der IWF »Interventionisten rund um den Globus eine Steilvorlage« geliefert.
Hat sie das? In dem Papier werden vor allem zwei Standardforderungen neoliberaler Anpassungspolitik auf ihre Folgen hin überprüft. Das Ergebnis: Weder bei der immer wieder angemahnten Kürzung der Staatsausgaben noch bei der ständig beschworenen Deregulierung der Kapitalmärkte ließe sich durch die Bank weg nachweisen, dass sie das Wirtschaftswachstum fördern – dem sich der IWF unbeschadet aller wachstumskritischen Debatten verpflichtet fühlt. Die Zunahme der Ungleichheit etwa sei »durch die Öffnung der Finanzmärkte und die Austerität« hervorgerufen, »das könnte das Wachstum bremsen, obwohl die neoliberale Agenda genau das doch ankurbeln will.«
Das IWF Papier hat einen weiteren Haarriss in den Beton neoliberaler Hegemonie in der Wirtschaftspolitik geschlagen
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In der Frankfurter Allgemeinen war daraufhin sogar schon zu lesen, der IWF nehme nun »Abschied von freiem Kapitalverkehr und Schuldenabbau«. Das wird leider nicht passieren. Jedenfalls nicht wegen eines Papiers aus der Forschungsabteilung. Und auch sicher nicht wegen des hier angesprochenen. »Neoliberalism: Oversold?« Erstens geht es nur um »einige neoliberale« Kernforderungen, außerdem wird unter dem Strich nur eine genauere, bessere Prognose über die Wirkung von Deregulierung und Austerität in einzelnen Ländern und jeweiligen Bedingungen gefordert. Dass der IWF schon früher zum Beispiel eingeräumt hatte, dass die Krisenpolitik gegenüber Griechenland völlig fehlkonzipiert war, daran hat jetzt auch das Ökonomenportal Makronom erinnert – genau die Kürzungsprogramme, die von den eigenen Experten als verhängnisvoll bezeichnet wurden, hat der IWF dann aber fröhlich weiter mit gegen die SYRIZA-geführte Regierung durchgedrückt.
Und dennoch: Auch kleine Verschiebungen auf dem Millimeterpapier der politisch-ökonomischen Auseinandersetzungen sind nicht zu unterschätzen. Jonathan D. Ostry und seine Kollegen haben mit ihrem Papier, ob nun gewollt oder nicht, einen weiteren Haarriss in den Beton neoliberaler Hegemonie in der Wirtschaftspolitik geschlagen. Deshalb bricht der natürlich noch lange nicht zusammen. Und das »befremdliche Überleben des Neoliberalismus« wird uns noch eine Weile beschäftigen. Aber das hier dennoch ein wunder Punkt getroffen wurde, ist unbestreitbar: Eine Woche nach Erscheinen der Studie »Neoliberalism: Oversold?« sah sich IWF-Chefökonom Maurice Obstfeld zum öffentlichen Dementi genötigt: Der Artikel von Ostry und Kollegen sei »in großem Umfang falsch interpretiert« worden, es gebe »keine große Änderung in der Herangehensweise« des Währungsfonds.
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