Wirtschaft
anders denken.

Die schroffe Spaltung des Lebens überwinden

13.11.2017
Lopsidedness / wikimedia commons

Wie der Sozialphilosoph und Publizist André Gorz in den 1970er-Jahren über Grundeinkommen, Konsumerismus und Wirtschaftswachstum dachte. Und warum es ihm, Vordenker der politischen Ökologie, vor allem auf die Zeit jenseits der bezahlten Lohnarbeit ankam.

Bevor wir André Gorz treffen, machen wir einen kleinen Umweg, der an den Ökologiebewegungen vorbeiführt. Es hält sich hartnäckig das Vorurteil, die Grünen in Deutschland und der Schweiz und die heutigen Ökologiebewegungen selbst hätten das große Thema Umweltschutz erfunden und auf die Tagesordnung gesetzt. Das stimmt nicht. Erste wichtige Impulse gingen vielmehr von Frankreich aus. Wortführer der dort früh entstehenden Umweltbewegung waren Pierre Prémilieu und Pierre Fournier. Letzterer plädierte für »die radikale und globale Unterminierung einer verstümmelnden und selbstmörderischen Gesellschaft im Namen eines Wechsels der Lebensweise …«. Man könne die Gesellschaft nicht mehr ändern, ohne selbst »sein Leben zu ändern«; dieser Fournier, der 1969 zudem die Zeitschrift Hara-Kiri-Hebdo gründete – die verboten wurde und deshalb von 1971 an bis heute unter dem Namen Charlie Hebdo erscheint –, starb 1973 sehr früh mit 35 Jahren.

Diese frühe französische Ökologiebewegung agierte jedoch auf einem eher bescheidenen Reflexionsniveau. Das änderte sich, als der Journalist André Gorz ab 1973 in der Monatsbeilage »Le Sauvage« (»Der Wilde«) des Wochenblatts Nouvel Observateur eine Kolumne übernahm. Unter dem Pseudonym Michel Bosquet betrieb er systematisch ökologisch orientierte Gesellschaftskritik und versuchte, ökologischen und sozialen Fragen ein theoretisches wie empirisches Fundament zu geben. Gorz‘ Kolumnen behandelten bereits damals die großen Fragen, die heute die Debatten in industrialisierten Ländern bestimmen – von der Wachstumskrise über den Energieverbrauch bis zur Verschwendung von Ressourcen und dem »Recycling« von Gütern.

Im Zentrum von Gorz‘ Denken stand jedoch immer die Arbeit. Seine These: »Wir können besser leben und dabei weniger konsumieren und arbeiten, aber anders.« Er ließ sich nicht blenden von feuilletonsoziologischen Tendenzen, wie der zeitweise prominenten These, der Arbeitsgesellschaft gehe die Arbeit aus. Gorz unterschied strikt zwischen Arbeit und kapitalistisch bestimmter Lohnarbeit und zwischen drei Perspektiven. Erstens: Wie kann die Lohnarbeit von Monotonie befreit werden, indem schwere und stupide Arbeitsvorgänge beispielsweise von Maschinen und Robotern übernommen werden? Zweitens: Wie kann Lohnarbeit neu verteilt werden, dass die sogenannte Normalarbeitszeit stark verkürzt wird, um allen Individuen die Chance zu geben, selbstbestimmt zu arbeiten oder sich ihre Zeit nach ihrem Gusto zu vertreiben, jenseits von bezahlter Lohnarbeit? Er bestritt, »dass es allen umso besser geht, je mehr jeder Einzelne arbeitet und dass diejenigen, die wenig oder nicht arbeiten, der Gemeinschaft schaden«. Drittens plädierte Gorz dafür, die Lohnarbeit zu überwinden, indem selbstbestimmte Arbeit und Nicht-Arbeit in Bildung, Pflege, Erziehung und Kunst von der Gesellschaft anerkannt und gefördert werden. Auf mittlere Frist sollte, so seine Vision, die starre Einteilung des Lebens in die drei Phasen Schule/Ausbildung, Berufsarbeit und Ruhestand entzerrt werden. Arbeiten, Lernen und Leben sollten neu kombiniert werden, um die schroffe Spaltung des Lebens in Geldverdienen mit Arbeit und triviales Konsumieren zu überwinden.

»Wir können besser leben und dabei weniger konsumieren und arbeiten, aber anders.«

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Schon in den späten 1970er-Jahren gehörte Gorz zu den energischsten Kritikern des Wachstumswahns und der Kluft zwischen dem materiellen Reichtum und der kulturellen Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in den industrialisierten Ländern. Er argumentierte: Elementare menschliche Bedürfnisse »nach gesunder Luft, trinkbarem Wasser, nach Raum, Ruhe und Schönheit (…)« könnten nicht durch Mehrproduktion gedeckt werden, »sondern nur dadurch, dass anders produziert und anderes hergestellt wird«. Solange die sogenannte »ökonomische Vernunft«, also Wirtschaftswachstum und Profitsteigerung, die Gesellschaft regiere, sei das Freiheits- und Gleichheitsversprechen der Moderne nicht eingelöst. Zu diesen Versprechen gehörten für ihn auch »das Recht eines jeden Menschen auf die Entfaltung seiner sinnlich-praktischen Fähigkeiten, auf Gefühl, auf Sinnlichkeit, auf Freude an Selbstbetätigung, auf Selbstorganisierung gesellschaftlicher Zusammenarbeit«.

Anfang der 1980er-Jahre zog sich Gorz von der journalistischen Tätigkeit zurück und schrieb als bescheiden und zurückgezogen (in der Nähe von Reims) lebender Intellektueller Bücher zu ökologisch-sozialen Themen: Abschied vom Proletariat (1980), Wege ins Paradies (1983), Kritik der ökonomischen Vernunft (1989), Arbeit zwischen Misere und Utopie (1999), Wissen, Wert, Kapital (2004), Auswege aus dem Kapitalismus (2009). Diese Bücher strahlten auf die Linke in Frankreich, Deutschland und der Schweiz aus. Sein Werk steht für eine human und ökologisch zuträgliche Umgestaltung von Gesellschaft und für den Protest gegen den intellektuellen Stillstand der Linken nach 1989, als sie begann, sich mit den Ideen des Neoliberalismus einzulassen.

2007 nahmen sich André Gorz und seine zu der Zeit schon lange schwer kranke Gefährtin, Dorine, gemeinsam das Leben. Kennengelernt hatte er, der österreichische Jude, die junge Engländerin im Jahr 1947 in Lausanne. 60 Jahre haben sie miteinander und füreinander verbracht. In dem kleinen Buch »Brief an D.«, das kurz vor der gemeinsamen Selbsttötung erschienen war, hatte Gorz geschrieben: »Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.«

Hintergrund: Unorthodox & ökologisch

Wie innovativ André Gorz dachte, belegt ein Aufsatz aus dem Jahr 1981. Mit der anhaltenden kapitalistischen Industrialisierung sei zwangsläufig Rationalisierung verbunden, die bezahlte Lohnarbeit ständig verknappe. »Das Existenzrecht des Einzelnen« – so Gorz bereits damals – könne deshalb nicht davon abhängig gemacht werden, ob jemand einen Arbeitsplatz finde oder nicht. Das garantierte Grundeinkommen war für ihn deshalb ein Instrument, Existenzrecht und Lohnarbeit zu entkoppeln.

Wie Karl Marx ging es Gorz nicht nur um die Befreiung durch Arbeit, die im Horizont des Kapitalismus liegt. Im Mittelpunkt stand für ihn die Befreiung von der Arbeit: »Die Logik des Kapitals hat uns an die Schwelle der Befreiung geführt. Aber man kann sie nur mittels einer Zäsur überschreiten, die die produktivistische Rationalität durch eine andere Rationalität ersetzt. Einzig die Individuen selber können die Zäsur vollziehen. Das Reich der Freiheit wird nicht aus materiellen Prozessen resultieren; es kann allein aus einem Gründungsakt der Freiheit erstehen, der, als absolute Subjektivität verkündet, in jedem Individuum sich als höchstes Ziel setzt.« Als das Buch, in dem diese Sätze stehen, 1981 unter dem Titel Abschied vom Proletariat erschien, haben das viele falsch, nämlich als Absage an eine sozialistische Perspektive, verstanden. Gorz‘ Ziel war es jedoch, die Dogmen des orthodoxen Kommunismus zu entmystifizieren, mit dem »Proletariat« als quasi theologisch rückversichertem Handlungssubjekt.

In den 1970er-Jahren gehörte der Sozialphilosoph Gorz zu den ersten Theoretikern einer politischen Ökologie, die mit ihrer Kritik am kapitalistischen Wachstum, am Konsumismus und Produktivismus den linken Parteien eine ökosozialistische Wende ihrer Programmatik und Politik empfahlen. Legendär sind seine Kritik am automobilen Individualverkehr als »antisozialer Luxus«, der obendrein nur halbwegs funktioniere, solange der Gebrauch exklusiv bleibe, und seine Einsicht: »Wer Menschen beherrschen will, muss ihren Zugang zur Energie kontrollieren.«

Gorz` Kritik am autoritären Staatssozialismus führte ihn dazu, Konzepte von Selbstverwaltung, Kooperation und Genossenschaften zu befürworten und zu entwickeln. Die wichtigsten Werke von Gorz sind nach wie vor im Rotpunkt­verlag (Zürich) erhältlich.

Leben und Werk

André Gorz wurde 1923 (als Gerhart Hirsch) in Wien als Sohn eines jüdischen Unternehmers geboren, der seinen Sohn 1939 in die Schweiz zur Ausbildung schickte. Nach dem Abitur studierte Gorz in Lausanne Chemie. Er hatte gerade sein Diplom gemacht, als er 1946 einen Vortrag von Jean-Paul Sartre hörte, der sein Leben fortan prägte – wie sonst nur die Schauspielerin Doreen (französisch Dorine) Kay. Diese heiratete Gorz 1947, und mit ihr zusammen ging er 60 Jahre später – am 22. September 2007 – in den Freitod; in seinem Buch Brief an D. beschrieb er die Geschichte ihrer Liebe. Gorz war 1951 Mitarbeiter beim Nachrichtenmagazin l`Express und 1964 Mitbegründer und Mitarbeiter (bis 1984) der Wochenzeitung Nouvel Observateur. Obendrein gehörte Gorz zum Redaktionskomitee von Jean Paul Sartres Zeitschrift Temps modernes; Gorz folgte dem Schriftsteller nicht in die Sackgassen der zeitweiligen Bewunderung von Sowjetkommunismus und studentischem Bistro-Maoismus.

In Büchern und Aufsätzen kritisierte er Marx und den Marxismus, blieb jedoch dem Kern der Marxschen Theorie treu. Denn in seiner ökologisch fundierten Kritik an kapitalistischem Wachstum blieb der Marxsche Gedanke zentral, dass sich Freiheit nicht in unbeschränktem Konsum, sondern in frei »verfügbarer Zeit« (»disposable time«) jenseits des Diktats der Kapital- und Fabriklogik realisiere.

Dieser Text erschien in der Juli2017-Ausgabe von OXI.

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