Andrea Nahles, die »Gene« der SPD und der Irrtum der sozialdemokratischen Klammer
Andrea Nahles redet von den Genen der SPD – doch am Ende geht ihr Denken nicht über »Fördern und Fordern« heraus. Über den Irrtum sozialdemokratischer »Klammern« und was das alles mit dem umstrittenen Text von Sigmar Gabriel zu tun hat.
Nachdem nun der »Spiegel«-Text von Sigmar Gabriel ein so (fast) einhelliges Echo gefunden hat, darf man gespannt sein, ob auch das Interview mit Andrea Nahles im selben Magazin ähnliche Aufmerksamkeit erhält. Zugegeben, das ist eher unwahrscheinlich, denn die Fraktionsvorsitzende bemüht sich redlich, nur keine Welle zu erzeugen, etwa mit einem originellen Gedanken oder einer neuen Idee.
Da ist Gabriel von anderem Kaliber (die kleine Beobachtung von Nils Minkmar in eben jenem Magazin über die »dialektische Figur« Gabriel sollte man auch lesen). Was vielleicht der Grund ist zumindest für einen Teil der Rezeption seines Beitrags. Heimat, Leitkultur, soziale versus kulturelle Frage – damit stellt man sich selbst heute ins Feuer eines ohnehin schon hoch erhitzten Aufmerksamkeitssystems, in dem solche Begriffe wie Benzinflaschen wirken können.
So sind auch die Worte selbst, nicht der Denkzusammenhang, in dem sie benutzt wurden, zum Ziel vieler Kritik geworden – und vieles an der Kritik ist auch richtig. Die Frage ist, ob man mehr entdecken würde, wenn man noch einen Schritt weiter ginge. Etwa, indem man Gabriel in die Pflicht genommen hätte, seinen sozialdemokratischen »Heimatbegriff« auch einmal zu schärfen und abzugrenzen vom rechten Mief, dabei könnte ja etwas herauskommen, das vom Alltagsdenken »der Klasse« ausgeht, die aber damit soziale Sicherheit, das Gefühl der Kontrolle über die eigene Lebensführung, eine Berechenbarkeit der Dinge, ja auch: die Schönheit der Wiederholung, der Tradition und so fort sieht.
Oder indem man Gabriel beim Wort genommen hätte, wo er den Verlust sozialdemokratischer Ressourcen beklagt, und also auch hätte sagen müssen, was denn das politisch-ökonomische Fundament für soziale Integration und solidarischen Fortschritt sein soll. Dass er auf dieses Problem hinweist, hätte den Text ja auch zu einem wichtigen Baustein des politischen Denkens im sozialdemokratischen Kosmos machen können. An anderer Stelle ist auf diesen Aspekt hier schon hingewiesen worden. Davon lenkt die teils berechtigte, teils automatisch wirkende Aufregung über Gabriels schlechte Idee, Identität und Ökologie gegen das Soziale unter Anwendung einer unpassenden und ohnehin fragwürdigen begrifflichen Großidee wie »Postmoderne« gegeneinander auszuspielen freilich ziemlich stark ab.
Abgespulte Merksätze
So eine Reaktion kann Andrea Nahles kaum passieren. Sie spult pflichtgemäß eine Reihe von Merksätzen ab, die derzeit zum sozialdemokratischen Geschirr gehören: »nicht gut gelungen, eine glaubwürdige Konzeption für eine moderne und gerechte Gesellschaft zu entwerfen«; »vernachlässigt, ihre Rolle als Bindeglied zwischen Verlierern und Gewinnern der Veränderungen unserer Zeit wahrzunehmen«; »überzeugende Antwort auf den digitalen Kapitalismus« … und so geht es dahin.
Natürlich muss auch jenes Lager in der eigenen Partei bedacht werden, dass nun gegen eine Regierungsbeteiligung argumentiert, wobei Nahles sich einer rhetorischen Figur bedient, die recht milde klingt, aber in Wahrheit zu dem gröbsten Vorwürfen gehört, die man sich als Sozialdemokrat machen kann: das Bild von der »bequemen Nische«, in die es die Kritiker des Regierungszuges angeblich zieht. Was, nachdem man zuvor laut »die Menschen brauchen konkrete Antworten« gerufen hat, so klingt, als mache sich da jemand feige vom Acker.
Arbeit und Leistung – gegen Umverteilung
Und man fragt sich, was ist denn nun die Idee von Nahles, die die Nische meidet und von Alternativen spricht? Man erfährt: »Die SPD muss schwer aufpassen, dass sie ihre eigene Identität noch durchbuchstabieren kann.« Hier wird es interessant, eben deshalb, weil dieses Alphabet in der Fassung von Nahles auf die Fortsetzung jener »Sozialdemokratie« hinausläuft, die doch eigentlich alle durch »Erneuerung« überwinden wollen. Wird jedenfalls recht oft behauptet derzeit. Und was sagt nun Nahles: »Zu den Genen unserer Partei gehört neben der Solidarität auch, dass wir uns an Arbeit und Leistung orientieren und nicht nur an staatlicher Umverteilung wie die Linkspartei.«
Dass man der parteipolitischen Konkurrenz noch eins mitgibt, gehört zum Geschäft. Der Rest ist ein alter Schlager der SPD, sozusagen die gedankliche Verankerung der Partei in einer Welt der »Leistungsgerechtigkeit«, in der Solidarität nur noch lieferbar ist nach »fordern und fördern«. Man könnte, um sich der Mittel der Kritik am Gabriel-Text zu bedienen, auch sagen, Nahles spiele hier staatliche Umverteilung gegen eine Losung aus, derzufolge erst gearbeitet, sprich: geleistet werden muss, bevor die Solidarität, die sie meint, auch zieht.
Und wer die Redewendung von den »Genen« als auf etwas zielend versteht, das schon immer da war, mag vielleicht sogar an Marxens Kritik des Gothaer Programms denken. Nahles sicher nicht. Sie erklärt, die SPD sei »immer dann stark« gewesen, »wenn wir eine Klammer gefunden haben zwischen Innovation und Gerechtigkeit, zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Modernität und Tradition. Es hilft nicht, nur Maximalpositionen zu besetzen«.
Alles in einen Topf
Nun, wo Gabriel zu Recht vorgeworfen wurde, das eine gegen das andere auszuspielen, wirft Nahles hier einfach alles in einen Topf, ganz egal, ob es doch in Wahrheit gar nicht in Konkurrenz zu denken ist (Innovation und Gerechtigkeit) oder ob es (Kapital und Arbeit) eben auch durch die tollste sozialdemokratische Klammer auf der Interessensebene nicht zusammenhält, allenfalls im Rahmen einer Strategie sozialer Transformation der Logik des einen (Kapital) zugunsten der des anderen (Arbeit) und damit im gesellschaftlichen Interesse (wieder) Raum streitig gemacht werden kann.
An einer Stelle freilich treffen sich Gabriel und Nahles dann doch wieder, und es ist sicher nicht der Heimatbegriff, denn die Fraktionsvorsitzende versteht diesen im Sinne von »Bodenständigkeit« und das ist im Zweifel konservativer und nach rechts anschlussfähiger als das, was Gabriel meint.
Nein, gemeinsam ist ihnen dann, an dem Punkt nicht weitergeredet zu haben, an dem erst das Essen des Puddings losgeht: »Fast alle Bedingungen für den sozialdemokratischen Erfolg in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sind verschwunden«, so hat es Gabriel formuliert. Also wäre die Frage: Worauf aber gründet sozialdemokratische Politik dann heute? Und Nahles sagt: »Es sind strukturelle Veränderungen für eine moderne und gerechte Gesellschaft erforderlich.« Welche das sind, sagt Nahles nicht.
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