Wirtschaft
anders denken.

Anmerkungen zur Debatten(un)kultur

19.05.2023
Die Letzte Generation blockiert die Straße am Hauptbahnhof in Berlin. Die Aktivisti kleben auf dem Boden mit Banner in der Hand. Vor ihnen stehen Autos die im Verkehr blockiert werden.Foto: Stefan MüllerAktivist:innen der Letzen Generation setzen auf Mittel des friedlichen Widerstands. Der verrohte Backlash gefährdet sie zunehmend.

Anmerkungen der Redaktion zur Kontroverse um Helge Peukert und die Letzte Generation.

Die Letzte Generation ist gegenwärtig und hierzulande die einzige Klimabewegung, die sich ständig mit der Frage auseinandersetzen muss, welche Legitimität und welchen Rückhalt ihr ziviler Ungehorsam hat. Der Vorwurf an sie lautet: Sie sei bereits jetzt zu radikal. Was sie tue, erfülle den Tatbestand der Nötigung.

Ziviler Ungehorsam, ein verbürgtes Recht in Demokratien, wird zu kriminellem Handeln umgedeutet, die Legislative ruft die Exekutive an, ihr das vom Hals zu schaffen und malt das Schreckgespenst eines neuen Terrorismus an die Wände besorgter Bürger. Unverhohlen werden die Rufe nach Anwendung des § 129 Strafgesetzbuch (Bildung einer kriminellen Vereinigung) laut, wird die Letzte Generation mit den »Reichsbürgern« in eins gesetzt, also mit Leuten, die einen faschistischen Putsch planen und die Demokratie zugunsten eines neuen Faschismus abschaffen wollen.

Dieser Vorwurf wird oft von jenen erhoben, deren Handeln aufgrund ihrer Macht, Verantwortung und Position innerhalb der Gesellschaft über ein hohes Maß an Legitimität verfügt (sie sind demokratisch gewählt worden). Und deren Handeln zugleich – nimmt man die Wissenschaft mit ihren Erkenntnissen zum Zustand des Planeten und ihren Prognosen zur Zukunft aller ökologischen Systeme ernst – als unterlassene Hilfeleistung bezeichnet werden könnte. Und als Nötigung. Denn diese Politik nötigt uns, vor allem aber die Generationen nach uns, auf Zukunft zu verzichten.

Niemand wird behaupten, die Politik und die von ihr protegierte Wirtschaftsweise – durch politische Vorleistungen im Sinne eines diese Art des Wirtschaftens schützenden Staates ermöglicht – habe das Mandat erhalten, den Planeten zu zerstören, künftige Generationen zu diskontieren, deren Zukunft aufs Spiel zu setzen und im Ergebnis dessen mit Machterhalt und Profiten belohnt zu werden.

Aber: Sie tun es.

Die Letzte Generation speist sich aus Menschen, von denen viele vorher sämtliche der Politik genehmen und von ihr genehmigten Formen des Protestes ausprobiert und mitorganisiert haben. Sie sind demonstrieren gegangen und haben dafür die Schule geschwänzt oder einen Tag Urlaub genommen. Sie haben Plakate gemalt, Aufrufe unterschrieben, Appelle formuliert und for Future diskutiert. Viele haben applaudiert und weitergemacht wie bisher. Nett, wenn auch ein bisschen kindisch, fand die Politik, und änderte. NICHTS.

Was viele erstaunt, die Letzte Generation aber auch gut begründet: Die aufgestellten Forderungen sind im Vergleich zu den Methoden, mit deren Hilfe den Forderungen Nachdruck verliehen werden soll, zahm. Selbst deren sofortige Umsetzung rettete das Klima nicht. Wäre aber schon ein Schritt in die rettende Richtung. Und die Letzte Generation sagt, Forderungen müssten einem Maß entsprechen, das möglichst viele teilen können. Da ist etwas dran und zugleich stellt sich die Frage, ob es unter diesen Umständen nicht trotzdem notwendig ist, darüber zu diskutieren, wie radikal gesellschaftliche, ökonomische Veränderungen eigentlich sein müssten, wollte man wirklich erreichen, dass die existenzielle Bedrohung der Menschen durch die Klimakatastrophe kleiner und irgendwann sogar abgewendet wird.

Wir haben auf unserem Blog einen Text des Wirtschaftswissenschaftlers Helge Peukert veröffentlicht, in dem beispielhaft Maßnahmen genannt sind, die aufgrund des Befundes über den Zustand des Planeten und über die biophysikalische Existenzkrise, in der wir stecken, diskutiert werden müssten, um den Gang der schlechten Dinge wirklich nachhaltig und zum Besseren zu wenden. Selbstverständlich werden sie das Leben jedes und jeder einzelnen verändern. Wie die gegenwärtigen Formen des Wirtschaftens auch. Bloß dass über die niemand abstimmen darf.

Denn erst einmal und überhaupt ist das Radikale jenes Denken und Handeln, das an die Wurzeln geht. Des Übels. Und eben nicht an die Wurzeln der demokratischen Grundlagen, auf denen Gesellschaft baut. Ganz im Gegenteil werden diese demokratischen Grundlagen durch Unterlassen radikalen Handelns in Gefahr gebracht.

Diskutiert wird gegenwärtig weitaus mehr über die Methoden, derer sich die Letzte Generation bedient: Oh je, Kartoffelbrei, dabei kämpfen die doch angeblich gegen Lebensmittelverschwendung. Oh nein, festkleben auf Schnellstraßen und Autobahnen im Berufsverkehr – da müssen wir den Autofahrenden das Recht auf Notwehr zugestehen. Abreißen die angeklebten Hände, schreit es aus manchen Autos. Ach guck, die holzen einen Baum ab. Das ist ja viel schlimmer als die mit unseren Geldern geförderten Monokulturen für Palmöl und Holz und unser Ablasshandel im Bereich CO2-Zertifikate. Eine Rotbuche zu fällen ist kriminelle Umweltsünde. Die Abholzung des Regenwaldes dagegen ein Fliegenschiss.

Die Letzte Generation fordert ein Mindestmaß an politischer Verantwortung für das, was Wirtschaft und Politik in der Vergangenheit angerichtet, beziehungsweise unterlassen haben und bedient sich aller Möglichkeiten, die ein demokratischer Staat zur Verfügung hält, um auf ein Anliegen aufmerksam zu machen und Handeln einzufordern, das ALLE gleichermaßen betrifft. Die Politik will währenddessen weismachen, dass ein 1,5-Grad-Ziel in Bezug auf die Erderwärmung (bezogen auf das vorindustrielle Niveau), wie es in Paris beschlossen wurde, immer noch zu schaffen sei, ließe man sie nur in Ruhe weiter so machen.

Die Konzentration der Treibhausgase ist heute in der Atmosphäre so hoch wie noch nie zuvor in den zurückliegenden 800 000 Jahren. Laut Berechnungen mehrerer Institute laufen die unverbindlichen bisherigen Klimaschutzmaßnahmen auf hochriskante drei Grad Erderwärmung hinaus. Hitzewellen, Überschwemmungen, Krankheiten, dramatische Ernteausfälle, fehlende Nahrungsmittel, Hungersnöte, Massensterben und gewaltsame Konflikte sind einige der zu erwartenden Folgen. Die Jahrhundertdürre, die gerade in Afrika viele Menschen in den Tod treibt, wird bald auch in Teilen Europas die Lebensgrundlagen zerstören. Ein Forschungsinstitut nach dem anderen gibt der Politik alle Fakten in die Hand, die besagen, dass nur eine radikale Änderung wirtschaftlichen Handelns und staatlicher Vorgaben daran etwas ändern könnte. Das DIES der Sachzwang der Zeit ist. Und nicht jene angeblich alternativlosen Vorschläge, die uns die Politiken der Staaten und der Europäischen Union gegenwärtig unterbreiten. Nichts wird daran etwas ändern. Es sei denn. Protest. Und zwar jene Formen des Protestes, die sich über Petitionen, Anrufungen, offene Briefe und friedliche Demonstrationen vor dem Kanzleramt hinausbewegen. Friedliche Sabotage also.

Seit der Veröffentlichung des Diskussionspapiers von Helge Peukert, in dem er die Frage!! stellt, wie radikal Handeln sein müsste, hören und lesen wir – und das war zu erwarten – Abwehrreaktionen und Verunglimpfungen. Logischerweise ist die einfachste Form der Abwehr, den Autoren schlicht und einfach für verrückt zu erklären. Das ist soweit ok, weil eine gängige Methode, sich mit einem Problem gar nicht auseinanderzusetzen. Man fährt gegen die Fahrtrichtung auf die Autobahn und findet, dass alle Entgegenkommenden verrückte Geisterfahrer sind.

Gewaltandrohungen und Mordgelüste sind schon ein anderes Kaliber, aber wir wissen, dass die Debattenkultur gegenwärtig in Teilen genau da angelangt ist. Du sagst, ich soll nicht mehr fliegen? Ich mach dich einen Kopf kürzer. 

Und wir wissen auch, dass wer mit solchen Drohungen im Gepäck reist, für Argumente oder die Aufforderung, sich an einer Diskussion (nicht an einem Massaker) zu beteiligen, sicher nicht zu haben ist. Deshalb adressieren wir auch niemanden von denen. Versichern Helge Peukert aber unserer Solidarität und unseres Mitgefühls.

Wir finden aber auch: Wenn es zwar heftige, aber doch in der Sache und Ansprache faire Reaktionen und auch Abwehrreaktionen sind, zeigt sich daran, wie stark dieses Thema beschäftigt.

Die OXI-Redaktion hat den Text von Helge Peukert veröffentlicht im Wissen darum, dass dies ein Debattenpapier ist und dass es an der Zeit ist, über alles zu diskutieren, was vielleicht geeignet sein könnte, der Klimakatastrophe, die ja schon da ist, zu begegnen mit dem Ziel, dass die menschliche Spezies, die nachfolgenden Generationen eine Chance auf ein gutes Leben haben. Auch im Wissen darum, dass viele nur allzu gern all jene plattmachen wollen, die solche Überlegungen überhaupt zur Debatte stellen.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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