Wirtschaft
anders denken.

Nicht nur weniger Mitglieder

Die Arbeitermacht in den USA hat massiv abgenommen. Das hat makroökonomische Folgen.

01.11.2022
Porträt Anna Stansbury
Anna Stansbury ist Ökonomin mit einem Schwerpunkt auf Arbeitsmarkt und Makroökonomie. Sie hat eine Professur am amerikanischen MIT Sloan inne und forscht dort zu Machtgefügen und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt.

Über den Arbeitsmarkt wird derzeit viel diskutiert, insbesondere in den USA. Welchen Aspekt dieses Marktes finden Sie interessant?

Meine Forschung schaut eher zurück und ist auf der makroökonomischen Ebene angesiedelt. Aber die derzeitige Stärkung der gewerkschaftlichen Organisierung steht mit ihr in Verbindung. Anfang des Jahres erlebten wir die erste erfolgreiche gewerkschaftliche Organisierung eines Amazon-Lager. Bei Starbucks haben wir eine rasche Organisation erlebt – von Filiale zu Filiale. Die große Frage ist, ob es sich dabei um einen dauerhaften Richtungswechsel handelt oder um einen vorübergehenden Aufschwung, der auf die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt zurückgeht.

Steht das möglicherweise im Widerspruch zu Ihrer Forschung? In einem Artikel mit Lawrence Summers stellen Sie einen Rückgang der Arbeitermacht fest.

Vor allem in der Privatwirtschaft ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den USA massiv zurückgegangen. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung war jede:r dritte Arbeiter:in in der Privatwirtschaft Mitglied einer Gewerkschaft. Das war in den 1950er Jahren. In den 1980er Jahren war es schon nur noch eine:r von vier Arbeiter:innen. Heute sind es sechs Prozent. In diesem Zusammenhang könnte das, was wir jetzt erleben, ein Wendepunkt sein. Aber wir sind weit von einem Niveau der 1950er Jahre entfernt.

Ist die Höhe der Mitgliedszahlen der Gewerkschaften gleich Größe der Macht der Arbeiter:innen und umgekehrt?

Es ist schwierig, Arbeitermacht zu definieren und zu messen. Am einfachsten ist es, wenn man die formale Verhandlungsmacht einfach als Organisierungsgrad der Gewerkschaft in Mitgliedern definiert. Aber es gibt auch informelle Quellen der Arbeitermacht, z.B. die Drohwirkung gewerkschaftlicher Organisierung. Wenn eine glaubwürdige Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Belegschaft eine Gewerkschaft gründet, verleiht das ein gewisses Machtpotenzial. Die Macht der Arbeiter:innen besteht also aus messbaren bis zu sehr unscharfen Faktoren.

Wie gehen Sie in Ihrer Forschung damit um?

Wir versuchen zu quantifizieren, welcher Anteil der in der Privatwirtschaft erwirtschafteten Gewinne an die Arbeiter:innen geht. Dazu messen wir den formalen Teil der Arbeitermacht durch die zusätzlichen Löhne, die gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen im Vergleich zu ansonsten identischen nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen erhalten. Hinzu kommt der informelle Aspekt der Arbeitermacht. Wir messen diesen, indem wir eine Gewinnbeteiligung von Arbeiter:innen in Hochlohnindustrien und großen Unternehmen schätzen. Wir addieren diese Werte, um den gesamten Gewinnanteil zu erhalten, der an die Arbeiter:innen geht. Dieser Anteil ist von den frühen 1980er Jahren bis Ende der 2010er Jahre von zwölf auf sechs Prozent gefallen. Wir schauen dann, wie diese individuellen Lohnveränderungen mit den Veränderungen auf makroökonomischer Ebene zusammenpassen.

Welche Zusammenhänge haben Sie gefunden?

Einen mit dem Rückgang des Arbeiteranteils am gesamtwirtschaftlichen Einkommen. Ein größerer Anteil der Gewinne geht jetzt an die Kapitaleigner:innen und ein kleinerer Anteil an die Arbeiter:innen. Unsere Schätzung des Verlusts an Arbeitermacht entspricht genau dem Rückgang des Arbeiteranteils am Einkommen. Es ist also denkbar, dass die gesamte Umverteilung von den Arbeiter:innen zu den Kapitaleigner:innen durch den Rückgang der Arbeitermacht erklärt werden kann. Es gibt andere mögliche Erklärungen dafür, wie z.B. den technologischen Wandel, Globalisierung oder steigende Monopolmacht, aber wir denken, dass unsere Erklärung am überzeugendsten ist.

Warum ist dieser Anteil relevant?

Wenn Sie sich nicht für Ungleichheit interessieren, spielt er keine Rolle. Wenn man es aber tut, kann man in diesem sinkenden Anteil der Arbeiter:innen am gesamtwirtschaftlichen Einkommen eine Ursache für die zunehmende Ungleichheit sehen.

Was lässt sich mit der abnehmenden Arbeitermacht noch erklären?

In den USA haben wir einen starken Anstieg der Aktienwerte erlebt. Dieser Anstieg ist größer als die Wachstumsrate des BIP. Sicher, es kann eine Risikoprämie geben und nur ein Teil der Unternehmen ist börsennotiert. Dennoch ist das Wachstum des Aktienwerts auch dann höher, wenn man die anderen Faktoren berücksichtigt, die ich gerade genannt habe. Irgendetwas anderes muss sich geändert haben. Grund dafür ist eine Erhöhung der Rentabilität des privaten Sektors in den USA, der bereits breit diskutiert wird. Die meisten Ansätze erklären dies mit Monopolmacht der Unternehmen. Es gibt weniger Unternehmen auf dem Markt, die höhere Preise verlangen und damit die Gewinne steigern. Demgegenüber argumentieren wir, dass die abnehmende Macht der Arbeiter:innen mit diesen Trends ebenso vereinbar ist.

Bitte erklären Sie das.

Halten Sie alles auf der Produktionsseite konstant, zum Beispiel Gewinne, Monopolmacht und so weiter. In der Vergangenheit haben die Unternehmen einen größeren Teil der Gewinne mit den Arbeiter:innen geteilt. Wenn nun ein höherer Anteil der Gewinne an die Kapitaleigner:innen geht, steigt die Rentabilität der Unternehmen. Die abnehmende Macht der Arbeiter:innen führt zu mehr Gewinnen, die Unternehmen an Aktionär:innen ausschütten, und somit schließlich auch in steigenden Aktienwerten.

Sie behaupten auch, dass die abnehmende Arbeitermacht mit der natürlichen Arbeitslosenquote (NAIRU) zusammenhängt. Zunächst einmal: Was ist die NAIRU?

Sie ist ein wichtiger Begriff in der Makroökonomie. Es handelt sich dabei um die Arbeitslosenquote, bei der die Inflation beginnt zu steigen, sollte die Arbeitslosigkeit weiter abnehmen. Es ist der Punkt, ab dem der Arbeitsmarkt angespannt ist.

Was ist mit der NAIRU passiert?

Ich muss sagen, dass wir diese Untersuchung bereits vor Covid durchgeführt haben. Aber bis dahin haben wir im Durchschnitt einen säkularen Rückgang der Arbeitslosenquote ohne inflationäre Auswirkungen beobachtet. In den 1980er Jahren war die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Seitdem ging sie in absoluten Zahlen natürlich immer wieder rauf und runter, aber im Durchschnitt sank die Arbeitslosenrate immer weiter. Vor der Covid-Rezession befand sie sich auf einem historischen Tiefstand, der seit den 1950er Jahren nicht mehr erreicht wurde. 3,5 Prozent ohne jeglichen Hinweis auf inflationären Druck!

Was hat das mit der Macht der Arbeiter:innen zu tun?

Die meisten Wirtschaftsmodelle gehen davon aus, dass die NAIRU ansteigt, wenn die Arbeitermacht höher ist. Das liegt daran, dass die Unternehmen ihre Einstellungen verringern aufgrund höherer Arbeitskosten. Oder der höheren Inflationsdrucks folgt besserer gewerkschaftlicher Tarifverhandlungen und der sogenannten Lohn-Preis-Spirale. Oder beide Faktoren gleichzeitig.

Könnten wir diese Entwicklungen mit erneutem Anstieg der Arbeitermacht einfach umkehren?

Wenn man einfach einen Schalter umlegt und den gewerkschaftlichen Organisationsgrad auf den Stand der 1950er Jahre zurückbringt, ist nicht ganz klar, ob dies die gleiche Wirkung haben wird.
Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens waren die Gewerkschaften in den 1950er Jahren besonders stark in der verarbeitenden Industrie und im Bergbau, der heutzutage meist im billigeren Ausland stattfindet. Die heutigen Hochburgen der Gewerkschaften liegen in Sektoren wie dem Gesundheits- und Bildungswesen. Zudem beschäftigt die Privatwirtschaft eher Arbeiter:innen im Dienstleistungsbereich, z.B. im Einzelhandel oder in Lagerhäusern, als in den traditionellen Gewerkschaftssektoren des produzierenden Gewerbes oder des Bergbaus. Dieser Strukturwandel könnte die Höhe der Gewinne, die zwischen Kapitaleigner:innen und Arbeiter:innen verteilt werden können, verändert haben.
Zweitens führt das Tarifverhandlungssystem auf Unternehmensebene in den USA dazu, dass die Verhandlungen dort stattfinden, wo es keine Gewinne gibt. Ein Beispiel: Ein profitables Technologieunternehmen lagert die Gebäudereinigung an Subunternehmen aus. Die gewerkschaftlich organisierten Reinigungskräfte verhandeln dann mit dem Reinigungs-Subunternehmen und nicht mit dem profitablen Technologieunternehmen.
Selbst bei einem ähnlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad wie in den 1950er Jahren könnte die Gewinnbeteiligung heute also geringer sein.

Zum Weiterlesen:
Anna Stansbury und Lawrence H. Summers (2020): The Declining Worker Power Hypothesis. Brookings Papers on Economic Activity.

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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