Wirtschaft
anders denken.

Die Gewerkschaften suchen neue Kampfformen

Ingrid Kurz-Scherf, Politikwissenschaftlerin, zur Lage der Gewerkschaften in Deutschland,zu Arbeitskämpfen und Tarifverhandlungen in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft.

11.04.2016
Die Politikwissenschaftlerin Ingrid Kurz-Scherf hat als feministische Marxistin eine ebenso kreative wie ungewöhnliche Laufbahn in Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften absolviert. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften, promovierte an der TH Aachen, habilitierte an der FU Berlin, war viele Jahre Leiterin des Tarifarchivs beim gewerkschaftsnahen WSI und auch Staatsekretärin für Arbeits- und Frauenpolitik im Saarland. Von 2001 bis Mitte 2015 war sie Professorin für Politische Wissenschaften an der Philipps Universität Marburg. Der feministische Eigensinn und die feministische Arbeitsforschung stehen im Zentrum ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten.

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fordert mit sechs Prozent Lohnerhöhung mehr als die IG Metall. Bisher galt diese doch immer als kampfbereiter und streikfähiger, weil sie vergleichsweise gut verdienende Facharbeiter in Exportbranchen, unter anderem im Maschinenbau und der Automobilindustrie, organisiert, in denen Unternehmen hohe Gewinne erzielen. Im Gegensatz zum »ausgehungerten« öffentlichen Arbeitgeber. Warum ist heute ver.di Vorreiter?

Kurz-Scherf: Gegenfrage: Ist es nicht längst an der Zeit, dass in einer Dienstleistungsgesellschaft die Dienstleistungsgewerkschaften den Ton angeben? Ich bin sehr froh, dass ver.di allmählich aus dem Schatten der IG Metall heraustritt und eigenständige Tarifpolitik macht. Weil soziale, kulturelle und personenbezogene Tätigkeiten einfach einer anderen Logik folgen als industrielle Facharbeit – auch unter kapitalistischen Rahmenbedingungen. In der letzten Tarifrunde beispielsweise ist es ver.di gelungen, einen dauerhaft wirksamen Mindestbetrag zugunsten der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen durchzusetzen. Das war ein Paukenschlag in Zeiten zunehmender sozialer Ungleichheit. Leider setzt ver.di diese Politik nicht fort. Trotzdem gibt es zurzeit gerade in den Dienstleistungsgewerkschaften Initiativen – auch im Bereich der Arbeitszeit und der qualitativen Tarifpolitik –, die durchaus richtungsweisend sind.

Ist es nicht an der Zeit, dass in einer Dienstleistungsgesellschaft Dienstleistungsgewerkschaften den Ton angeben?

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Welche?

Im Bundesvorstand von ver.di wurde das Konzept der Verfügungstage beziehungsweise Verfügungszeiten entwickelt, mit dem allen Beschäftigen – unabhängig von ihrer individuellen Arbeitszeit – ein zusätzlicher Anspruch auf frei verfügbare Zeit außerhalb ihrer Erwerbstätigkeit eingeräumt werden soll. Die Diskussion ist noch in der Konzeptphase. Sie könnte aber die aktuell weitgehend blockierte Arbeitszeitpolitik der Gewerkschaften wiederbeleben. Im Bereich der qualitativen Tarifpolitik gibt es unter anderem im Gesundheitssektor wie auch in Einrichtungen der Erziehung und Pflege sehr beachtenswerte Initiativen zu Regulierungen des Personalschlüssels und zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Auf diesen Feldern wurde auch schon erfolgreich gestreikt.

Können Sie sich noch an die Zeiten erinnern, in denen die IG Metall gestreikt hat? Kann eine Gewerkschaftsorganisation das Streiken »verlernen«?

Nun ja, die deutschen Gewerkschaften sind seit jeher nicht sonderlich streikfreudig. An der im internationalen Vergleich sehr niedrigen Streikintensität in Deutschland haben auch die öffentlichkeitswirksamen Streiks der letzten Jahre wenig geändert. Sie fanden allerdings tatsächlich nicht in den großen Industriebereichen statt, sondern bei der Bahn, der Lufthansa, im Sozial- und Erziehungsdienst oder bei Amazon. Und es ging oft nicht oder nicht nur um Lohnprozente. Ich kann mich aber durchaus noch an einige große Streiks der IG Metall erinnern, beispielswese um die Einführung der 35-Stunden-Woche. Das war in den 1980er Jahren. Ich glaube nicht, dass die IG Metall das Streiken verlernt hat. Sie hat allerdings sehr schmerzlich erfahren, dass man Streiks – wie den in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie um die 35-Stunden-Woche – auch verlieren kann, ergebnislos abbrechen muss. Nicht nur die IG Metall, sondern auch andere Gewerkschaften suchen schon seit einiger Zeit nach neuen Streikformen, die den grundlegend veränderten Rahmenbedingungen besser gerecht werden als der klassische unbefristete Vollstreik. Gerade für die bevorstehende Tarifrunde hat die IG Metall den Einsatz neuer Arbeitskampfformen angekündigt – falls Gesamtmetall die ja einigermaßen bescheidene Tarifforderung nicht akzeptieren sollte.

Dass eine Organisation wie die IG Metall nicht mehr streiken muss, um ihre Forderungen durchzusetzen: Ist das ein Zeichen von Stärke oder von Schwäche?

Im offiziellen Sprachgebrauch redet man in Deutschland – wie auch in Österreich und in der Schweiz – seit eh und je viel lieber von Tarifpartnern als von Tarifparteien. Hartes, aber gesittetes und in jedem Fall friedlich-schiedliches Verhandeln ist in Deutschland viel eher das dominierende Modell der Tarifautonomie als Tarifkonflikte oder gar Arbeitskämpfe nach dem Modell des Erzwingungsstreiks – wie es im Juristen- und im Gewerkschaftsdeutsch heißt. Tatsächlich ist die vergleichsweise geringe Streikintensität aus meiner Sicht durchaus auch (!) ein Zeichen der Stärke der deutschen Gewerkschaften im internationalen Vergleich. Die Arbeitgeber verzichten darauf, ständig die Streikfähigkeit der Gewerkschaften auszutesten, weil sie davon ausgehen, dass auch die Gewerkschaften, die schon lange nicht mehr gestreikt haben, ihre Streikfähigkeit relativ schnell aktivieren könnten. Andererseits verzichten die deutschen Gewerkschaften in vielen Bereichen schon seit langem auf Forderungen, die sie nur mit einem großen Arbeitskampf durchsetzen könnten – beispielsweise auf eine konsequente Lohnpolitik zugunsten der unteren Lohngruppen oder auch auf eine konsequente Strategie gegen die Lohndiskriminierung von Frauen. Die Politik der Arbeitszeitverkürzung wird nicht zuletzt auch deshalb nicht weiterverfolgt, weil sie als aktuell nicht mobilisierungsfähig gilt. In den exportorientierten Wirtschaftszweigen trauen sich die Gewerkschaften nicht, konsequent gegen aggressive Vermarktungs- und Expansionsstrategien der großen Konzerne vorzugehen – weil sie den Konflikt mit den von ihnen organisierten Stammbelegschaften fürchten. Von einem kämpferischen Standpunkt aus betrachtet, kann man das als Zeichen der Schwäche der Gewerkschaften oder auch als Indiz für den mittlerweile auch in den eigenen Reihen dominierenden Neoliberalismus interpretieren.

Die vergleichsweise geringe Streikintensität ist aus meiner Sicht durchaus ein Zeichen der Stärke der deutschen Gewerkschaften im internationalen Vergleich.

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Über viele Jahre stagnierten die Reallöhne in Deutschland, also das, was nach Abzug der Preissteigerungen im Geldbeutel bleibt. Was müssten die Gewerkschaften heute fordern, um diesen Rückstand aufzuholen?

Das ist so nicht ganz richtig, wie man beispielsweise in den sehr informativen Analysen der Tarifentwicklung von Reinhard Bispinck in den WSI-Mitteilungen nachlesen kann. Tatsächlich hat die Tariflohnentwicklung – wenn man sie über die Zeit seit der Jahrtausendwende betrachtet – mit der Preisentwicklung durchaus schritthalten können: Auf der Ebene der Tariflöhne ist so ein Reallohnzuwachs von knapp sieben Prozent verblieben – bescheiden, aber immerhin.

Aber Tariflöhne sind das eine, die durchschnittlich gezahlten tatsächlichen Brutto- und Nettoverdienste das andere: Hier gab es schon zwischen 2000 und 2008 und dann nochmal massiv im Zusammenhang mit der Krise 2008 kräftige Reallohnverluste. In den letzten Jahren sind die tatsächlich gezahlten durchschnittlichen Reallöhne zwar wieder gestiegen, der vorangegangene Rückgang wurde dadurch aber noch nicht ausgeglichen. Insgesamt beziffert Reinhard Bispinck die verbliebene Lücke zwischen Preis- und Lohnentwicklung auf immer noch knapp zwei Prozent. Dabei darf man aber nicht ausblenden, dass die Lohnentwicklung schon seit einiger Zeit maßgeblich von der Ausweitung des Niedriglohnsektors, der Teilzeitarbeit und der Minijobs beeinflusst wird. Wenn man die Verdienstentwicklung im sogenannten Normalarbeitsverhältnis, also in unbefristeter Vollzeitarbeit, betrachtet, dann war die Entwicklung weitaus günstiger. Aber nirgends und in keinem Fall wurde der sogenannte Verteilungsspielraum voll ausgeschöpft. Um diese Lücke zu schließen, um also die Umverteilung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkünften seit 2000 rückgängig zu machen, müssten in einigen Bereichen zweistellige Lohnforderungen erhoben und durchgesetzt werden. Das erscheint mir nicht nur einigermaßen illusionär, sondern auch problematisch. Denn damit würden die Gewerkschaften ihr Klientel zum Nutznießer der aggressiven Export- und Expansionsstrategie der deutschen Industrie und auch zum Nutznießer der Umwidmung des Normalarbeitsverhältnisses zu einer Art Premiumbeschäftigung machen, zu der nur noch eine schwindende Arbeitselite Zugang hat.

Aus meiner Sicht wäre es gut, wenn die Gewerkschaften ihre Lohnpolitik auf Reallohnsicherung in den höheren und auf Reallohnsteigerung in den unteren Tarifgruppen ausrichteten – und sich im Übrigen auf eine phantasievolle Politik der Arbeitszeitverkürzung, der tariflichen Kontrolle der Personalbemessung, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Zuge der Digitalisierung der Arbeit ebenso wie im Zuge ihrer Tertiarisierung und Feminisierung konzentrierten. Aber um das tun zu können, muss auch die Einkommensentwicklung stimmen – und die steht berechtigterweise im Zentrum der aktuell laufenden Tarifrunden.

Das Interview führte:

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

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