Wirtschaft
anders denken.

Nicht mehr von dieser Welt

11.06.2022

Unternehmen wandeln sich ständig, meist zum Nachteil der Beschäftigten. Dagegen hilft nur ein dynamischeres Arbeitskampfrecht. Aus OXI 6/22.

Der Streik ist das unverzichtbare Mittel zur Gewährleistung angemessener Arbeitsbedingungen für Lohnabhängige. Dies ist jedenfalls in den westlichen Ländern allgemein anerkannt. In der Vergangenheit häufig kriminalisiert und unmittelbar polizeilich bekämpft, sehen die Rechtsordnungen der am stärksten entwickelten Marktwirtschaften ihn inzwischen als legitime Form der Interessendurchsetzung von Lohnabhängigen vor. Das ist juristisch bemerkenswert, weil der Streik eine gezielte Vermögensschädigung eines Vertragspartners darstellt, um diesen zur Zustimmung zu für ihn auf den ersten Blick nachteilige Vertragsbedingungen zu bewegen. Dies wäre nach allgemeinen Regeln als Nötigung rechtswidrig. Es hat sich aber gezeigt, dass im asymmetrischen Arbeitsverhältnis, in dem der Unternehmer über nahezu alle Bedingungen des Arbeitsprozesses allein entscheidet, der Streik notwendig ist, um angemessene Arbeitsbedingungen verhandeln zu können. Die Schädigung des Unternehmens ist dabei durch das ökonomische Kalkül des Streiks selbst begrenzt. Ziel ist eine günstigere Verteilung des Unternehmensgewinns, sei es durch höheren Lohn, mehr Freizeit oder andere potenziell kostenverursachende Maßnahmen wie flexible Arbeitszeiten oder Arbeitsschutz. Gewerkschaften haben deshalb ein eigenes Interesse an der Profitabilität des Unternehmens, was Streikziele und Arbeitskampfintensität mäßigt.

Trotz dieser allgemeinen Anerkennung als effektives Mittel zur Regulierung von Arbeitsbedingungen ist das System, welches auf der Möglichkeit des Streiks zur Erzwingung von Tarifverträgen basiert, in einer Krise. Immer weniger Arbeitsverhältnisse fallen unter Tarifverträge und die Gewerkschaften als Organisatoren und Finanzierer von Arbeitskämpfen leiden seit Jahrzehnten unter Mitgliederschwund und Bedeutungsverlust. Zu dieser Entwicklung trägt eine sich verschärfende Ungleichheit der rechtlichen Möglichkeiten von Lohnabhängigen und Unternehmenseignern bei. Während das deutsche Arbeitskampfrecht den Bewegungsraum von Lohnabhängigen anachronistisch beschneidet, gilt für das Kapital ein enorm flexibles Wirtschaftsrecht, das eine organisierte Verantwortungslosigkeit durch ständige Restrukturierungsprozesse ermöglicht.

Unternehmen können sich neu organisieren, Produktionsstandorte schließen und neu eröffnen, neue Rechtsträger schaffen oder untergehen und Betriebe von der einen Hand in die andere wandern lassen. So kann ein Unternehmen sich der Tarifbindung entziehen, indem es Aufgaben an ein nicht tarifgebundenes Unternehmen überträgt und die dadurch wegfallenden Arbeitsplätze streicht. Ebenso können Arbeitgeber Betriebe an Unternehmen ohne Tarifbindung übertragen, sogar an Tochtergesellschaften des eigenen Konzerns. Dann wirkt der Tarifvertrag zwar für die Bestandsbelegschaft in abgeschwächter Form nach, neue Arbeitnehmer:innen können aber außertariflich beschäftigt werden, so dass langfristig die Tarifbindung abgebaut wird. Einen großen Anteil an der Tarifflucht haben auch allgemeine wirtschaftliche Transformationsprozesse wie die Verlegung von industrieller Produktion in Niedriglohnländer und die Ablösung traditioneller Unternehmen durch gewerkschaftsfeindliche Digitalisierungsgewinner wie Amazon.

Hier ließe sich einwenden, auch die Belegschaft von neuen Unternehmen, Outsourcing-Dienstleistern und verkauften Betrieben könnte sich organisieren und Tarifverträge erkämpfen. Verglichen mit der Flexibilität des Wirtschaftsrechts lässt das Kollektivarbeitsrecht aber deutlich weniger Spielraum. Das zeigt sich an mindestens drei Problemen: Die Behinderung neuer Koalitionen, die Beschränkung des Streiks auf bestimmte Ziele und die Beschränkung der Arbeitskampfmittel. Vorab sei festgestellt, dass das Arbeitskampfrecht nicht vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber kommt, sondern mangels politischen Konsenses von der Arbeitsgerichtsbarkeit entwickelt und gelegentlich vom Bundesverfassungsgericht korrigiert wurde. Dabei folgte die Rechtsprechung seit erstmaliger Anerkennung des Streiks in der Weimarer Republik einer Maxime der Streikvermeidung zur Förderung einer vermeintlichen wirtschaftlichen Effizienz – und zulasten der Lohnabhängigen.

Effizienz soll zum einen dadurch erreicht werden, dass Streiks nur möglich sind, wenn eine Gewerkschaft mit einer festen Organisationsstruktur die rechtliche Verantwortung dafür übernimmt. Die spontane Arbeitsniederlegung ist nicht vorgesehen und kann zur fristlosen Kündigung führen. Die streikführende Organisation muss eine ausreichend korporative Struktur mit einer Satzung aufweisen, die den Abschluss von Tarifverträgen als Organisationszweck festlegt. Lohnabhängige ohne Sozialisation in der deutschen Vereinsmeierei werden ausgeschlossen. Gewerkschaften brauchen zudem eine gewisse materielle Ausstattung, womit neue Organisationen benachteiligt werden, die nicht über jährliche Mitgliedsbeiträge in Milliardenhöhe verfügen wie die großen DGB-Gewerkschaften. Die Unsicherheit über diese sogenannte Tariffähigkeit setzt starke Anreize gegen die Gründung neuer Organisationen. Dies hatte einst seinen guten Grund in der Verhinderung von arbeitgeberfreundlichen Scheingewerkschaften, behindert aber unter den aktuellen Bedingungen andauernder Dynamisierung des Wirtschaftsprozesses die Anerkennung schlagkräftiger Ad-hoc-Koalitionen, die ebenso dynamisch agieren könnten.

Das betrifft besonders die erfolgreiche Organisierung von Branchen, wo aufgrund von Digitalisierungs- und Outsourcingprozessen keine Machtbasis der alten Gewerkschaften mehr besteht. Die erstmalige Organisierung von Streiks fand historisch zunächst durch kollegiale Solidarisierung auf Betriebsebene statt. Diese Prozesse von Neuorganisation abseits der eingefahrenen Strukturen böten eine echte Chance, in neuen Branchen wie dem Onlinehandel oder den Lieferdiensten eine Tarifbindung zu erreichen. Dieses Potenzial zeigt sich in den jüngsten Organisierungsversuchen bei Gorillas, Getir und anderen Start-ups. Hier versuchen Menschen aus Ländern mit einer kämpferischen Streikpraxis, durch direkte Aktionen für die Rechte ihrer Kollegen einzustehen.

Die korporatistische Struktur dient zur Kontrolle und Eindämmung der Arbeitskämpfe. Der Streik muss durch eine Gewerkschaft getragen werden, die dem Arbeitgeber gegenüber schadenersatzpflichtig wird, falls die Arbeitsrichter:innen den Arbeitskampf für rechtswidrig halten. Durch die Übernahme der Verantwortung für den Streik ist die Organisation also einem enormen Risiko ausgesetzt. Die Schadenersatzpflicht trifft die Gewerkschaft grundsätzlich unabhängig davon, ob erkennbar war, dass ein Gericht ihren Streik für rechtswidrig halten würde. Rechtmäßig ist nach der Rechtsprechung nur ein Streik, der auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen gerichtet ist, aber die sogenannte unternehmerische Freiheit im Übrigen unberührt lässt. Es darf also nicht gestreikt werden, um eine für die Arbeitnehmer:innen folgenschwere Umstellung des Produktionsprozesses zu verhindern oder zu beeinflussen. In vielen Fällen sind die Grenzen hier unscharf, wenn etwa neue Produktionssysteme zugleich neue Arbeitsschutzmaßnahmen erfordern oder mit bestimmten Arbeitszeitmodellen und Lohngestaltungen zusammenhängen. Jede Ungewissheit geht hier zulasten der Gewerkschaft, die bei jedem Versuch innovativer Tarifpolitik fürchten muss, für einen rechtswidrigen Streik in die Haftung genommen zu werden.

Zuletzt beschränkt die Rechtsprechung auch die Arbeitskampfmittel der Gewerkschaften mit Verweis auf vermeintlich höherrangige Rechte der Unternehmen. Obwohl schon der Streik unmittelbar auf Vermögensschäden zielt, sollen bestimmte andere Formen der Schädigung, wie Blockade oder Besetzung, rechtswidrig sein. Dies widerspricht der ökonomischen Logik des Arbeitskampfrechts, nach welcher die Intensität der Vermögensschädigung ja bereits durch das Interesse der Gewerkschaften am Fortbestand eines profitablen Betriebs begrenzt ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den zahlreichen Sanierungstarifverträgen, in denen Gewerkschaften freiwillig schlechtere Arbeitsbedingungen vereinbaren, um Betriebe zu erhalten.

Das deutsche Arbeitskampfrecht wurde für eine Welt geschaffen, die nicht mehr existiert. Der »organisierte Kapitalismus« mit seinen zentralistischen, auf Stabilität angelegten Strukturen hat sich als Übergangsphänomen herausgestellt. Auf der Suche nach höherer Rendite nutzt das Kapital jede Möglichkeit, um die Profiteure der Wertschöpfung von jeder Verantwortung für die sozialen Kosten abzuschirmen. Solange eine effektive Beschneidung dieser Möglichkeiten nicht in Sicht ist, müsste der massiven Beschleunigung des Lebenszyklus von Unternehmen und ihrer vielgestaltigen Metamorphosen eine Liberalisierung des Arbeitskampfrechts auf Beschäftigtenseite folgen.

Es gibt zarte Tendenzen der Rechtsprechung in diese Richtung, die bisher aber nur die Beschränktheit der hergebrachten Regeln illustrieren. So wurde in den letzten Jahren entschieden, dass in besonderen Fällen Streikposten und Flashmobs auf dem Betriebsgelände zulässig seien. Solange aber das Damoklesschwert der Schadenersatzforderung über jedem Versuch hängt, die Grenzen des Arbeitskampfs neu auszuloten, werden zumindest die etablierten Gewerkschaften wohl weiter Vorsicht walten lassen.

Zu einer Änderung der Rechtsprechung bräuchte es neben einem Umdenken der Richter:innen auch eine Bewegung die bereit ist, aus dem alten Korsett auszubrechen und neue Rechte zu erkämpfen. Eine solche Risikobereitschaft ist vielleicht von den spontan gebildeten Kollektiven bei den App-basierten Lieferdiensten zu erwarten. Aber auch die von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi getragene Berliner Krankenhausbewegung konnte zuletzt innovative Streikforderungen zur Entlastung des Pflegepersonals durchsetzen. Ob sich diese Tendenzen ausweiten und eine echte Veränderung bewirken können, muss sich erst herausstellen.

Ein Moment der Hoffnung zeigte sich vor Kurzem in den USA. Trotz des restriktiven Koalitionsrechts schaffte es die neu gegründete Amazon Labor Union (ALU) Anfang April 2022, ein Amazon-Warenlager in Staten Island, New York gewerkschaftlich zu organisieren (siehe Text von John Malamatinas in dieser Ausgabe). Der ALU-Vorsitzende Chris Smalls trat zur Verkündung des Erfolgs mit Sonnenbrille und Goldkette vor die Kameras, öffnete überschwänglich einen Champagner und nahm einen beherzten Schluck aus der Flasche. Sein Auftritt vollzieht einen bewussten Bruch mit dem hemdsärmeligen Stil der traditionellen Gewerkschaften. Er verkörpert in zeitgemäßer Form den ursprünglichen Impuls der Arbeiterbewegung: das gute Leben für alle! Für breite Schichten der Bevölkerung ist dies nur durch gemeinsame Organisation zu erreichen und nicht durch unablässige Konkurrenz gegeneinander.

Joost Beerwerth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht von Prof. Florian Rödl an der Freien Universität Berlin und promoviert dort zur Geschichte des Kollektivarbeitsrechts. Außerdem ist er als Dozent in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig.

Geschrieben von:

Joost Beerwerth

Rechtswissenschaftler

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