Komische Geschäftsleute
Es ist eine widersprüchliche Konstellation, dass Personen selbst darüber verfügen können, wer über ihre Arbeitskraft verfügen darf
Leben gibt es nur als Zusammenleben. Bleibt die große Frage nach dem Wie. Für die Gattung Mensch ist dabei vor allem anderen die Qualität der Kommunikations- und der Arbeitsbeziehungen ins Auge zu fassen. Weil es hier um Arbeit und um Arbeitszeit gehen soll, mag die Kommunikation außen vor bleiben. Im Sprachgebrauch hat sich durchgesetzt, solche Tätigkeiten als Arbeit zu bezeichnen, mit welchen ein Produkt hergestellt oder ein Dienst verrichtet wird. Unter Arbeit nur eine Produktions- oder Dienstleistung zu verstehen, hat den Nachteil, dass nicht zu erkennen ist, woher sie kommt und wohin sie führt. Tatsächlich ist die Arbeitsleistung auf der einen Seite einem Bedarf zugeordnet – wer nichts braucht, braucht auch nichts zu produzieren und keinen Dienst zu leisten – und auf der anderen Seite einem Gebrauch; für die Produkte bzw. Dienste muss es eine Verwendung geben. Nur wenn sie für etwas zu gebrauchen sind, erfüllt sich der Sinn der Arbeitstätigkeit.
Um der Frage nach der Qualität des menschlichen Zusammenlebens nachzugehen, bewährt es sich, den Arbeitsbegriff so zu verwenden, dass er den Zusammenhang von Bedarf, Leistung und Gebrauch umspannt. So zeigt sich zum Beispiel, dass kein bedürftiges Wesen, soll es überleben, von der Gebrauchsseite der Arbeit ausgeschlossen werden darf. Aber es ist eben auch zu erkennen, wie nahe es liegt, die Leistungs- von der Konsumseite der Arbeit zu trennen: Immer wieder legten und legen es – ihrem gesellschaftlichen Status nach gelten sie als die besseren – Leute darauf an, andere anzuweisen, was diese leisten sollen, während sie selbst sich auf die Gebrauchsseite konzentrieren und die Produkte und Dienste konsumieren. Wo Herrschaftsverhältnisse das Zusammenleben prägen, entspringen sie gewöhnlich dieser Idee der »Arbeitsteilung« zwischen Leistung und Konsum.
Der Zusammenhang ist dann banal: Je mehr Zeit die anderen mit Arbeitstätigkeiten verbringen, desto größere Konsummöglichkeiten bieten sich den besseren Leuten. Die Geschichtsschreibung berichtet von Sklaven, Leibeigenen, Heloten, Demostiken, die unter Drohungen für Leib und Leben angehalten waren, ihre ganze Kraft als Arbeitskraft einzusetzen, um zum Beispiel Paläste für Lebende und Pyramiden für Tote zu bauen. Die Frage der Arbeitszeit stellte sich für sie nicht: Innerhalb der physischen Grenzen sowie der gesellschaftlichen Sitten (z. B. Feiertage und Feste) war ihre Lebenszeit Arbeitszeit. In der vormodernen Semantik des Wortes Arbeit spiegeln sich diese Verhältnisse, so hat die lateinische Wurzel des spanischen trabajo die Bedeutung leiden, schuften. Solange Arbeitsleistungen freilich weitestgehend auf landwirtschaftlicher sowie handwerklicher menschlicher Arbeitskraft basierten, hielt sich ihre Produktivität in engen Grenzen; und der Konsum von Herrschaften hat, wie luxuriös sie auch leben, natürliche Schranken. Unersättlichkeit greift erst um sich, wenn es nicht länger um Gebrauchswerte, sondern um mehr Geld oder politisch um mehr Macht geht oder um die für den Nationalismus typische explosive Mischung aus beiden.
Mit den alten Herrschaftsverhältnissen versprach die bürgerliche Revolution unter der Parole Freiheit, Gleichheit, Solidarität, damals Brüderlichkeit genannt, Schluss zu machen. Konsum sollte strikt an Arbeits-leistung gekoppelt werden, »wer nicht arbeitet, soll nicht essen«. Mehr noch, Arbeitsleistungen und Kon-summöglichkeiten sollten in direkter Beziehung zueinanderstehen, »Leistung muss sich lohnen«. Was sich, die Arbeit betreffend, faktisch vollzog, nannte Karl Polanyi »Great Transformation«: Die Verwandlung religiös legimierter Herrschaftsverhältnisse in geldbasierte Geschäftsbeziehungen.
Ein Geschäft benötigt – anders als ein Herrschaftsverhältnis – die Zustimmung beider Seiten. So entstand die widersprüchliche Konstellation, dass Personen selbst darüber verfügen können, wer über ihre Arbeitskraft verfügen darf. Sogenannte Arbeitnehmer vereinbaren »auf Augenhöhe« ein Geschäft mit einem sogenannten Arbeitgeber, das diesem erlaubt anzuordnen und jene verpflichtet sich unterzuordnen. Arbeitnehmer schließen ein Geschäft darüber ab, dass sie anschließend nichts mehr zu sagen haben. Komische Geschäftsleute.
Ob die Leistungsseite der Arbeit gleichberechtigte Geschäftspartner zusammenführt oder ob doch Machtverhältnisse dominieren zwischen Führen und Ausführen, Vorgesetzten und Untergebenen – die politische Auseinandersetzung darüber, welche der beiden sozialen Beziehungen die maßgebliche ist, durchzieht die moderne Sozialgeschichte. Einer ihrer Treppenwitze: die Bezeichnung „Arbeitskraftunternehmer“. Auf den ersten Blick erscheint das hierarchische Beschäftigungsverhältnis schwergewichtig und die Geschäftsbeziehung federgewichtig. Allerdings stärkt die Konsumseite der Arbeit, weil sie primär über Kundenbeziehungen auf Märkten läuft, den Status der Arbeitnehmer als Geschäftspartner. Sie sind wie alle Geschäftsleute („die Konkurrenz schläft nicht“) stets auf dem Sprung, allzeit bereit, sich durch ein Gelegenheitsfenster zu stürzen, das sich gerade auftut, und sei es nur die halbe Stunde zu erwischen, in der ein Liter Treibstoff an der Tankstelle einen Cent billiger ist.
Streng genommen handelt es sich bei dem Beschäftigungsverhältnis um einen Mietvertrag (vgl. Arlt 2021): Zu welchen Konditionen mietet A die Arbeitskraft von B, auf welche Weise wird sie genutzt und in welchem Zustand wird sie anschließend zurückgegeben. Das Eigentumsrecht der Arbeitnehmer und das Nutzungs-recht der Arbeitgeber an der Arbeitskraft stehen sich gegenüber. Dabei kommt der Zeitfrage zwangsläufig große Bedeutung zu: Wie lange müssen Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitskraft – und damit letztlich sich selbst – vermieten, um ein ausreichendes Einkommen zu erhalten? Wie lange und wie intensiv können sie etwas leisten, ohne ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen und ihre Lebenserwartung zu verringern?
Schauen wir uns die Geschäftsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer genauer an. Dafür gilt es sich klar zu machen, wie sehr modernes Zusammenleben von Konkurrenz zerrissen wird. Konkurrenz taugt nicht für das, „was Gemeinwesen eigentlich leisten sollten, nämlich sicherstellen, dass die einen für die an-deren sorgen“ (Rendueles 2015, S. 46). Geschäftskontakte folgen dem Prinzip der Selbstversorgung. Das In-teresse an anderen Menschen dient dem Eigeninteresse und schwindet, wenn der andere dafür nichts nützt. Auf dieser Basis begegnen sich Geschäftsleute, Käufer und Verkäufer, Mieter und Vermieter, somit auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die (Be-)Werbung hat dementsprechend eine einzige Grundbotschaft: Wie sehr das Beworbene für andere nützlich wäre, würden sie sich auf das Geschäft einlassen. Weil jeder von jedem erwartet, dass es ihm primär um seinen Vorteil geht, wird Misstrauen („trau, schau wem“) zur Primäreigenschaft des Zusammenlebens und Vertrauen – wie Aufmerksamkeit in der Kommunikation – zum knappen Gut, um das alle ringen.
Zurück zum Geschäft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Für Arbeitgeber ist das Beschäftigen (Anmie-ten) von Arbeitskräften eine wirtschaftliche Frage. Sie interessiert das Verhältnis von Ausgaben (Kosten) und Einnahmen. An dieser Stelle lässt sich der Unterschied aufzeigen zwischen Wirtschaft im allgemeinen und kapitalistischer Wirtschaft im besonderen. Generell ist unter Wirtschaft zu verstehen, dass sowohl bei der Arbeitsleistung als auch beim Konsum auf das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen geachtet wird, wobei die Priorität aber klar ist: Die Leistung soll erbracht werden, weil der Bedarf existiert; von dem Produkt bzw. dem Dienst soll Gebrauch gemacht werden, weil sie als notwendig oder zumindest als erwünscht angese-hen werden.
Kapitalistisches Wirtschaften setzt andere Prioritäten. Leistung und Gebrauch finden überhaupt nur dann statt, wenn berechtigte Aussichten bestehen, dass die Einnahmen die Ausgaben nennenswert übertreffen: Arbeitskräfte werden nur angemietet, Maschinen und Rohstoffe nur gekauft, wenn die zu erwartende Ge-winnmarge stimmt. Wirtschaften und kapitalistisch wirtschaften sind zwei verwandte, aber grundverschie-dene Praktiken: Einmal findet Arbeit statt, weil es auf ihren Gebrauchswert ankommt, und sie wird dabei mehr oder weniger wirtschaftlich organisiert; das andere Mal wird die Entscheidung, ob Arbeit überhaupt stattfindet, vom erhofften Tauschwert abhängig gemacht – Gebrauchswert hin oder her.
Das Drama der kapitalistischen Wirtschaft resultiert daraus, dass sie riskant ist. Weil niemand wissen kann, ob sich das investierte Kapital am Ende tatsächlich vermehrt, wird im Arbeitsprozess alles (Erlaubte und oft auch Unerlaubte) dafür getan, dass die Kosten so gering und die Einnahmen so hoch wie möglich ausfallen, um auf eine gute Rendite zu kommen. Die gesellschaftlichen Folgen beschäftigen die Arbeiter-, Frauen- und Umweltbewegung, den Sozialstaat, Wohlfahrtsorganisationen, den Verbraucherschutz, Gerichte und manchmal auch Gefängnisse (meistens gelingt es den dazugehörigen CEO – siehe Audi, VW und Hunderte, global gesehen: Zehntausende andere – mit Geldstrafen und Bewährung davon zu kommen).
Die Konsequenzen für die Arbeitszeit sind so widersprüchlich wie der gesamte Arbeitsprozess, wenn er kapi-talistischer Regie unterliegt. Wo es mit der Rendite zu funktionieren verspricht, kann die kapitalistische Wirtschaft nicht genug von Leistung und Konsum bekommen, was sich zum Beispiel in Überstunden und Verbraucherkrediten niederschlägt und in dem Drang, Leistung und Konsum am liebsten 24/7 am Laufen zu halten. Drohen Verluste, wird ohne Rücksicht auf Bedarfslagen zurückgefahren mit Kurzarbeit, Arbeitslosig-keit, leeren Regalen, steigenden Preisen und staatlichen Rettungsaktionen im Schlepptau.
Kapitalistische Arbeitgeber proben permanent das Kunststück, auf der Leistungsseite Geschäftspartner zu finden, denen sie besonders wenig zahlen müssen, und auf der Konsumseite Geschäftsbeziehungen zu be-sonders zahlungskräftigen Kunden zu knüpfen. So sehen die Lebensverhältnisse auf dem Planeten dann auch aus, lokal Villenviertel und Slums, national elitäre Lebensstile und prekäre Lebenslagen, gobal Wohl-stands- und Armutsstaaten.
Arlt, H.-J. (2021). Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne. Wiesbaden: Springer VS
Rendueles, C. (2015). Soziophobie. Berlin: Suhrkamp
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