Wirtschaft
anders denken.

Rekordtief bei der Arbeitslosigkeit. Und alle so: Yeah?

02.10.2017

Die zurückgehende Zahl der Erwerbslosen macht hierzulande Schlagzeilen. Die Quote der Arbeitslosigkeit sinkt, es gibt viele offene Stellen, die Politik sonnt sich in den Daten. Hinter der offiziellen Statistik liegt aber eine andere Wahrheit.

»Die Zahl der Arbeitslosen ist im September auf ein Rekordtief gesunken«, meldet die Tagesschau – und die Welt klingt wunderbar: »Herbstbelebung«, nur 2,45 Millionen Menschen ohne Lohnanstellung, mehr offene Stellen. Das ist mehr oder weniger der arbeitsmarktstatistische Sound seit längerem. Die Lage entwickele »sich weiter sehr positiv«, wird der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, zitiert. Die Erwerbslosenquote wird mit 5,5 Prozent angegeben. Und alle so: Yeah? Ein Blick hinter die Kulissen der offiziellen Zahlen zeigt, wie die Situation wirklich ist.

Hunderttausende Arbeitslose werden nicht mitgezählt

Die Bundesagentur rechnet in ihre Quote für den September 2017 fast eine Million Erwerbslose nicht mit ein – dazu gehören über 160.000 Arbeitslose über 58 Jahre, über 80.000 Ein-Euro-Jobber, Zigtausende in Förder- und Weiterbildungsmaßnahmen und nicht zuletzt über 70.000 krank gemeldete Erwerbslose. Die Nürnberger Behörde gibt diese Zahlen in ihrem Monatsbericht durchaus an, nur fließen sie in der Regel nur am Rande in die Gesamtbetrachtung ein. Diese Personen alle mitgerechnet würde die Arbeitslosenquote für September bei über sieben Prozent liegen.

Unter anderem die Linkspartei veröffentlicht die Zahlen unter der Überschrift »tatsächliche Arbeitslosigkeit« und kritisiert die offizielle Statistik als Trickserei. Genau genommen müssten auch noch über Hunderttausende Personen mitgezählt werden, die »Stille Reserve« genannt werden – darunter sind Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer »vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben«, wie es die Linkspartei formuliert, sich also nicht mehr erwerbslos melden, obwohl sie es in Wahrheit sind. Gezählt werden dazu aber auch solche, die zwar Arbeit suchen, jedoch kurzfristig für eine Arbeitsaufnahme nicht zur Verfügung stehen.

Viele Menschen wollen mehr arbeiten

Neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge wollten 2016 rund 5,4 Millionen Menschen im Alter von 15 bis 74 Jahren mehr oder überhaupt arbeiten – die Bundesstatistiker sprechen von ungenutztem Arbeitskräftepotenzial. Darin zusammengezählt sind knapp 1,8 Millionen Erwerbslose, eine Million Personen in Stiller Reserve und insgesamt 2,6 Millionen Unterbeschäftigte. Als solche werden Menschen bezeichnet, »die den Wunsch nach zusätzlichen Arbeitsstunden haben und dafür auch zur Verfügung stehen«. Laut der offiziellen Statistik, die auf den Ergebnissen der Arbeitskräfteerhebung beruht, wollen 12,6 Prozent der Teilzeitbeschäftigten und vier Prozent der Vollzeitbeschäftigten gern mehr Stunden arbeiten, wobei hier die Spanne weit sein kann, bei den Vollzeitbeschäftigten geht es »meist nur um wenige Stunden«, so das Bundesamt.

Auch hier fällt eine beträchtliche Zahl von Menschen aus der Statistik heraus – die »sonstigen Nichterwerbspersonen«, die zwar einen »generellen Arbeitswunsch« haben, aber »weder eine Arbeit suchen noch kurzfristig verfügbar sind«. Das Statistische Bundesamt weist darauf hin, dass sie »nicht zum ungenutzten Arbeitskräftepotenzial der hier verwendeten international vereinbarten Definition gezählt« würden, aber »bei der Analyse nicht außer Acht gelassen werden« dürften.

Jobs werden immer stärker flexibilisiert

Laut einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen arbeiten inzwischen sieben Prozent der abhängig Beschäftigten in der Bundesrepublik »mindestens an einem Tag im Monat nicht nach festen Arbeitszeiten, sondern nur auf Abruf«, wie die »Rheinische Post« meldet. Diese Flexibilisierung betreffe vor allem niedrig Qualifizierte. Arbeit auf Abruf bedeutet, dass Beschäftigte mit den Unternehmen flexible Einsatzzeiten vereinbaren, in der Regel wird dabei eine Mindestarbeitszeit festgelegt, die auch überschritten werden kann. Aufgeschlüsselt nach Branchen zeigt sich, dass in der Industrie vier Prozent aller Beschäftigten auf Abruf arbeiten, im Dienstleistungssektor und im Handwerk sind es acht Prozent. »Arbeit auf Abruf betrifft demnach 13 Prozent der niedrig qualifizierten Beschäftigten, aber nur fünf Prozent der Hochqualifizierten«, so die Zeitung.

»Ein mit 13 Prozent auffällig hoher Anteil der teilzeitbeschäftigten Männer gibt an, auf Abruf zu arbeiten«, wird aus der Antwort der Bundesregierung zitiert. Diese Beschäftigungsform gilt als besonders belastend, die Regierung formuliert es so: »Wer Anfang und Ende seiner Arbeitszeit nur wenig beeinflussen kann, klagt häufiger über Rückenschmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfung.« Weil nichts dagegen unternommen wird, beklagen die Grünen, dass die Bundesregierung »einseitig die Flexibilitätsinteressen der Wirtschaft« vertrete und »bei den Folgen für die Beschäftigten keinerlei Problembewusstsein« zeige, so die Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke. »Bei Arbeit auf Abruf werden betriebswirtschaftliche Risiken auf die Beschäftigten verlagert.«

Immer mehr unsichere Beschäftigungsverhältnisse

Laut einer aktuellen Auswertung von Statistiken arbeitete im Jahr 2016 jeder Fünfte in einem unsicheren Beschäftigungsverhältnis. Während die Zahl der Vollzeitstellen in den vergangenen 20 Jahren um 4,5 Prozent sank, »wächst die atypische Beschäftigung auf 20,7 Prozent und stabilisiert sich seit 2013 auf hohem Niveau an den Rändern des Arbeitsmarktes«, heißt es bei der Linksfraktion.

Vergleicht man die Bewegung über einen längeren Zeitraum zeigt sich folgendes Bild: Die Zahl der Kernerwerbstätigen stieg im Zeitraum 1996 bis 2016 auf 37,1 Millionen um 11,7 Prozent. Die Zahl der abhängig Beschäftigten legte auf 33,3 Millionen um 11,9 Prozent zu. Das Normalarbeitsverhältnis macht dabei aber heute nur noch einen Anteil von 69,2 Prozent aus – ein Minus von 5,3 Prozentpunkten. Die Zahl der atypisch Beschäftigten wuchs in dem Zeitraum um 53,5 Prozent auf 7,6 Millionen. Leiharbeit verdreifachte sich, geringfügige Beschäftigung verdoppelte sich nahezu, die Teilzeitbeschäftigung mit weniger als 20 Wochenstunden stieg deutlich um 54,8 Prozent.

Gravierend auch die regionale Verteilung: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten ist auf 23,1 Millionen um 4,5 Prozent von 19956 bis 2016 gesunken – dabei legte sie im Westen aber sogar leicht um 1,3 Prozent zu, während in Ostdeutschland die Zahl sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigter um 31,6 Prozent zurückging. »Die Arbeitswelt von heute besteht zu weiten Teilen aus Leiharbeit, Mini-Jobs und Befristungen – kurz: aus Unsicherheit«, kritisiert die Linksparteiabgeordnete Jutta Krellmann. »Die gute wirtschaftliche Lage trägt nicht dazu bei, dass die prekären Ränder kleiner werden. Es hat sich eine Zone der Unsicherheit zementiert.« Dabei sei die Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt »keine zwangsläufige Entwicklung, sondern das Ergebnis neoliberaler Politik«.

Geschrieben von:

Vincent Körner

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