Wirtschaft
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Druck von ganz unten

28.08.2021
Ein altes Gebäude mit der verblassenden Aufschrift "Amt für Arbeit" steht vor einem PlattenbauFoto: Birgit Böllinger auf PixabayArbeitsamt in cool? In den 1890ern organisierten einige Gewerkschaften die Jobvermittlung selbst

Gewerkschaftliche Stellenvermittlung für prekär Beschäftigte über den Arbeitsnachweis war mal ein erfolgreiches Kampfmittel, vor allem für Frauen. Ein Vorabdruck aus OXI 8/21.

Die Dringlichkeit, mit der Arbeitslose in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oftmals eine Stelle suchten, schaffte auf dem völlig unregulierten Feld der Arbeitsvermittlung eine unübersichtliche Situation, die zunächst von gewerblichen Akteuren dominiert wurde. Die starken Abhängigkeitsverhältnisse führten »besonders leicht zu Schwindeleien, Übertheuerungen und Ausbeutung« seitens der Vermittler während des Vermittlungsvorgangs. Arbeitsverhältnisse wurden geschönt dargestellt, überhöhte Vermittlungsgebühren erpresst oder man bereicherte sich auf anderen Wegen an den verzweifelten Arbeitssuchenden. Eine rudimentäre polizeiliche Aufsicht wurde formal beschlossen, ohne dass diese Maßnahme dem Übel wirklich abgeholfen hätte. Die Unternehmer waren von diesen Zuständen nicht betroffen: Benötigten sie Arbeitskräfte, beauftragten sie entweder private gewerbliche Arbeitsnachweise* oder die der jeweiligen Innung, oder sie machten die Stellen selbst bekannt, was meist ausreichte, um ausreichend viele neue BewerberInnen zu erreichen.

Es waren dann die Lohnabhängigen selbst, die sich durch die Gründung eigener Nachweise gegen Lohndrückerei und Betrug während des Vermittlungsvorgangs verteidigten. Einige gewerkschaftsähnliche Fachvereine hatten schon in den 1880er Jahren erfolgreich Arbeitsnachweise etabliert. Früh zeigte sich, dass diese Form der Organisierung insbesondere für die weibliche Arbeiterinnen von großer Bedeutung war. So hatten der »Verein zur Wahrung der Interessen der Arbeiterinnen« und sein Ableger, der Berliner »Nordverein«, bereits in den 1880er Jahren einige Arbeitsnachweise für ihre Mitglieder aufgebaut.

Durch »scharfe Disziplin« und Beeinflussung der KollegInnen gelang es den ArbeiterInnen nicht selten, die »Alleinherrschaft über die Arbeitsvermittlung ihres Gewerbes zu erringen und dergestalt die Arbeitgeber […] in eine gewisse Abhängigkeit vom Fachverein zu versetzen«. Hier diente ein Arbeitsnachweis als »Macht- und Kampfmittel« der Lohnabhängigen »als Klasse« gegen die Unternehmer. Er wurde unter anderem zur »Versagung oder Erschwerung der Arbeitsvermittlung« benutzt, bis bessere Arbeitsbedingungen erreicht waren. Komplementär dazu beschrieben Gewerkschafter die arbeitgebernahen Arbeitsnachweise als »Maßregelungs- und Streikbrechervermittlungsinstitute«.

Neben den Arbeitsnachweisen der Beschäftigten und der Unternehmer wurden bald sogenannte »paritätische Arbeitsnachweise« geschaffen, die von beiden Parteien zu gleichen Teilen gelenkt und finanziert wurden und zum Teil unter öffentlicher Aufsicht standen.

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Ungeachtet der Ambivalenzen in der konkreten örtlichen Praxis wurde 1896 auf dem zweiten allgemeinen Kongress der Gewerkschaften Deutschlands in Halle eine gemeinsame Position zum Arbeitsnachweis beschlossen, deren Tenor lautete: »Der Arbeitsnachweis gehört in die Hände der Arbeiter.« Derselbe Kongress nahm auch eine »schroff ablehnende Stellung« gegen die vor allem in Süddeutschland aufkommenden kommunalen Arbeitsnachweise ein. Es wurde betont, dass der Arbeiter »Besitzer seiner Arbeitskraft [ist], deren Verwertung allein ihm zusteht«.

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Wenn kein gewerkschaftseigener Arbeitsnachweis bestand, so beschlossen die deutschen Gewerkschaften noch 1899, sollte auch bei kommunaler Trägerschaft die »Leitung der Vermittlung unter allen Umständen bei den Arbeitern« verbleiben. Diese Entschiedenheit wurde aber – trotz verbaler Bekenntnisse und vielversprechender Beispiele – nicht in der Fläche umgesetzt.

Die Arbeitsnachweise funktionierten als basisnahe Werkzeuge, die weibliche, prekäre Beschäftigungsformen besonders gut auffangen konnten. Sie können als syndikalistische und lokalistische Kampfform verstanden werden – und es überrascht nicht, dass der Gewerkschafter und Sozialdemokrat Hermann Mattutat rückblickend feststellte, das »Ideal« der Idee vom gewerkschaftlichen Arbeitsnachweis sei die Pariser Arbeitsbörse in ihrer syndikalistischen Form zu Beginn der 1890er Jahre gewesen. Die Arbeitskräftevermittlung wurde in dieser Perspektive als bewusst und systematisch zu nutzendes Konfliktfeld begriffen.

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1890 befand sich die Berliner Stellenvermittlung für Druckerei-HilfsarbeiterInnen in der Hand eines invaliden Buchdruckergehilfen (»Maschinenmeister Neumann«), der von den Prinzipalen damit beauftragt worden war. Die Vermittlung fand in seiner dunklen Kellerwohnung in der Treptower Straße statt. Neumanns Wohn- und Schlafzimmer diente als Wartezimmer: »Anlegerinnen und Bogenfängerinnen mussten auf einem Plättbrett Platz nehmen, das auf zwei Stühle gelegt war«, während »tüchtige Punktiererinnen«, die zu Beginn der 1890er Jahre stärker nachgefragt waren, »Anrecht« auf einen der »bevorzugten Plätze am Kellerfenster« hatten.

Bis die Arbeiterinnen den Arbeitsnachweis mittags gegen halb eins verließen, mussten die männlichen Kollegen auf der Kellertreppe warten. Wer als Mann »schon in die Gepflogenheiten eingeweiht war«, erklärte dem Vermittler Neumann, dass er nebenan in der Kneipe warten werde. »Es dauerte dann auch gar nicht lange, so war Vater N. auch dort; man spielte ›eine‹ gemütliche Partie Billard, bei der man beileibe den Alten nicht reinfallen lassen durfte«, und auf diese Weise bekam man auch bald eine Stelle zugewiesen.

Eigentlich sollte »eine von Prinzipalen und Arbeitssuchenden paritätisch zu tragende und nach Berufen gestaffelte Gebühr« entrichtet werden, doch im Kellerreich des Herrn Neumann waltete die Willkür: »ansehnliches Trinkgeld« in Höhe von »5 und mehr Mark« wurde zuweilen fällig; wer sich beschwerte, musste mit Anwendung des Hausrechts rechnen. Zudem wurden die Arbeitssuchenden oft gezwungen, Arbeit unter sehr schlechten Bedingungen anzunehmen.

»Die selbstherrliche und zeitweise ungerechte Vermittlung des Herrn Neumann brachte es mit sich, dass eine erkleckliche Anzahl Hilfsarbeiterinnen den Nachweis meiden musste; von diesen ging der Gedanke aus, einen eigenen Arbeitsnachweis zu gründen«.

Diese Hilfsarbeiterinnen beriefen eine Versammlung ein und am 5. März 1890 hielt der Buchdrucker und Gewerkschafter Philipp Schmitt dort einen Vortrag über »Die Gründung einer Organisation und Errichtung eines Arbeitsnachweises«. Diese Versammlung war zugleich der Gründungstag des »Vereins der Arbeiterinnen an Buchdruck-Schnellpressen«. Nur fünf Tage später eröffneten die Hilfsarbeiterinnen ihren Arbeitsnachweis, vermutlich in der Annenstraße 16, einem häufig genutzten Versammlungsort der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung. Die männlichen Kollegen folgten mit der Eröffnung ihres Arbeitsnachweises drei Monate später am 1. Juni 1890.

An der Gründung des Nachweises von und für Hilfsarbeiterinnen waren etwa 450 Kolleginnen beteiligt. Bereits im Juli 1890 waren genügend Ressourcen gesammelt worden, um anstelle eines Provisoriums ein Zimmer und ein Telefon für den Arbeitsnachweis anzumieten. Langjährige »Arbeitsnachweiserin« und Mitarbeiterin in anderen Funktionen, unter anderem als Kassiererin, war Ida Gottwald. Eine aktive Rolle in den ersten Organisationsversuchen spielten außerdem Mathilde Sabath, Pauline Henkel und Selma Sternhagen. Unterstützung kam außerdem von engagierten Kollegen aus den Gehilfenkreisen und »keine Versammlung verging im Laufe des ersten Jahres, ohne dass nicht aus Buchdruckerkreisen ein Referent über Arbeitsnachweise, Ausbau der Organisation, Verkürzung der Arbeitszeit usw. geredet hätte«.

Beim 1890 gegründeten verbandseigenen Arbeitsnachweis handelte es sich im Kern um eine Aufstellung der freien Hilfsarbeiterinnen-Stellen samt Arbeitsbedingungen und eine Liste der arbeitssuchenden Kolleginnen. Diese Informationen wurden von einer Kollegin gepflegt und miteinander abgeglichen. In einem Lokal bzw. einem Büro mit Telefon wurden zu festen Geschäftszeiten entsprechende Meldungen entgegengenommen. Diese Meldungen kamen in der Aufbauphase vor allem von den Kolleginnen aus den Betrieben sowie solidarischen Buchdruckergehilfen.

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Der zentrale Hebel dieser Einrichtung war, dass die Gewerkschaft innerhalb dieser Struktur entscheiden konnte, welche Arbeitskräfte wann in welche Druckerei geschickt wurden. Das war ein vorzügliches Werkzeug, um die Löhne und Arbeitsbedingungen im Sinne der Arbeitenden zu beeinflussen, denn so ließ sich gezielt Druck auf einzelne Betriebe ausüben, ohne einen aufwendigen Arbeitskampf zu riskieren. Insbesondere für die weiblichen Hilfsarbeiterinnen machte diese Einrichtung aus der Not der starken Fluktuation einen Vorteil im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen.

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Der Erfolg wurde dadurch begünstigt, dass die gewerkschaftlich organisierten Maschinenmeister zu dieser Zeit noch in hohem Maße über Entlassungen und Einstellungen des Personals entscheiden konnten und solidarisch mit »ihren« HilfsarbeiterInnen handelten. Die Initiative der Hilfsarbeiterinnen verbreitete sich rasch:

»Frauen und Mädchen und auch wohl Männer, welche noch nie einer Organisation angehört und Versammlungen besucht hatten, forderten ihre Kollegen und Kolleginnen in begeisterten Worten auf, sich der Organisation anzuschließen und zur Weiterentwicklung derselben Sorge zu tragen. […] Die Mitgliederzahl stieg bei uns in Kürze auf 1.200, mit deren Einnahme wir einen eigenen Arbeitsnachweis – die Verwalterin desselben erhielt einen wöchentlichen Lohn von 15 Mark – sehr gut erhalten konnten.«

Doch »den Prinzipalen war die neue Organisation ein Dorn im Auge« und sie steuerten gegen, indem sie den Gehilfen, namentlich den Maschinenmeistern, »eine Prämie von ansehnlichen 10 Mark für das Anlernen neuen Hilfspersonals« versprachen. Dieser erste Versuch, die Organisierung der HilfsarbeiterInnen durch Verbreiterung des Arbeitskräfteangebots zu durchkreuzen, schlug allerdings fehl. Zum einen waren auch die Buchdrucker und Maschinenmeister gewerkschaftlich organisiert und hielten sich bei der Annahme des Angebotes zurück; zum anderen waren die Vereine der HilfsarbeiterInnen Fluktuation gewöhnt und konnten neues Personal durchaus schnell für ihre Ziele gewinnen.

Der nächste Versuch der Unternehmer bestand im Aufbau eines eigenen »Centralarbeitsnachweises« im Anschluss an die empfindliche Niederlage der Gewerkschaften in der Streikbewegung 1891/1892 (siehe Kapitel 2.3). Die mit schnellem Erfolg aufgebauten Vereine für männliche und weibliche HilfsarbeiterInnen waren zusammengebrochen:

»Von 1.600 Mitgliedern, die an der ersten Bewegung teilnahmen, wurden nach Beendigung noch glücklich 400 Übriggebliebene gezählt, die dann den Grundstock zum Wiederaufbau der Organisation bildeten«.

Dieser Wiederaufbau, in dessen Rahmen sich auch die spätere Verbandsvorsitzende Paula Thiede erstmals einbrachte, wurde durch den neuen »Centralarbeitsnachweis« für Buchdruckereien erheblich erschwert. Dieser war seinerseits Teil des Berliner »Zentral-Vereins für Arbeitsnachweis«. Die Buchdrucker-Prinzipale waren am Zentral-Verein »pekuniär hervorragend beteiligt«.

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Doch letztlich erwiesen sich die Disziplin der HilfsarbeiterInnen und die Solidarität vieler Gehilfen im jahrelangen Kampf um den Arbeitsnachweis als stärker: Nach der erfolgreichen Neunstundenbewegung 1896 musste der Nachweis von den Prinzipalen anerkannt werden. Gerade in diesem Kampf im Februar 1896 hatte der Arbeitsnachweis nochmals seine Wirkung bewiesen. Die Berliner Forderungen der Vereine der Berliner HilfsarbeiterInnen waren zunächst abgelehnt worden und Paula Thiede erinnerte sich später:

»Nun begann ein Kampf von Druckerei zu Druckerei, bewilligte ein Prinzipal, dann gut, lehnte er ab, dann war keine Stunde später das gesamte Hilfspersonal auf dem Arbeitsnachweis […] Fast fünf Wochen wurde diese Kampfesform mit wechselndem Glück beibehalten, und bei Beendigung des Kampfes konnten die Berliner Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen feststellen, dass die Löhne von 1,50 bis 3 Mk pro Woche gestiegen waren, allerdings noch nicht in allen Betrieben, diese aber wurden in der nächsten Zeit bei besserem Geschäftsgang herangezogen, was durch geschickte Ausnutzung des Arbeitsnachweises auch gelungen ist. Der Arbeitsnachweis wurde auch in der Folge der Lohnregulator in Berlin.«

In diesem Arbeitskampf ist also eine ganz andere gewerkschaftliche Taktik zu beobachten als üblich: Es wurde nicht flächendeckend gestreikt, sondern die Betriebe nach und nach zum Einlenken gezwungen. Dazu wurde eine Forderung aufgestellt und Unternehmen, die sich weigerten, ihr nachzukommen, wurden sofort und voll bestreikt, indem die HilfsarbeiterInnen fristlos kündigten. Dies war vor allem deshalb möglich, weil der Arbeitsnachweis in Gewerkschaftshand garantierte, dass die Lohnausfälle nicht lang anhielten. Die verbandseigene Arbeitslosenversicherung übernahm in diesem Modell die Funktion des Streikgeldes. Zusätzlich verminderte die Kontrolle der Arbeitsvermittlung das Risiko des Streikbruchs, indem neue Arbeitskräfte verweigert wurden.

Die Nutzung des Arbeitsnachweises geschah in der Auseinandersetzung im Februar 1896 in verdichteter Form, blieb aber fast ein Jahrzehnt das Vorgehen der Wahl, um Konflikte mit den Prinzipalen auszutragen und zu gewinnen. Die Möglichkeit, mithilfe von Kündigungen und Arbeitsnachweis Lohnkonflikte quantitativ und zeitlich fast stufenlos zu skalieren, drückt sich in der von Thiede genutzten Bezeichnung »Lohnregulator« aus.

Durch dieses Vorgehen gelang es den Berliner Frauen, die als Hilfsarbeiterinnen im Buch- und Steindruck tätig waren, ihre Löhne kontinuierlich zu heben und bald verdienten sie mehr als viele männliche Kollegen in anderen Städten. Die Anerkennung des Arbeitsnachweises 1896 in Berlin setzte Energien frei, die in der Folge die reichsweite Vernetzung beschleunigten. Der Vorschlag, »eine Zentralisation zu schaffen«, wurde nach Beendigung des Berliner Streiks im Buchdruckgewerbe von 1896 vermehrt diskutiert und im Mai 1898 umgesetzt.

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um Auszüge aus dem dritten Kapitel des Buchs »Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890-1914) Die Strategien der Buchdruckerei-HilfsarbeiterInnen um Paula Thiede«, das soeben im Transkript-Verlag erschienen ist. Der Historiker Uwe Fuhrmann rekonstruiert anhand zahlreicher Originalquellen einen bisher kaum erforschten Teil der Gewerkschaftsgeschichte, aus dem sich heute einiges lernen ließe, was Organizing und Kampffähigkeit angeht, gerade für den wachsenden Bereich der atypisch und prekär Beschäftigten. Die im Originaltext vorhandenen Quellennachweise und Anmerkungen mussten hier aus Platzgründen entfallen, Auslassungen sind mit (…) gekennzeichnet.

*Der Begriff »Arbeitsnachweis« kam in den 1860er Jahren auf und bezeichnete einen Ort, an dem Stellenvermittlungen stattfinden.

Geschrieben von:

Uwe Fuhrmann

Historiker

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