Wirtschaft
anders denken.

Arbeitsschutz links liegen lassen?

07.09.2017
Foto: James Baker / flickr CC BY-2.0Die ideale Arbeitnehmerin macht in ihrer Mittagspause Yoga und ernährt sich selbstverständlich gesund.

Das betriebliche Gesundheitsmanagement kümmert sich zu wenig um die Arbeitsbedingungen – Krankheit wird als persönliches Problem behandelt.

Wer daran glaubt, seines Glückes Schmied zu sein, dem kann auch beigebracht werden, dass er selbst für den Zustand seiner Gesundheit verantwortlich ist. Zu diesem Standpunkt neigt das moderne betriebliche Gesundheitsmanagement.

Dem Arbeitsschutz, für den es seit langem ein eigenes Gesetz gibt, ist 2015 ein weiteres Gesetz für das betriebliche Gesundheitsmanagement zur Seite gestellt worden. Das Präventionsgesetz  soll »die Gesundheitsförderung direkt im Lebensumfeld« stärken. Paradoxerweise zeigt sich in der Praxis immer öfter, dass den Perspektivenwechsel hin zu mehr Vorsorge eine eigenartige Schlagseite zum Individuum begleitet. Den Beschäftigten werden jetzt nicht nur ihre Arbeitsleistung, sondern auch noch ihre Gesundheit zur persönlichen Aufgabe gemacht, auf die sie mit stetiger Selbstoptimierung antworten sollen.

Der herkömmliche Arbeitsschutz fragt zuerst nach den Arbeitsbedingungen und nach deren Gefahrenquellen für die Gesundheit der Beschäftigten. Wie sehen der Arbeitsplatz und seine Umgebung aus? Wie steht es um die Arbeitsmittel? Dabei sind oft notwendige Verbesserungen dem Rotstift zum Opfer gefallen. Akute und chronische Gesundheitsschäden wurden ignoriert oder aus Kostengründen in Kauf genommen. Trotzdem: Alles in allem haben in Deutschland die Tarifvertragsparteien und der Gesetzgeber den betrieblichen Gesundheitsschutz voran gebracht.

Immer weniger krank, dafür immer ernster krank?

Inzwischen mehren sich die Anzeichen für problematische Entwicklungen. Beginnen wir mit den Zahlen des Statistischen Bundesamtes: »2015 waren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland durchschnittlich 10 Arbeitstage krank gemeldet. Im Vorjahr lag dieser Wert noch bei 9,4 Arbeitstagen. Seit dem Jahr 2008 ist wieder ein moderater Anstieg der Krankheitstage zu beobachten. 2007 gab es die niedrigsten Fehlzeiten seit 1991. Damals lag die durchschnittliche Zahl der Krankentage noch bei 12,8 Tagen, bis zum Jahr 2007 sank sie auf 8,1. Dies ist ein Rückgang um 37 Prozent.«

Also eine Erfolgsgeschichte von Prävention und betrieblichem Gesundheitsschutz? Teilweise, aber keineswegs ausschließlich – denn es ist gut belegt, dass die mit konjunkturellen Umbrüchen verbundene Angst um den Arbeitsplatzverlust dazu beiträgt, sich seltener krank zu melden. Dieser »Präsentismus« macht also nicht gesünder, sondern führt nur dazu, dass Betroffene später ernster krank werden.

Und die Daten gelten uneingeschränkt wohl auch nur für das klassische Regelarbeitsverhältnis, kaum jedoch für prekäre Beschäftigung. Noch weniger gelten sie für alle Berufe: Bereits 2011 beobachtete Bernhard Eibeck, dass beispielsweise Erzieherinnen und Kinderpflegerinnen in Deutschland im Durchschnitt mit 59 Jahren in den Ruhestand gehen. »Ein Viertel davon gibt als Grund für den vorzeitigen Ruhestand gesundheitliche Gründe an. Diejenigen, die wegen Krankheit den Beruf aufgeben, gehen bereits mit 54 Jahren in Rente.«

Und schließlich gibt es noch die Statistik in der Statistik. Für den Verlauf psychischer Erkrankungen ergibt sich dieses Bild: »Trotz rückläufiger Krankenstände in den letzten Jahren wächst der relative Anteil psychischer Erkrankungen am Arbeitsunfähigkeitsgeschehen. Er kletterte in den vergangenen 40 Jahren von zwei Prozent auf 15,1 Prozent. Die durch psychische Krankheiten ausgelösten Krankheitstage haben sich in diesem Zeitraum verfünffacht. Während psychische Erkrankungen vor 20 Jahren noch nahezu bedeutungslos waren, sind sie heute dritthäufigste Diagnosegruppe bei Krankschreibung bzw. Arbeitsunfähigkeit«, steht im BKK Gesundheitsreport 2016.

Die Zunahme der psychischen Erkrankungen ist ein Hinweis darauf, wie sehr Beschäftigte Belastungen im Arbeitsprozess zu ihren eigenen machen, wie sehr die Arbeitssituation – Stichwort Eigenverantwortung – personalisiert wird. Das Kind mit dem Bade auszuschütten, also nur noch auf die individuelle Präventionsseite zu schauen, fördert und verschärft diese Entwicklung, weil es die Bedeutung des persönlichen Verhaltens in den Mittelpunkt rückt und individuelle Gesundungs-Strategien überbetont.

Am Beispiel der (bisherigen?) deutschen Industrie-Ikone Daimler AG liefert Jörg Neuheiser mit seiner Analyse zur Thematisierung von »Stress« in der Daimler-Werkpresse einen Beleg: »Erst 1989 wurde Stress zu einem breiteren Thema. ›Stress! Was tun?‹, fragte der Werksarzt und empfahl eine ›persönliche Streßanalyse‹ sowie körperliche Aktivität, eine gezielte Tages- und Wochenplanung sowie volle Konzentration auf die gerade zu erledigende Aufgabe. Bis weit in die 1980er Jahre hinein ließ sich Stress als Thema für die Konzern-Journalisten aber weitgehend vermeiden; wenn der Begriff überhaupt benutzt wurde, dann im Kontext von individueller Vorsorge oder der mangelhaften Selbststeuerung einzelner Mitarbeiter bis hin zum Alkoholismus.«

Verhalten oder Verhältnisse verändern?

Was bedeutet es praktisch, die Verantwortung in Richtung Individuum zu verschieben? Nehmen wir das Beispiel Gewaltmanagement in Altenheimen, also physische oder psychische Gewalt gegenüber Pflegepersonal beispielsweise durch verwirrte BewohnerInnen. Oft wird ein Deeskalationstraining für ausgewählte MitarbeiterInnen gebucht, die entsprechende Kompetenzen an die anderen KollegInnen weitergeben sollen. Passiert dann konkret etwas – beispielsweise wird im Nachtdienst eine Kollegin an der steilen Treppe gestoßen und bricht sich ein Bein –, heißt es schnell, die Deeskalations-Kompetenzen der MitarbeiterInnen seien mangelhaft oder die Trainingsergebnisse seien mangelhaft vermittelt worden.

Nachhaltiger wäre in diesem Fall aber die Diskussion über folgende Fragen: Wie sieht die Personaldecke generell aus? Werden die BewohnerInnen etwa auch deswegen aggressiv, weil Personalengpässe zu mangelhafter Betreuung und suboptimaler Ansprache führen? Unterstützt eine Einrichtung MitarbeiterInnen bei der Durchsetzung möglicher zivil- oder strafrechtlicher Ansprüche oder werden die MitarbeiterInnen dazu ermuntert, das Thema »unter der Decke zuhalten«? Haben Gefährdungsbeurteilungen und Begehungen zu baulichen Veränderungen geführt (Beleuchtung, Sturzsicherung etc.)? Ist »Gewalt« in der Einrichtung überhaupt ein Thema? Welche Möglichkeiten zur Supervision gibt es?

In Wahrheit versteckt sich hinter den Appellen an die individuellen Gesundungsstrategien also ein alles andere als triviales ethisches Kernproblem für die moderne Ökonomie der Gesundheit. Was dürfen wir dem Individuum im Interesse der öffentlichen Gesundheit abverlangen? Denn ebenso wie die genetische Beratung seit langem bereits ein gut begründetes »Recht auf Nichtwissen« kennt, sollten auch die Mitwirkungsannahmen mancher betrieblicher Gesundheitsprogramme kritisch diskutiert werden.

Natürlich nicht, weil gesundes Verhalten schlecht wäre, sondern weil eine implizite Gesundheitspflicht zu Ende gedacht Konsequenzen hätte, die man nicht wirklich wollen möchte! Es braucht also klare Spielregeln, wie Frank Cavico und Bahaudin Mujtaba in ihrem Gedankenanstoß zur Ethik des betrieblichen Gesundheits-Managements unterstrichen haben.

Wo wäre die Grenze zu ziehen? Erst beim Bonus für Verhütung, um Geburten während besonders arbeitsreicher Zeiten (beispielsweise die sogenannte »busy season« in Wirtschaftsprüfungsunternehmen) zu verschieben? Oder schon wenn Gesundheitsprämien bei nachgewiesenem Fastfoodkonsum oder regelmäßiger Praxis von Risikosportarten verwehrt werden?

Und wie sind die Fälle zu bewerten, wenn die ethisch problematischen Interventionen klug und psychologisch geschickt mit »nudging«, also kleinen »Anstupsern« begleitet werden, die geeignet sind, mich dabei zu unterstützen, »das Richtige« zu tun? Wohlgemerkt: »Nudging« wirkt, etwa bei der Raucherentwöhnung. Auch Angela Merkel hat 2014 eine nudging-Projektgruppe im Bundeskanzleramt ins Leben rufen lassen, damit die Politik beim Volk besser ankommt.

Ich bin nicht gegen betriebliches Gesundheitsmanagement. Im Gegenteil, ich begleite Unternehmen dabei, ihre Organisation gesundheitsförderlicher und ihre Führung gesundheitsorientiert zu gestalten. Aber damit Prävention in Betrieben wirken kann, bedarf es einiger Präzisierungen. Erst mit einem systematischen Vorrang der Verhältnisprävention, also der vorsorglichen Gestaltung der Verhältnisse, macht eine Arbeit an den individuellen Spielregeln, also die Verhaltensprävention in ihren vielen Spielarten, überhaupt Sinn.

Dr. Pantaleon Fassbender arbeitet als Managementberater für Unternehmenskultur und betriebliches Gesundheitsmanagement in eigener Praxis. Er lebt in der Nähe von Rostock.

Literatur

  • Cavico, F.J. & Mujtaba, B.G. (2013). Health and Wellness Policy Ethics. International Journal of Health Policy and Management 1 (2): 111-113.
  • Hofer, H.G. (2014). Labor, Klinik, Gesellschaft. Stress und die westdeutsche Universitätsmedizin (1950–1980). Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 11 (2014): 382-405.
  • Neuheiser, J. (2014). Leistungsdruck! Hetze! Stress? Daimler-Werkszeitungen und die auffällige Unauffälligkeit des Stress-Begriffs in der betrieblichen Kommunikation der 1970er- und 1980er-Jahre. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 11 (2014): 462-471.
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