Wirtschaft
anders denken.

Mehr Zeit für Alle!

20.07.2023
Weibliche Angestellte streiken bei Woolworth für eine Arbeitszeitverkürzung auf 40 Stunden die Woche, 1937 Photographischer DruckFoto: Library of CongressDie Arbeitszeitverkürzung hin zur 40-Stunden Woche gehört zu den größten Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung des 20. Jhd. Doch vieles spricht dafür höhere Ansprüche zu stellen.

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Gute Gründe, die Lohnarbeit zu reduzieren, gibt es viele. Doch nur wenige können sich das gegenwärtig auch leisten.

In den politisch düsteren Zeiten, in denen wir leben, sind gute Nachrichten selten und erregen viel Aufmerksamkeit. Dies gilt etwa für die aus den Vereinigten Staaten stammende Diskussion über »Quiet Quitting«, also über junge Menschen, die (anders als der Begriff es nahelegt) nicht etwa »stillschweigend kündigen«, sondern vielmehr ihre Arbeitszeiten reduzieren, um mehr Zeit für andere Aspekte des Lebens zu haben. Während manche Beobachter:innen dieses Phänomen als Ausdruck eines Zerfalls von Arbeitstugend und -disziplin geißeln und nicht davor zurückschrecken, die wohlbekannten (und seit dem Römischen Reich regelmäßig wiederkehrenden) Beschwerden über eine junge, faule Generation vorzubringen, die sich auf dem von »uns« erarbeiteten Wohlstand ausruht, schöpfen andere neue Hoffnung: Sind wir nun endlich auf jenen »Wegen ins Paradies« angelangt, die André Gorz in den 1980er Jahren zu erkennen glaubte? Auf dem Weg in eine Zukunft, in der Menschen weniger Zeit mit Lohnarbeit verbringen müssen, weil, wie Gorz damals betonte, aufgrund technischer Fortschritte immer mehr gesellschaftlicher Reichtum in immer weniger (Arbeits-)Zeit erzeugt werden kann? Treten wir aktuell angesichts des viel diskutierten Fachkräftemangels sogar in ein goldenes Zeitalter der Lohnarbeit ein, weil Unternehmen auf der verzweifelten Suche nach qualifiziertem Personal bereit sind, sich nicht nur, aber gerade auch in Sachen Arbeitszeit die Bedingungen von potenziellen Beschäftigten diktieren zu lassen? Leider spricht einiges gegen eine solche Perspektive.

Arbeitszeitverkürzung als Befreiung
Dies ist umso schmerzlicher, als Arbeitszeitverkürzung durchaus einen wichtigen Schritt in eine menschlichere (Arbeits-)Welt darstellen könnte. Immerhin ist Lohnarbeit bzw. »abhängige Beschäftigung« keine angenehme Sache. Wer nicht genug Besitz hat, um den eigenen Lebensunterhalt anders zu decken, muss seine oder ihre Arbeitskraft verkaufen – das trifft nach vielen Jahrzehnten der kontinuierlichen Steigerung des Anteils von abhängig Beschäftigten an allen Erwerbstätigen inzwischen auf etwa 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland zu. Damit begibt man sich tatsächlich in Abhängigkeit von einem Unternehmen, das durch die Zahlung von Lohn oder Gehalt den Anspruch erwirbt, für einen bestimmten Zeitraum über die fremde Arbeitskraft zu bestimmen, also das Direktionsrecht auszuüben. Die Waren, die man dabei herstellt, oder die Dienstleistungen, die man erbringt, werden zu Geld gemacht, das jedoch nur zum Teil den Arbeitenden zukommt. Zugleich verbringt man einen großen Teil des Lebens in einem Bereich, der ausdrücklich nicht nach demokratischen Prinzipien funktioniert: in einem Unternehmen bestimmt nicht die große Zahl, sondern der Eigentümer bzw. die Eigentümerin, was unter welchen Bedingungen hergestellt wird. Die Aussicht, Arbeitszeiten zu reduzieren, heißt deshalb: weniger Zeit in Fremdbestimmung und Ausbeutung und stattdessen mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen. Dieser Slogan zierte Mitte der 1980er Jahre jene Transparente mit der aufgehenden Sonne, die bei den großen Demonstrationen von IG Metall oder IG Medien (die damals noch IG Druck und Papier hieß) für die 35-Stunden-Woche durch zahlreiche Städte der BRD getragen wurden. Arbeitszeitverkürzung – das stand für die Hoffnung auf teilweise Befreiung von der (Erwerbs-)Arbeit, die mit einer schrittweisen Befreiung in der (Erwerbs-)Arbeit einhergehen sollte. Sind die jungen Leute, die heutzutage in Bewerbungsgesprächen selbstbewusst eine reduzierte Arbeitszeit fordern, also die Erb:innen der großen Kämpfe der 1980er Jahre – oder gar Pionier:innen einer neuen politischen Bewegung zur Humanisierung der Arbeitswelt?

Arbeitszeitverkürzung als Privileg
Bei den Männern und Frauen, die sich bewusst gegen Vollzeitarbeit in fachlich anspruchsvollen Jobs entscheiden (denn auf sie konzentrieren sich Debatten über »Quiet Quitting« oder eine »Generation Z«, die angeblich das Privatleben höher gewichtet als das berufliche Fortkommen), handelt es sich in aller Regel um relativ hoch qualifizierte Beschäftigte in Berufen, die aktuell unter Fachkräftemangel leiden. Diese Berufseinsteiger:innen können auch in Teilzeit ein existenzsicherndes Einkommen erwarten, zumal ihnen oftmals höhere Stundenlöhne angeboten
werden als Kolleg:innen, die bereits länger im Unternehmen arbeiten. Ihnen steht die wachsende Gruppe der Bezieher:innen von Niedriglöhnen (aktuell etwa jede:r vierte Erwerbstätige) gegenüber, für die selbst eine Vollzeitstelle mit »Armut trotz Arbeit« einhergeht. Etwa vier Millionen Menschen hatten (laut dem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit) im Jahr 2021 sogar mehrere Jobs. Statt Arbeitszeitverkürzung praktizieren sie Arbeitszeitverlängerung, um überhaupt am Ende des Monats die Miete und Stromrechnung zahlen zu können. Länger statt kürzer zu arbeiten, ist, wenn man Umfragen zu »gewünschten Arbeitszeiten« Glauben schenken darf, auch der Wunsch vieler Frauen in Teilzeit- oder geringfügiger Beschäftigung, die jedoch in Branchen wie dem Einzelhandel oder der Gebäudereinigung kaum Stellen mit höherem Stundenvolumen finden. Arbeitszeitverkürzung ist deshalb keine Forderung, die »für alle« Vorteile bringen würde. Während sie für Vollzeitbeschäftigte, die regelmäßig Überstunden machen, ein großer Fortschritt wäre, bräuchten die strukturell Unterbeschäftigten, darunter sehr viele Frauen, eigentlich eine Ausweitung ihrer Arbeitszeiten, die angesichts der von vielen Unternehmen praktizierten Zersplitterung von Vollzeitstellen in Teilzeit- und Minijobs schwer zu erreichen ist.

Arbeitszeitverkürzung als Selbstverteidigung
Selbst bei denjenigen, die tatsächlich »freiwillig« ihre Arbeitszeit reduzieren, ist allerdings oft schwer zu entscheiden, ob es sich um die Nutzung eines Privilegs in Befreiungsabsicht handelt oder doch eher um einen Akt der Selbstverteidigung. In vielen Teilen der Arbeitswelt ist der Druck auf Beschäftigte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewachsen. Immer mehr Aufgaben sollen mit immer weniger Personal erledigt werden. Daher sind Beschäftigte mit der Anforderung konfrontiert, sich gerade auch in Bezug auf Arbeitszeiten möglichst flexibel auf ein dauerhaft zu hohes Arbeitsvolumen und auf stetig wechselnden Arbeitsanfall einzustellen. Kinderbetreuung, Hobbys, Zeit für Erholung, Weiterbildung oder die Entwicklung neuer Interessen – all das steht für viele Beschäftigte unter dem Vorbehalt: »wenn es der Job erlaubt«. Im Index »Gute Arbeit« des Deutschen Gewerkschaftsbundes gaben im Jahr 2017 über 40 Prozent der Befragten an, sie seien »sehr häufig oder oft nach der Arbeit zu erschöpft, um sich um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern«. Am Beispiel der Pflege lässt sich studieren, was dies bedeutet: Es fehlt an qualifizierten Beschäftigten, weil die Arbeitsbedingungen viele Fachkräfte dazu bringen, vorzeitig aus dem Beruf auszuscheiden oder auf eigene Kosten die Arbeitszeit zu reduzieren. Anders lassen sich die durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens verschärften körperlichen und psychischen Belastungen offenbar auf Dauer nicht aushalten. Damit steigt der Druck auf die verbliebenen Beschäftigten weiter, die Arbeitsverdichtung schreitet fort, der Job wird noch unattraktiver – ein Teufelskreis. Wenn sich junge Menschen, die diese Option haben, tatsächlich gegen Vollzeitarbeit entscheiden, dürfte das also in vielen Fällen weniger mit Faulheit oder einem hedonistischen Lebensstil als mit dem beeindruckenden Anschauungsmaterial müder, ausgelaugter und gehetzter Kolleg:innen zu tun haben, denen man in weiten Teilen der Arbeitswelt begegnet. Wer es sich irgend leisten kann, mag zu Recht sagen: So will ich nicht enden.

Arbeitszeitverkürzung als gesellschaftspolitisches Projekt
»Wer sich Arbeitszeitverkürzung leisten kann« – diese Formulierung verweist darauf, dass die Entscheidung gegen Vollzeitarbeit allzu oft eine individuelle oder bestenfalls im Kontext von Partnerschaft oder Familie abgestimmte Angelegenheit ist, für die man eben notgedrungen Opfer in Form von reduziertem Einkommen und höherer Arbeitsintensität in Kauf nimmt. Als 1984 »mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen« gefordert wurde, war damit hingegen ein gesellschaftspolitisches Reformprojekt verbunden. Durch Arbeitszeitverkürzung sollte gesellschaftliche Zeit anders verteilt werden – zwischen denjenigen, die Arbeitsplätze hatten, und denjenigen, die im Zeichen von Massenarbeitslosigkeit ihre Jobs verloren, aber auch zwischen Männern und Frauen, Jungen und Alten. Es ging nicht um eine individuelle Notbremse, sondern darum, das gesellschaftliche Zusammenleben auf neue Weise zu organisieren. Zudem beschränkten sich die Forderungen nicht auf die Umverteilung von Zeit zwischen Arbeitenden – vielmehr gingen sehr viele Menschen für eine Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum auf die Straße, indem sie Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich verlangten. Und weil schon damals bekannt war, dass Arbeitszeitverkürzung in aller Regel zu Arbeitsverdichtung führt, stand die Forderung nach Personalausgleich weit oben auf der gewerkschaftlichen Agenda.
Und heute? Arbeitszeitverkürzung ist derzeit in erster Linie ein individuelles Projekt von (meist) jüngeren Menschen, die sich mehr freie Zeit leisten wollen und können. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl noch wächst, solange der Fachkräftemangel in manchen Branchen anhält. Vor der Pandemie gab es jedoch erste Initiativen, die Entscheidung zwischen
Geld und mehr freier Zeit zum Gegenstand kollektiver Regulierung zu machen. Die Gewerkschaft IG Metall setzte (ähnlich wie etwa die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft) um 2018 einen Tarifvertrag durch, der es bestimmten Beschäftigtengruppen (konkret: den Eltern kleiner Kinder, Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen und Schichtarbeiter:innen) erlaubte, selbst darüber zu entscheiden, ob sie die tariflich verhandelte Lohnerhöhung ausgezahlt bekommen oder sie in mehr freie Zeit umwandeln wollten. Das war ein wichtiger Einschnitt: Tatsächliche Wahlmöglichkeiten von Beschäftigten in Bezug auf die eigene Arbeitszeit – nicht abhängig davon, was man gegenüber den eigenen Vorgesetzten individuell heraushandeln kann, sondern auf Grundlage von kollektiv festgeschriebenen Rechtsansprüchen, die man gemeinsam in einem sehr lebhaften Arbeitskampf erstritten hatte. Während 2018 kein Lohn- oder Personalausgleich vorgesehen war, wird aktuell für die nächste Tarifrunde der IG Metall die Einführung einer Vier-Tage-Woche mit (Teil-)Lohnausgleich diskutiert – man wird sehen, inwiefern dies durchsetzbar ist. Derlei tarifpolitische Initiativen sind ein immenser Fortschritt gegenüber der individuellen Entscheidung, zugunsten von mehr Lebensqualität auf einen Teil des möglichen Gehaltes zu verzichten. Von einer breiten gesellschaftspolitischen Bewegung für eine Umverteilung von gesellschaftlicher Zeit und gesellschaftlichem Reichtum sind wir hingegen noch weit entfernt. Ankerpunkt für eine solche Bewegung könnte die Forderung nach kurzer Vollzeit sein: etwa nach 25 Wochenstunden für alle, verbunden mit Lohn- und Personalausgleich. Dies wäre eine Forderung, auf die sich Arbeitszeitumfragen zufolge der überarbeitete IT-Spezialist mit der Kollegin an der Supermarktkasse einigen könnte. Sie würde Arbeitende zusammenbringen, die sonst wenig verbindet, würde gemeinsame Interessen von Beschäftigen in den Vordergrund stellen, anstatt »Arbeitszeiten, die zum Leben passen« weiterhin als Privileg der Jungen und gut Qualifizierten zu behandeln. Sie würde sicherlich hitzige Diskussionen auslösen – würde damit doch der Logik einer Arbeitswelt, die auf dem Kampf aller gegen alle beruht und in der dieser Kampf nicht zuletzt in der Währung Zeit geführt wird, eine humanere und solidarische Alternative entgegengesetzt. Man darf erwarten, dass Arbeitszeitverkürzung in diesem Sinne zum Gegenstand harter Auseinandersetzungen werden würde. Goldene Zeiten brechen nicht einfach an, sie folgen nicht automatisch aus Arbeitsmarktkonjunkturen. Sie müssen erstritten werden.

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Georg-August Universität Göttingen

Geschrieben von:

Nicole Mayer-Ahuja

Arbeitssoziologin

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