Wirtschaft
anders denken.

Armutsbericht, Armutszeugnis

01.06.2021
Eine Bronzeskulptur zeigt Arbeitslose in der Schlange vorm ArbeitsamtBild von PublicDomainPictures auf PixabayArbeitslose in der Schlange vor dem Arbeitsamt um 1930

Obwohl sich die Gesellschaft weiter polarisiert, klopft sich die Bundesregierung zum aktuellen Armutsbericht selbst auf die Schulter.

Deutschland sei keine »Abstiegsgesellschaft«, kommentierte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im Mai stolz den 6. Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung im Mai 2021 verabschiedet hat. Das hörte sich ein bisschen so an, als habe er sich stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, wie man den ganz schön düsteren Bericht doch noch irgendwie in ein gutes Licht rücken kann. Keine Abstiegsgesellschaft – immerhin. Dafür zeigt die Analyse eindrücklich, dass die gesellschaftliche Mitte schrumpft und die Ränder wachsen, kurz: dass die Gesellschaft sich weiter polarisiert. Der Armutsbericht schlüsselt die Bevölkerung anhand acht verschiedener »Lebenslagen« auf, die unterste »Armut« und die oberste »Wohlhabenheit«. Beide Pole seien seit 1984 »von Anteilswerten von jeweils 4 Prozent auf 11 bzw. 9,1 Prozent gestiegen«, heißt es in einem Passus eines Entwurfs des Berichts, der in der vom Kabinett gebilligten Endfassung nicht mehr vorkommt.
Auch stagniere die soziale Mobilität der ärmeren Gesellschaftsschichten, wie seit 2000, weiter auf einem niedrigen Niveau. Zwar gebe es immer wieder Menschen, die den Aufstieg aus mittleren in höhere Einkommensgruppen schaffen; die soziale Lage von Menschen mit niedrigen Einkommen habe sich aber verfestigt. Die Regierungsanalyse liefert auch Indizien dafür, dass die Corona-Pandemie diesen Trend weiter verschärft hat. Eine zusätzliche Belastung erfuhren demnach in erster Linie Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen; während in der Krise Menschen profitierten, die schon vor der Pandemie gut verdienten.

Erstmal kontraintuitiv scheint es bei all diesen schlechten Nachrichten, dass der Armutsbericht von einigen Stellen sogar positiv interpretiert wurde. So sprach das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) von einem Rückgang der Einkommensungleichheit während der Corona-Pandemie. Das könne damit erklärt werden, »dass vor allem Selbstständige, die eher in der oberen Hälfte der Einkommensverteilung zu finden sind, an Einkommen einbüßen.« Damit dürften insbesondere Hoteliers, Einzelhändler, Kulturschaffende und Selbstständige in der Tourismusbranche gemeint sein, die aufgrund der Corona-Beschränkungen besonders belastet waren. »In der Corona-Pandemie wirken sich die rückläufigen Einkommen von Selbstständigen besonders auf die Verteilung aus«, sagt Markus Grabka vom DIW. »Einkommen bei Personen aus der unteren Hälfte der Verteilung bleiben im Durchschnitt stabil.« Macht die Pandemie Deutschland in Wirklichkeit also zu einer gerechteren Gesellschaft? Vermutlich nicht.
Denn Vieles deutet darauf hin, dass diese Entwicklung sich auf lange Sicht wieder umkehren wird: Obwohl gutverdienende Selbstständige absolut besonders stark unter der Pandemie litten, dürften es nach der Krise langfristig eher Geringverdienende sein, die eine noch größere Verschärfung ihrer ökonomischen Situation erfahren. Grund dafür ist zum Beispiel das Homeoffice, welches erstens vor einer Corona-Infektion schützt und Eltern zweitens erlaubt, die Kinder im Schulalltag effektiver zu unterstützen: »Schon das Gesundheitsrisiko in der Pandemie ist ungleich verteilt und trifft die Armen besonders stark«, so Soziologin Bettina Kohlrausch. »Auch die Bildungsungleichheiten verschärfen sich.« Die Nachteile, die Menschen in den unteren Einkommensgruppen während der Pandemie haben, könnten die Ungleichheiten in der Verteilung der Einkommen also langfristig sogar zementieren. Ökonomin Stefanie Stantcheva fügt hinzu, dass es Menschen am unteren Ende der Einkommensverteilung ohnehin schwerer hätten, bei Jobverlust wieder neu angestellt zu werden.
Einen Vorgeschmack auf die möglichen Folgen der Krise auf die Einkommensverteilung bietet auch eine Gruppe von Forschern der Universitäten Glasgow und Lancaster, die die Vermögensentwicklung der Haushalte des Vereinigten Königreichs infolge der durch die Pandemie verursachten Wirtschaftskrise simulierten. Das Fazit: Die ärmsten Haushalte würden selbst bei einer vollständigen Erholung der Wirtschaft bis 2024 an Vermögen einbüßen. Finanziell stärkere Haushalte gingen dagegen mit einem größeren Vermögen aus der Rezession, weil sie weniger von Arbeitslosigkeit betroffen seien und lediglich vorübergehend ihren Konsum einschränken müssten.

Kritik am Armuts- und Reichtumsbericht gab es an der Art und Weise, wie die Armutsquote berechnet wird. »Armut« wird in dem Bericht anhand der Parameter Einkommen, Vermögen, Wohnungsgröße und Erwerbsstatus gemessen. Die Verschuldung der deutschen Haushalte wird aber weitestgehend ausgeklammert. Teile der Einkommen, die eingerechnet wurden, könnten den Haushalten real gar nicht zur Verfügung stehen – weil sie zur Schuldentilgung aufgewendet werden müssen. Das zu berücksichtigen wäre eigentlich gerade während der Pandemie wichtig, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung schon im März nahegelegt hat: »Eine finanzielle Überforderung vieler Menschen ist bereits jetzt nachweisbar und wird in Zukunft voraussichtlich für eine erhebliche Anzahl an Menschen verschärft.« Gefährdet vor Überschuldung seien demnach besonders »prekär Beschäftigte, Selbstständige und Menschen in Ausbildung.« Der Paritätische kritisiert darüber hinaus, dass in der Berechnung der Armutsquote nur Privathaushalte einbezogen wurden, nicht aber »Wohnungslose oder Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften und Pflegeeinrichtungen leben.« Ob die ermittelte Armutsquote von 11 Prozent das tatsächliche Ausmaß der Armut also wirklich abbildet? Zweifel sind angebracht.

Der 6. Armuts- und Reichtumsbericht zeigt, dass die »gesellschaftliche Rolltreppe« für die unteren und mittleren Einkommensgruppen gehörig ins Stocken kommt. Und – um bei der Metapher Oliver Nachtweys zu bleiben – dass die mittleren Etagen des Kaufhauses wohl so langsam dicht machen. Fest steht wohl auch, dass die Pandemie bei weitem nicht die »große Gleichmacherin« ist, für die sie anfangs oft gehalten wurde. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man den Blick auf die weltweiten Auswirkungen der Pandemie wendet: Laut einem Oxfam-Bericht von Anfang 2021 verloren Kinder in Staaten mit niedrigem Durchschnittseinkommen durchschnittlich rund vier Monate Schulzeit, wohingegen es in reichen Ländern nur sechs Wochen waren. Lebte vor der Pandemie beinahe die halbe Menschheit mit weniger als 5,50 US-Dollar täglich, dürften davon nach 2020 noch bis zu 500 Millionen Menschen mehr betroffen sein. Dafür stieg der Reichtum der zehn reichsten Männer von Februar 2019 bis Dezember 2020 um circa eine halbe Billion US-Dollar. Das Vermögen von Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz allein wuchs von März 2020 bis März 2021 um 14,4 Milliarden Euro.

Was also tun? Zahlreiche Organisationen und Verbände haben darauf eine klare Antwort: »Die gewachsene Ungleichheit lässt sich nicht durch ein wenig mehr Bildung hier und etwas höhere Steuern dort beseitigen, sondern nur durch echte Umverteilung«, heißt es in der Stellungnahme des Paritätischen zum Armuts- und Reichtumsbericht. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK fordert, »den Mindestlohn auf 13 Euro zu erhöhen und endlich eine Kindergrundsicherung einzuführen.« Oxfam appelliert an die Bundesregierung, eine rechtliche Grundlage zu schaffen, um »übermächtige Konzerne als ultima ratio zu entflechten« sowie »eine einmalige Steuer auf in der Corona-Krise entstehende außergewöhnliche Gewinne von Konzernen« auf den Weg zu bringen.

Die Bundesregierung bleibt dagegen ziemlich tiefenentspannt. Der Armutsbericht zum Beispiel war für das Kabinett ein Anlass, sich selbst auf die Schultern zu klopfen: »Der Bericht fungiert als politischer Persilschein«, so Politologe Christoph Butterwegge. »Unter der Rubrik ›Zusammenfassung und Maßnahmen‹ listet die Bundesregierung alles auf, was sie unternommen hat, und feiert das als Erfolg.« Aber schließlich ist ja auch Wahlkampf. Da macht sich zu viel Armut auch einfach nicht so gut.

Geschrieben von:

Victor Meuche

Praktikant bei OXI

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