Wirtschaft
anders denken.

Das Manifest der bestürzten Ökonomen

11.04.2016
Ein Hörsaal mit mehreren leeren Stuhlreihen, ein Tisch ist aufgeklappt.Foto: kallejipp. / / photocase.de

Das »Manifest der bestürzten Ökonomen« von französischen Politikwissenschaftlern und Ökonomen richtet sich gegen die neoliberale Denkweise der Volkswirtschaftslehre. Eine Vorstellung.

Im Oktober 2010 sorgte in Frankreich ein »Manifest der bestürzten Ökonomen« (»Manifeste des économistes atterrés«) für Furore. Bestürzt waren die außerhalb der Fachwelt unbekannten Ökonomen darüber, dass sie in der Wirtschaftspresse und in den Talkshows die gleichen alten Gemeinplätze und »Denkschablonen der marktradikalen Orthodoxie« zu lesen und zu hören bekamen. Und noch empörender war für sie, dass das alles unter der Flagge »Wissenschaft« auftrat und die Realität – die »Macht der Finanzmärkte« und global agierende Konzerne – immer ausgeblendet bliebe. Zuletzt protestierte die Gruppe von Ökonomen mit den Ende Februar 2016 streikenden Gewerkschaftsverbänden zusammen gegen die »Reform des Arbeitsgesetzes im Geist des neoliberalen Credos: »Mehr arbeiten, weniger verdienen, leichter entlassen«.

Das Manifest wurde schnell von 700 Ökonomen und anderen Sozialwissenschaftlern unterzeichnet und in kurzer Zeit über 100.000 Mal verkauft. Es analysierte und kritisierte zehn ökonomisch »falsche Gemeinplätze (»fausses évidences«) der etablierten Wissenschaft. Ein Einwand gegen das Manifest lautete damals, dass es nur wenige Alternativvorschläge enthalte und diese nicht alle überzeugten. Auf diese Kritik reagierte das »Neue Manifest der bestürzten Ökonomen«. Es beschreibt „15 Baustellen für eine andere Ökonomie“ und präsentiert in jedem Kapitel Alternativen zu den Dogmen der neoliberalen Sekte.

»15 Baustellen für eine andere Ökonomie«

Gleich im ersten Kapitel machen die Autoren deutlich, dass es ihnen nicht um eine »Rückkehr zu«, sondern um einen »Aufbruch nach« geht, wörtlich: »um eine Flucht nach vorn« heraus aus der »globalen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Krise.« Die Autoren berufen sich auf fünf starke normative Grundlagen ihrer Argumentation: den Vorrang der Demokratie vor dem Markt; die Untrennbarkeit von Demokratie und Gleichheit; den Ausgleich des Verhältnisses von Markt, Privatinitiative und politischem Handeln; den sozialen und solidarischen Umgang mit gemeinschaftlichen Gütern sowie die Umstellung von Produktion und Konsum auf ökologisch vertretbare Standards. Letztlich plädieren die Autoren für nichts Geringeres als neue Arbeits- und Lebensformen auf der Basis dieser fünf normativen Grundsätze und einer sich wirklich politisch und nicht nur technokratisch-herrschaftsstabilisierend artikulierenden Ökonomie.

Ohne eine »tiefgreifende Umwandlung unserer Produktionsweise und unseres Konsumverhaltens« sind natürliche Ressourcen, Biodiversität und Klima nicht zu retten. Deshalb halten die Autoren eine ökologisch fundierte Besteuerung für unumgänglich, denn die staatliche Regulierung über den Markt (etwa bei den CO2 – Zertifikaten) habe sich als Luftnummer erwiesen. Die Autoren sehen eine Öko-Steuer von drei Prozent auf alle in der Europäischen Union (EU) erzeugten Produkte als notwendig: jedes Jahr erbrächte das, nach ihren Berechnungen, etwa 350 Milliarden Euro.

Die marktradikal geprägte Wettbewerbsordnung in der EU lässt praktisch keine staatliche Industriepolitik mehr zu. Dem setzen die Autoren ein Konzept entgegen, das mit lokalen, regionalen und nationalen Industriefonds die Re-Industrialisierung »abgewickelter« Regionen möglich machen soll, ebenso wie die Abwehr von Privatisierungen und die weitere Abwanderung von Industrien. Für dieses Konzept sei jedoch eine Erweiterung der Kompetenzen staatlicher Banken unumgänglich.

Keynes statt marktradikale Orthodoxie

Während die marktradikale Orthodoxie seit den 80er Jahren in der »Lohndisziplin« ein probates Mittel gegen Arbeitslosigkeit sieht, halten die »bestürzten Ökonomen« diese Politik für rundum gescheitert. Sie treten für hohe Löhne ein, die die Binnennachfrage und damit auch die Wirtschaft fördern. Auch Steuerentlastung und Abgabenbefreiung für Unternehmen haben, so ihr Beispiel, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich nicht verringert, kosteten aber den Staat 20 Milliarden Euro im Jahr. Mit gleichen Argumenten rehabilitieren die Ökonomen staatliche Ausgaben als sozial notwendig und produktiv, die den marktradikalen Apologeten des zur Armut verschlankten Staates als überflüssig gelten.

In einem Kapitel beschreibt das Manifest die Umrisse eines Steuersystems, das demokratischen, ökologischen und solidarischen Ansprüchen genügt. Diese reichen von der Umverteilung von oben nach unten, über Anreize zu vernünftigem Verhalten beim Konsumieren wie beim Energiesparen bis zur Bekämpfung der »Steueroptimierung« durch multinationale Konzerne und der Einführung einer Finanztransaktionsteuer.

Die gute Staatsverschuldung

Ein besonderes Kapitel widmet sich der demagogischen Denunziation der Staatsverschuldung als Belastung von Kindern und Kindeskindern. Das möge richtig sein, wenn der Staat auf Kredit beispielsweise Panzer und Kampfjets beschaffe, die zudem schnell veralten. Das gelte aber nicht für den kreditfinanzierten Ausbau des wirklichen »patrimoine public«, also von Straßen, Bahnen, Bibliotheken zur Bildungs- und Gesundheitsinfrastruktur. So gesehen hinterlassen Staaten, die sich heute verschulden, so die Argumentation, nachfolgenden Generationen nicht Schulden, sondern ein reiches Erbe. Hinzu komme, dass nichts die Staatsverschuldung so steigerte wie die neoliberale Austeritätspolitik. Zwischen 2010 und 2013 stieg beispielsweise die Verschuldung in Portugal von 94 auf 129 Prozent des BIP, in Spanien von 62 auf 94 Prozent und in Griechenland von 148 auf 175 Prozent.

Mit der entschieden normativen Ausrichtung des Manifests handeln sich die Autoren freilich das Problem ein, dass die Schwierigkeiten und Tücken auf dem Weg von der Norm zu ihrer praktischen Umsetzung ausgeblendet werden. Die These, wonach »Gleichheit das Herz der Wirtschaft« bilde, leuchtet ebenso ein wie jene, dass »Ungleichheit ökonomisch unrentabel« sei. Wenn der Zugang zu Bildung und Ausbildung für Kinder, Jugendliche und Frauen von Ungleichheit geprägt ist, sind die Folgekosten für die Beseitigung von Defiziten, Fehlentwicklungen und Schäden höher als die Investitionskosten für eine von Anfang an auf Gleichheit ausgerichtete Bildungs-, Wohnungs- und Sozialpolitik. So plausibel diese Überlegungen, so zahlreich sind die Hürden bei ihrer Umsetzung.

Das »Neue Manifest« besticht mit seiner klaren Sprache. Es erhebt nicht den Anspruch, das Pulver erfunden und die letzte Wahrheit gefunden zu haben. Aber es informiert zuverlässig und argumentiert mit nachvollziehbaren Argumenten gegen die als Selbstverständlichkeiten servierten intellektuellen Zumutungen der Orthodoxie.

»Nouveau manifeste des économistes atterrés. 15 Chantiers pour une autre économie.« (Neues Manifest der bestürzten Ökonomen. 15 Baustellen für eine andere Ökonomie). Éditions Les liens qui libèrent, 155 S., 10 €, bislang nur auf Französisch erhältlich.

Weitere Informationen auf: http://www.atterres.org

Geschrieben von:

Rudolf Walther

Historiker

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