Wirtschaft
anders denken.

Auf die richtigen Zahlen kommt es an. Eine Replik

13.07.2019

Die »Herrschaft der Zählbarkeit« auch viel älter als Konkurrenz, Markt und Kapitalismus. Die Vernunft liegt nicht jenseits der Zahlen, sondern muss in diese Einzug halten. Kritische Wissenschaft ist hier gefragt.

Tom Strohschneider kritisiert in seinem Artikel »Der vermessene Mensch« die »Herrschaft der Zählbarkeit«, die ein universelles Konkurrenzregime stütze, und ruft uns zurück zu einer Orientierung an Gebrauchswert statt Wert. »Das bessere Leben ist eine Frage der Qualität, nicht nur der Quantität.« Aber auch wenn man die Kritik an der Logik von Ökonomie und Konkurrenz akzeptiert, scheint mir das Problem nicht in den Zahlen selbst zu stecken, und zwar aus zwei Gründen: 

Erstens induzieren nicht alle Zahlen Konkurrenz. Rankings haben zwar durchaus diesen Sinn. Aber schon das Blutdruckmessgerät, welches den Artikel ziert, gibt ein gutes Gegenbeispiel. Der Blutdruck ist ein wichtiger medizinischer Indikator. Natürlich lässt er sich von datenhungrigen Krankenkassen in disziplinierende Fitness-Apps einbinden. Aber soll man deshalb Blutdruckmessgeräte in OPs verbieten? Tatsächlich ist die »Herrschaft der Zählbarkeit« auch viel älter als Konkurrenz, Markt und Kapitalismus (wenn auch nicht älter als Arbeitsteilung, Machtungleichheit und Ausbeutung). Die Zahlen tauchen vor etwa fünftausend Jahren in Mesopotamien auf – übrigens als die ersten Schriftzeichen der Menschheit überhaupt –, sobald die ersten urbanen Zentren und frühen Staatswesen eine Komplexitätsschwelle überschreiten, die nach neuen Verwaltungsinstrumenten verlangt.

Zweitens spielt zwar auch Marx im Zusammenhang mit Gebrauchswert und Wert mit den Kategorien von Qualität und Quantität. Aber er weiß, dass sich daraus kein echter Gegensatz konstruieren lässt. In einer Planwirtschaft, die keine Preise kennt, würde man es trotzdem mit Zahlen zu tun haben, in welchen die Gebrauchswerte beschrieben werden: Mengen, Gewichte, Kalorien und so weiter und so fort. Quantität ist nicht das Gegenteil von Qualität, sondern eine Weise, Qualität zu beschreiben.

Auf die richtigen Zahlen kommt es also an, und damit sind wir schon bei dem zentralen Problem. Welche sind diese, welches die richtige Einheit der Zählung, der richtige Maßstab des Vergleichs, sei es für die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, in welcher wir heute unsere Gesellschaft zu erfassen suchen, oder für die Planung der Wirtschaft in einer sozialistischen Gesellschaft?

Die Sprache der Preise hat schon 1936 Karl William Kapp einer rigorosen Kritik unterzogen: Die sich angeblich aus den Bedürfnissen der Individuen ergebenden Preise eignen sich nicht, da sie erstens in Wahrheit nur die solventen Bedürfnisse abbilden – Reiche zählen mehr als Arme –, zweitens die Beeinflussung der Bedürfnisse durch Werbung unterschlagen und drittens die sozialen und ökologischen Folgeschäden privaten Wirtschaftens systematisch ausblenden. Was Strohschneider an Zahlen kritisiert, gilt tatsächlich für Preise und Leistungsindikatoren. Aber darin erschöpft sich das Reich der Zahlen nicht.

Welche Alternativen zu Preisen gibt es also? Arbeitszeit, Energie, Exergie, Entropie … – die Liste der diskutierten Kandidaten ist lang und noch kein Konsens in Sicht, ja, nicht einmal ein Interesse an der Frage im wissenschaftlichen Mainstream auszumachen. Gleichwohl ermöglichen Zahlen wie der EROI (Energy return on investment) bereits verblüffende Einsichten. Während die Agrarerträge pro Hektar oder Arbeitskraft stetig steigen, wie der Bauernverband stolz vermeldet – ein Landwirt ernährt heute mehr als hundert Menschen –, zeigt sich das gegenteilige Bild, wenn man auf den Energieinput schaut. Zehn Kalorien und mehr muss die öl- und chemiehungrige Landwirtschaft investieren, um nur eine Kalorie an Nahrung zu produzieren.

In Zukunft wird es darauf ankommen, solche Messinstrumente zu entwickeln. Dabei ist natürlich Vorsicht angezeigt. Die Weltbank propagiert unter dem Titel der Nachhaltigkeit ein Indikatorensystem, welches Ausbeutung und Umweltzerstörung fördern kann. Und auch mit der tiefgreifenden Reform von 2010 hat es die UNO nicht geschafft, ihren Human Development Index vom BIP und somit von der Wachstums- und Konsumideologie zu entkoppeln.

Noch grundsätzlichere Probleme muss man gewärtigen (worauf Strohschneider kurz anspielt). Marilyn Waring, feministische Vorkämpferin einer neuen Gesamtrechnung, erzählt folgende Anekdote: Als in Neuseeland erstmals unbezahlte Arbeit statistisch erfasst werden sollte und eine junge Mutter als tägliche Arbeitszeit »24 Stunden« angab, rief sie der amtliche Statistiker prompt zurück, um den »offenkundigen Fehler« zu korrigieren. Wer die politischen Zahlen reformieren will, muss sich so grundsätzlichen Fragen stellen wie: Was ist eigentlich Arbeit? Welche Bedürfnisse sind wichtig? Was ist Freiheit, was ein gutes Leben?

Die Ökonomen, die sich an den freien Markt halten, haben den Vorteil, einfache, verbindliche und auch verführerische Antworten parat zu haben. Arbeit ist, was bezahlt wird, und sie ist so viel wert wie ihr Lohn, und so weiter. Strohschneider warnt uns zu Recht vor dieser »numerischen Unvernunft«. Aber die Vernunft liegt nicht jenseits der Zahlen, sondern muss in diese Einzug halten. Kritische Wissenschaft ist hier gefragt.

Oliver Schlaudt, geboren 1978, hat in Heidelberg Physik studiert. Er ist Dozent für Wissenschaftsphilosophie am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg.

Geschrieben von:

Oliver Schlaudt

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