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Bedenken second: Wie das Insolvenzrecht Risikokapitalisten macht. Der OXI-Überblick

08.10.2017
Foto: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0Air Berlin wird gerade filettiert und verkauft - das Insolvenzverfahren beginnt noch im Oktober.

Dass in der Marktwirtschaft mehr Pläne gemacht werden, als die Behauptung von der unsichtbaren Hand des Marktes, die alles regelt, weismachen will, hat sich inzwischen herumgesprochen. Ein unverzichtbares Planungsinstrument in der Toolbox kapitalistischer Unternehmungen ist das Insolvenzrecht.

Das Insolvenzrecht greift immer dann, wenn marktwirtschaftliche Pläne scheitern, UnternehmerInnen die Forderungen ihrer GäubigerInnen nicht mehr bedienen können. Im Jahr 2016 war das in Deutschland 123.800 mal der Fall. Damit in solchen Fällen nicht nur die schnellsten und stärksten GläubigerInnen Zugriff auf die Insolvenzmasse erhalten, was Frust und Unfrieden zur Folge hätte, ist das erste und wichtigste Ziel in Insolvenverfahren die gleichberechtigte Gläubigerbefriedigung. Das Insolvenzrecht ist also ein Paradebeispiel dafür, dass der Staat in der kapitalistischen Warenwirtschaft als ideeller Gesamtkapitalist auftritt.

Das Insolvenzrecht ist der Paragraph gewordene FDP-Slogan »… Bedenken second«.

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Doch Insolvenzverfahren verfolgen noch ein zweites Ziel: wirtschaftlichen Neuanfang. Bei insolventen Unternehmen heißt das Sanierung oder, wenn eine Sanierung nicht mehr aussichtsreich erscheint, geordnete Abwicklung. Bei insolventen Einzelpersonen ist das Ziel die Restschuldbefreiung, damit die insolventen Person wirtschaftlich neu anfangen kann. Denn: Kein Marktteilnehmer, vor allem aber kein Unternehmer soll auf Lebenszeit von ökonomischer Tätigkeit ausgeschlossen sein.

Die Regeln des Insolvenzrechts sollen es GeldbesitzerInnen also erleichtern, Risiken einzugehen, wirtschaftliche Unternehmen zu wagen. Man könnte diesen Teil des Insolvenzrechts daher auch als den Paragraphgewordenen zweiten Teil des jüngsten FDP-Wahlkampfslogans »… Bedenken second« zusammenfassen. Eine Aufforderung zum munteren Investieren: Risiko first, Bedenken second.

Das Beispiel Insolvenz Air Berlin

Wie das Insolvenzrecht in der Praxis wirkt, lässt sich aktuell am Fall von Air Berlin beobachten. Das Unternehmen, das am 15. August Konkurs angemeldet hatte, wird dieser Tage nach allen Regeln der Kunst filettiert und zerlegt. Üblicherweise versuchen insolvente Unternehmen (mit Hilfe des Insolvenzverwalters), lukrative Unternehmensteile vor Beginn des offiziellen Insolvenzverfahrens zu verkaufen. So auch in diesem Fall. Mit der Lufthansa und mit Easyjet verhandelt der Konzern noch bis zum 12. Oktober über den Kauf einzelner Unternehmensteile; auch für Tochtergesellschaften, die Wartungsarbeiten anbieten, gibt es offenbar Kaufinteressenten. Unternehmerische Verpflichtungen, etwa das Leasing von Maschinen und Personal an die Lufthansa, werden weiterhin erfüllt.

Anders sieht es beim Personal aus. Laut einer Mitteilung des Betriebsrates plant Air Berlin, bis Ende Oktober 1.400 Beschäftigten beim Verwaltungs- und Bodenpersonal zu kündigen. Wer zur Aufrechterhaltung des Flugbetriebs benötigt werde, erhalte eine Kündigung zu Ende Februar 2018, die anderen MitarbeiterInnen würden direkt »freigestellt«, wie es heißt. Ein interessantes Detail: Pläne, auch PilotInnen zu entlassen, die im September mit koordinierten Krankschreibungen gegen mögliche Entlassungen »wild gestreikt« hatten, sind bisher nicht bekannt. Damals war vielfach zu lesen gewesen, mit solchen Aktionen verschlechterten die Piloten ihre Übernahmechancen ungemein. Davon ist nun nichts mehr zu hören.

Gegenüber der FAZ erklärte ein »Insider«, dass die Kündigungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausgesprochen werden sollten (was bedeutet, dass die Kündigungsfristen geringer als sonst ausfallen können und die Kritierien zur Sozialauswahl nicht so streng gehandhabt werden). Bis dahin erhalten die Beschäftigten statt ihres normalen Gehalts ein Insolvenzgeld in gleicher Höhe – das aber nicht von Air Berlin, sondern von der Bundesagentur für Arbeit gezahlt und im Fall von Air Berlin teilweise aus dem Rettungskredit der Bundesregierung aufgestockt wird.

Für Flugreisende, die ebenfalls zu den GläubigerInnen der insolventen Airline gehören, ist die Insolvenz eine schlechte Nachricht. Denn wer vor der Anmeldung der Insolvenz ein Ticket erworben hat, kann sich wenig Hoffnung auf Erstattungen machen. Mehr als 100.000 KundInnen, die vor dem 15. August Langstreckenflüge gebucht haben, werden ihre Flüge nicht antreten können und wenig oder gar keine Erstattung erhalten. Die FlugkundInnen stehen in der Rangfolge der GläubigerInnen hinten.

»Nicht automatisch zu den bisherigen Konditionen«

Und der Rest der Insolvenzmasse? Momentan wird noch versucht, möglichst viele der lukrativen Unternehmenssparten zu verkaufen – wozu im umkämpften europäischen Luftfahrtmarkt nicht nur Flugzeuge und ähnliches gehören, sondern auch die begehrten Start- und Landezeiten (»Slots«). Auch der Großteil der gut 8.000 Air-Berlin-Beschäftigten habe gute Chancen, von neuen EigentümerInnen übernommen zu werden, »freilich nicht automatisch zu den bisherigen Konditionen«, wie der Berliner Tagesspiegel sich beeilte klarzustellen. Insolvenzverfahren sind auch ein Mittel, Standards bei Löhnen und Arbeitsbedingungen zu senken.

Und die 1.400 Beschäftigten, die nun die Kündigung fürchten müssen? Am Wochenende versuchten Berliner Tageszeitungen, diesen Air-Berlin-MitarbeiterInnen Mut zu machen: Große Arbeitgeber in Berlin würden sich die Finger nach ihnen lecken, am Dienstag wollen sich mehrere Unternehmen bei einer Jobmesse in der Air Berlin Firmenzentrale den Noch-MitarbeiterInnen der Fluglinie präsentieren, berichtete der Tagesspiegel.

Solche Maßnahmen gehören nicht unbedingt zum Standardrepertoire bei Insolvenzen. Dank der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Lage in Deutschland haben die von Kündigung bedrohten Air-Berlin-Beschäftigten Glück im Unglück. Doch auch wenn sie ein einigermaßen gefragter Bestandteil aus der Insolvenzmasse von Air Berlin sind, gilt auch für sie: Ob sie bei Zalando und Toll Collect (unter anderem die beiden Unternehmen haben sich angekündigt) zu denselben Standards eingestellt werden, ist fraglich.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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