Wirtschaft
anders denken.

Niederlage im letzten Gefecht

21.03.2023
Die Struktur von KohleFoto: PublicDomainPicturesBeim legendären Bergarbeiter-Streik ab 1984 ging es um mehr als Kohle.

Vor fast vier Jahrzehnten endete der legendäre einjährige Streik der britischen Bergarbeiter. Die Deindustrialisierung des Mutterlandes des Kapitalismus begann. Aus OXI 3/23.

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Als alles vorbei und verloren ist, erscheint dem Miner Martin, einem der geschlagenen Helden in David Peaces großem Roman »GB84« über die Streikbewegung der britischen Bergarbeiter der Jahre 1984 und 1985, im Schlaf sein fürchterlichster Albtraum: »An der Spitze ihres Stammes und triumphierend auf den Bergen unserer Schädel« feiert Margaret Thatcher darin ihren Sieg und verkündet einen totalen Neuanfang für das kriselnde Land: »Erwacht! Erwacht! Dies ist England! Euer England – im Jahre null«, ruft die damalige britische Premierministerin den ihren zu. Und längst weiß Martin, dass diese Zukunft für die arbeitende Klasse eine sein wird, »die sich keiner von uns leisten kann«.

Ganz einfach war es aber nicht gewesen. Immerhin ein Jahr hatten die seit 1979 regierenden konservativen Tories gebraucht, um dieses »New Britain«, das keine oder kaum noch Blockaden kapitalistischer Wettbewerbsfähigkeit aufweisen sollte, gegen die traditionell widerspenstigste Bastion der britischen Arbeiter:innenklasse durchzukämpfen. Umso euphorischer fiel ihre Reaktion nach dem Triumph aus. »An die Wand genagelt« habe Thatcher den Chef der National Union of Mineworkers (NUM), Arthur Scargill, höhnte Schatzkanzler Nigel Lawson im Namen des Kabinetts noch am Tag der endgültigen Beendigung des Streiks: am 5. März 1985. »Jedes Pfund« – nach den Berechnungen des Labour-Abgeordneten und ehemaligen Energieministers Tony Benn waren es immerhin 8 Milliarden Pfund, damals mehr als 30 Milliarden D-Mark – »das uns der Streik gekostet hat, war zum Wohl des Volkes angelegt«, triumphierte Lawson weiter. Und in ihren Erinnerungen bezeichnete Thatcher selbst die Ereignisse als wichtigsten Sieg ihrer Politik. »Der einjährige Bergarbeiterstreik von 1984 war das letzte Aufbäumen des alten Gewerkschaftssystems;« heißt es dort, »seit jenem Jahr hat Großbritannien keinen bedeutenden Arbeitskampf mehr erlebt.«

Wie entschlossen die Regierung bei der Verfolgung ihrer Ziele vorgehen würde, war bereits in den ersten Streikwochen deutlich geworden. Keine zwei Wochen nach dessen Ausrufung durch die NUM wurden in Nottingham am 12. März 1984 zwei Streikposten, David Jones und Joe Green, von der Polizei getötet und mehr als 4.000 Kumpel zeitweise inhaftiert. »Die Demokratie wäre am Ende, wenn der Herrschaft des Mobs nachgegeben würde«, kommentierte Thatcher die Ereignisse in dem ihr eigenen Zynismus im Unterhaus. Dann folgte für die NUM das Desaster der »Battle of Orgreave«. Hier, nur wenige Kilometer von ihrer Zentrale in Sheffield entfernt, erstickten im Juni 6.000 Polizisten der neu gebildeten »Riot Squad Police”-Einheiten mit bis dahin nie gesehener Brutalität – vor allem die immer wieder in die Masse hinein getriebenen Polizeipferde hinterließen Hunderte Verletzte – den Versuch von über 10.000 mobilisierten Gewerkschaftern, die riesige Kokerei, die die Stahlwerke der Umgebung versorgte, zu blockieren und den Streik so auf andere Wirtschaftssektoren auszudehnen.

Dabei hatte Orgreave eigentlich zu dem werden sollen, was Saltley bei Birmingham 1972 gewesen war: Der Sieg der NUM über eine den britischen Klassenkompromiss fundamental in Frage stellende Regierung. Gegen die Regierung des Konservativen Edward Heath hatten die Miners die Strategie der »flying pickets« entwickelt und die Stahl- und die Transportarbeiter der Region zu gemeinsamen Streikaktionen und zur Blockade des dortigen Kohlendepots bringen können. Nach Jahren des Lohnstopps konnten so Lohnerhöhungen von 27 Prozent in dem seit 1947 verstaatlichten Kohlebergbau durchgesetzt werden, die als Fanal auch auf andere Branchen übertragen wurden. Wie bedeutsam dieser Sieg war, konnte man noch im Wahlkampf von 1974 sehen. Heath führte diesen unter der Parole: »Wer regiert das Land – die Gewerkschaften oder das Parlament?« – und verlor.

1984 erwiesen sich die Tories jedoch als besser gerüstet. Dies betraf nicht nur die Bildung der gefürchteten Bürgerkriegspolizei, die, wie später in einem Untersuchungsausschuss zutage gefördert wurde, zusätzlich von unter Ex-Soldaten, Hooligans und National-Front-Anhängern angeworbenen »inoffiziellen« Schlägertrupps unterstützt wurde, die den Terror in die Bergarbeitersiedlungen trugen. Vor allem politisch hatte sich die Thatcher-Regierung auf die Entscheidungsschlacht gegen die Kumpel, die seit dem Generalstreik von 1926 stets die Speerspitze aller sozialen Auseinandersetzungen dargestellt hatten, langfristig vorbereitet. Bereits in der Opposition hatte die erste Frau an der Spitze der Tories Pläne zur Umsetzung des von ihr unter dem Dreischritt »freier Markt, starker Staat, eiserne Zeiten« propagierten Programms zur Revitalisierung des ökonomisch schwächelnden Vereinigten Königreiches nach neoliberalem Muster erarbeiten lassen. Der »Lösung des Gewerkschaftsproblems«, so der Titel der Denkschrift für die künftige Regierungspraxis des Vordenkers des Thatcherismus und späteren Industrieministers, Keith Joseph, sollte dabei neben den Privatisierungen die zentrale Aufmerksamkeit gelten,.

Präzisiert wurde das spätere Vorgehen 1978 schließlich von Josephs künftigem Staatssekretär Nicholas Ridley. In dessen Plan, der durch Indiskretionen noch im selben Jahr vom »Economist« veröffentlicht worden war, wurde empfohlen, Sektor für Sektor von Gewerkschaften, Tarifbindungen und Mitbestimmung freizukämpfen, Streikbrecher frühzeitig anzuwerben, die Polizei aufzurüsten und Streikende künftig von Sozialleistungen auszuschließen, um den finanziellen Druck auf diese zu erhöhen. Als »wahrscheinlichstes Schlachtfeld«, auf dem die Kämpfe um das »Neue Britannien« stattfinden würden, machte Ridley wenig überraschend den Bergbau aus. Er empfahl hier zusätzlich die Kohlereserven langfristig aufzustocken, Importabkommen abzuschließen, gegen eventuelle Solidaritätsstreiks der Eisenbahner gewerkschaftlich unorganisierte Lkw-Fahrer anzustellen und frühzeitig die Kraftwerke so umzurüsten, dass sie notfalls auch auf den Betrieb mit Erdöl umgestellt werden könnten.

An die Macht gekommen, begannen die Konservativen umgehend mit den Umsetzungen ihrer Vorhaben. Nachdem im Herbst 1979 trotz regionaler Solidaritätsstreiks der NUM die Stahlarbeiter gemessen an der Inflationsrate Lohneinbußen von über 20 Prozent und den Abbau von etwa 150.000 Arbeitsplätzen hatten hinnehmen müssen und vor allem die Sozialleistungen im großen Maßstab eingeschränkt worden waren, kündigte das National Coal Board (NCB), die staatliche Bergbauaufsicht, 1981 die Schließung von 23 Gruben an. Noch aber bekam die Regierung den sofort einsetzenden landesweiten Streik der NUM nicht in den Griff. Auf rechtlicher Basis allerdings schuf sie mit dem Employment Act eine der Grundlagen ihres späteren Sieges. Das Verbot gewerkschaftlicher Organisierung im öffentlichen Dienst und von Solidaritätsstreiks, die Begrenzung auf sechs Streikposten pro Betrieb, die Verpflichtung der Gewerkschaften zu Schadenersatzzahlungen an bestreikte Betriebe, die schließlich zur Pfändung der Kassen der NUM führen sollte, und die Absage an das Prinzip des »Closed Shop«, also des Vetorechts der Betriebsräte bei der Einstellung nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeiter, waren Maßnahmen, die es allesamt der Regierung und dem späteren NCB-Chef, Ian MacGregor, ermöglichen sollten, ihren historischen Sieg über die NUM zu erringen.

Nach dem gewonnen Falklandkrieg, in einem Klima eines aufgeheizten Nationalismus, war es dann 1984 so weit. Nun blies Thatcher zum Sturm auf den »inneren Feind«, wie sie, sekundiert von fast allen Massenmedien, die Gewerkschaften nunmehr bezeichnete. Die Kohlehalden, die zu Beginn dieses Jahres bereits 38 Millionen Tonnen gelagert hatten, wurden in wenigen Wochen auf 57 Millionen Tonnen aufgestockt und vier Atomkraftwerke vorzeitig ans Netz genommen, um die Stromversorgung von der Kohle unabhängiger zu machen. Verträge mit den USA, Australien, der Bundesrepublik und sogar der Volksrepublik Polen sorgten dafür, dass im Falle eines Streiks große Kontingente von Kohle nach Großbritannien geliefert werden würden. Am 1. März schließlich verkündete McGregor die Schließung von 25 »unrentablen Minen« und die Einsparung von insgesamt 25.000 Arbeitsplätzen. In einem weiteren Schritt sollten weitere 45.000 Jobs gestrichen, Privatisierungen vorgenommen und langfristig alle Subventionen, vor allem die 1,1 Milliarden Pfund für den Bergbau, zugunsten der Förderung des Nordseeöls und der Weiterentwicklung der Atomenergie abgeschafft werden.

Diesmal gelang es der NUM nicht, einen landesweiten Streik dagegen zu organisieren. In Nottinghamshire, dem nach Yorkshire zweitgrößten Bezirk der Gewerkschaft, verweigerten wie schon 1926 die dort traditionell konservativeren Bergarbeiter mehrheitlich dem Ausstand, auch gelockt durch die bereits unter der Labour-Regierung eingeführten Prämiensysteme in den produktiveren Minen und die Garantie, dass die dortigen Minen von den Schließungen nicht betroffen sein würden. Auch unterblieben jenseits kurzer Ausstände der Liverpooler Docker, der Eisenbahner und der eigenständig organisierten Steiger längerfristige Unterstützungsstreiks der anderen Gewerkschaften des TUC, des Dachverbandes der britischen Gewerkschaften. Vor allem die Verweigerung der mächtigen Stahlarbeitergewerkschaft ISTC, der die NUM 1979 ausgerechnet gegen den damals noch an der Spitze von British Steel stehenden MacGregor zu Hilfe geeilt war, verringerte die Handlungsmöglichkeiten der britischen Arbeiter:innenklasse gegen die Sektor für Sektor abräumenden Reformpläne der Regierung. Und auch die Labour Party, deren Vorsitzender Neil Kinnock beim Parteitag im Herbst die »Gewalt der Streikposten« aggressiv diffamierte, stellte sich demonstrativ nicht an die Seite der 170.000 Streikenden.

Die Hunderttausenden Unterstützer:innen aus sozialistischen Organisationen, Frauen- oder Umweltinitiativen und autonomen Gruppen überall im Land konnten diese Lücke letztlich nicht schließen. Denn trotz der legendären Opferbereitschaft der häufig in den finanziellen Ruin getriebenen Miners, deren Dörfer in einem ständigen Belagerungszustand lagen und von denen 300 zu langen Haftstrafen verurteilt und Tausende verletzt wurden, deren Kindern zeitweise sogar die Schulspeisung verweigert wurde, konnte die relative Schwäche der britischen Bergarbeiter kaum verborgen werden. Das galt zunächst quantitativ. Von den 1,25 Millionen Bergarbeitern Großbritanniens der 1920er Jahre und den immer noch 700.000 im Jahre 1947 waren bei Regierungsantritt Thatchers nur noch 270.000 übrig geblieben. Und auch deren gesellschaftliche Macht war verringert, da sowohl Labour als auch die Konservativen zunehmend auf die Umstellung der Energieversorgung auf Öl und Kernenergie setzten. Diese veränderten »energiepolitischen Konzepte« waren letztlich die »Basis für eine entschlossene konservative Regierung, die Gewerkschaftspolitik im Kohlesektor zu ihren Gunsten zu verändern« und die Bergarbeiter in die Knie zu zwingen, wie Gero Fischer in seiner bis heute maßgeblichen Untersuchung »United We Stand Divided We Fall« folgerte.

Letztlich war es aber vor allem die Globalisierung der Produktion als Antwort auf die sinkenden Profitraten, die der von der NUM in ihrem »Plan for Coal« vorgesehenen konzeptionellen Mischung aus Importkontrollen und Subventionen im vom IWF mitverwalteten Großbritannien genauso wie in den anderen Industriestaaten die Grundlage entzog. Der Übergang von der Labour Party des Klassenkompromisses zu New Labour, der sich bereits in der Lohnstopp-Politik der Labour-Regierungen der 1970er Jahre abgezeichnet hatte, von Kinnock weitergetrieben und schließlich von Tony Blair endgültig vollzogen wurde, hatte hier seinen Ursprung. Weder die NUM in ihrem letzten Gefecht der alten Arbeiter:innenbewegung noch die nach ihr kommenden Bewegungen der Arbeiter:innen haben auf die Standortkonkurrenz mit ihrer permanenten Infragestellung des bisher gültigen »historisch-moralischen Elements« (Marx) der Lohnhöhen eine adäquate Antwort finden können.

Im Ergebnis ist nicht nur die 1994 endgültig privatisierte britische Kohleindustrie, wie viele andere traditionelle Industriezweige auch, annähernd verschwunden – aktuell gibt es gerade noch 6.000 Bergarbeiter in Großbritannien –, auch die Streikbereitschaft sank dramatisch, wie überall in den OECD-Ländern. Hatte es in den 1970er Jahren noch durchschnittlich 12,9 Millionen Streiktage pro Jahr gegeben, waren es in den 1990er Jahren lediglich noch 660.000. Der von Scargill nach der Niederlage angekündigte »permanente Guerilla-Krieg der Arbeiterklasse« blieb nur ein Wunsch. Direkt nach der Niederwerfung des »längsten, härtesten und wahrscheinlich bittersten Streiks, den die Welt gesehen hat« (Scargill) wurden so die Eisenbahner, Drucker und Hafenarbeiter fast kampflos zur Schlachtbank geführt. Für die herrschende Klasse wollten die Feste dagegen gar nicht mehr aufhören. Die Vermögensverteilung hat sich, auch dank der von Thatcher, ihrem Nachfolger John Major und Blair betriebenen regressiven Lohnpolitik und der großzügigen Steuersenkungsprogramme, seit Mitte der 80er Jahre permanent zuungunsten der Lohnabhängigen verschoben. Allein in den drei Jahren nach der Niederlage der Bergarbeiter sank die Lohnquote in Großbritannien um 5 Prozent. Auch dies ein internationales Phänomen, für das neben den USA auch Großbritannien stilbildend war. MacGregor hatte dies alles bereits im März 1985 im konservativen »Sunday Telegraph« triumphierend und martialisch angekündigt: »Jetzt machen wir sie alle fertig.«

Geschrieben von:

Axel Berger

Historiker

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