Wirtschaft
anders denken.

Berlin geboren aus der Spekulation

23.10.2020
Spekulation BerlinFoto: wikimedia commons

Wie die kapitalistische Bewirtschaftung des und die Spekulation mit Berliner Boden die Geschichte der Stadt bis heute prägt. Aus OXI 10/20.

Wohnungsnot, steigende Mieten und Immobilienspekulation sind heute das zentrale Thema in Berlin. Neu ist das nicht. Bereits vor rund 150 Jahren rollte eine Spekulationswelle über die junge Hauptstadt des Deutschen Reiches. In Erinnerung geblieben sind diese Zeiten durch das krasse Elend der Menschen, die in dunklen Hinterhöfen im Durchschnitt zu sechst in einem unbeheizten Zimmer hausen mussten. Die Schuld an der sozialen Misere Ende des 19. Jahrhunderts wird häufig dem damaligen Wohnungsmangel gegeben: Angesichts wachsender Bevölkerung und beschränktem Immobilienbestand seien die Berliner schlicht gezwungen gewesen, zusammenzurücken. Doch das ist nicht die Wahrheit. Denn bestimmend für die Not war die kapitalistische Bewirtschaftung des Berliner Bodens. Auf ihm waren sowohl Wohnungsnachfrage wie auch -angebot abhängige Variablen der Kalkulationen des Kapitals.

Die erste Welle

Mit dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich gründete sich 1871 das Deutsche Reich, Berlin wurde Hauptstadt. Die fünf Milliarden Franc an Reparationszahlungen, die Frankreich abverlangt wurden, finanzierten im Reich einen Gründungsboom, führten für die Kapitalanleger aber auch zu einem Zustand, der heute als »Anlagenotstand« bezeichnet wird: Es fehlte an renditeträchtigen Investitionsgelegenheiten. »Da die deutschen Staatsschulden mit Hilfe der französischen Milliarden getilgt wurden, suchten die freigewordenen Kapitalien eine andere vorteilhafte Anlage«, erklärt Vilma Carthaus in ihrem Standardwerk zum damaligen Immobilienmarkt.

Renditesuchendes Kapital war also im Überfluss vorhanden, was die Zinsen drückte. Um höhere Renditen zu erzielen, verlegten sich die Anleger auf spekulative Geschäfte, vor allem in Aktien. »In den Jahren 1871/72 wurden in Preußen über doppelt so viele Aktiengesellschaften gegründet wie im ganzen Jahrhundert zuvor«, so Carthaus. Diese Gesellschaften gaben Aktien aus, besorgten sich so Kapital, mit dem sie Unternehmen gründeten oder bestehende zu vergrößern versprachen: Tabak-, chemische und optische Fabriken, Bau-, Fuhr-, Dampfschiff- oder Eisenbahngesellschaften.

Dabei handelte es sich laut Carthaus allerdings zum großen Teil nur um Unternehmungen auf dem Papier. »Der wesentliche Vorgang bei all diesen Gründungen war das Werbespiel um die günstige Meinung des Publikums über die Entwicklungsmöglichkeiten der angeblichen ›Werte‹, die Einführung von Effekten an der Börse, ihr Vertrieb mit Hilfe der Bankinstitute und meist in Form der Aktienausgabe schließlich die fieberhafte Börsenagiotage.« Das bedeutet: Investoren gründeten Gesellschaften, gaben mit dem Versprechen riesiger Gewinne Aktien aus, sammelten so Gelder ein und gründeten mit diesen Mitteln neue Unternehmen. Ihnen brachte das hohe Gewinne und ebenso jenen Glücklichen, die die Aktien an der Börse mit Gewinn verkaufen konnten. So entstand »eine durch sich selbst wachsende Unternehmungslust«.

Diese Unternehmungslust erreichte auch den Immobilienmarkt in der neuen Hauptstadt. Die Voraussetzungen dafür waren ideal: Massen an Kapital suchten nach rentabler Anlage. Wohnraum war zudem knapp. Denn mit Beginn der Industrialisierung zogen die Fabriken in die Ballungsräume, vor allem nach Berlin, das mit Siemens, Agfa, Borsig und anderen zum größten industriellen Zentrum Deutschlands aufstieg. Und die Menschen folgten auf der Suche nach Arbeitsplätzen und auf der Flucht vor dem Tagelöhnertum auf dem Land. 1861 lebten nach der Eingemeindung Weddings und Moabits 500.000 Menschen in Berlin, 16 Jahre später waren es erstmals eine Million – ein Ergebnis der Zentralisation des produktiven Kapitals in den Städten.

Diese Not der Menschen wusste das Finanzkapital auszunutzen. Ab 1871 entstand eine große Anzahl von Aktiengesellschaften, die im Umkreis großer Städte Land aufkauften. Anschließend verwandelten sie es in Baugrund und verkauften die potenziellen Baustellen zu hohen Preisen an Unternehmen, die darauf kleine Mietshäuser und Villen errichteten – oder zu errichten versprachen. Ökonomische Grundlage dieser sogenannten Terraingesellschaften war der spekulativ hochgerechnete Wert ihrer Grundstücke. »Mit dem Börsen- und Gründungsschwindel schmolz die Zahl der kleinen billigen Wohnungen, und es vermehrten sich erstaunlich die großen kostbaren Mieträume«, klagte 1875 der Journalist Otto Glagau. »Den Gründern war keine Wohnung zu teuer, sie verdrängten die bisherigen Insassen und trieben die Mieten systematisch in die Höhe.« Die Preissteigerungen bescherten den Investoren Einnahmen, und diese Einnahmen dienten wiederum als Grundlage für die Ausgabe neuer Aktien, mit deren Erlös weitere Grundstücke gekauft wurden. Die Wohnungsnot der Bevölkerung, so Carthaus, gab dabei bloß »ein geeignetes Reklamemotto für die neuen Gesellschaften« ab.

Im Mittelpunkt der Bodenspekulation stand die Berliner Börse. In der neuen Hauptstadt entstanden in kurzer Zeit über 60 Aktienbaugesellschaften, die »neben den Eisenbahnpapieren zu den beliebtesten Spieleffekten des Börsenpublikums wurden«. Einer der bekanntesten Spekulanten war J. A. W. Carstenn. Laut Carthaus kam Carstenn von Hamburg nach Berlin, gründete dort die Villenkolonie Lichterfelde und verfügte schließlich über 4.000 Morgen Land im Süden von Berlin, d.h. über eine Fläche von der Größe eines Fünftels des Berliner Weichbildes.

1873 kam es dann zum Krach. Die Terraingesellschaften konnten ihre Aktien nicht mehr beim Publikum unterbringen und gingen zunächst dazu über, sich bei den Banken zu verschulden. Als Sicherheit für diese Kredite dienten die hochspekulierten Bodenwerte – auf denen allerdings hohe Hypotheken lasteten. Laut Glagau war der Grundbesitz in Berlin mit vier Fünftel des Werts verschuldet. Als den Banken Zweifel an dem ewig steigenden Wert der Grundstücke und damit an der Solidität ihrer Schuldner kamen, zogen sie ihre Kredite zurück. Die folgenden Pleiten der Terraingesellschaften führten zum Zusammenbruch des Marktes.

Die Arbeiter hatten nicht viel von diesem Boom gehabt. Denn zwar wurden tatsächlich Wohnungen gebaut. Doch wegen der hohen Grundstückspreise verlangten die Eigentümer hohe Mieten, die eine Überbelegung der Wohnungen nötig und sie zunehmend gänzlich unerschwinglich machten. Dies führte – bei gleichzeitigem Mangel an bezahlbaren Unterkünften – zu steigendem Leerstand. Daraufhin sanken zwar kurzzeitig die Mieten. Doch führte dies »zu einer Verminderung der Rentabilität und hatte ein Sinken der Grundstückspreise zur Folge, was hinwiederum einen lähmenden Einfluss ausübte auf Bautätigkeit, Grundstückshandel und Bodenspekulation«, erklärt Carthaus. Sprich: Genau als die Mieten zu sinken begannen, kam die Krise, weil die Gebäude nicht zum Wohnen gebaut worden waren, sondern als Kapitalanlage.

Die zweite Welle

Das Elend großer Bevölkerungsteile hielt damit an, aber auch der Zuzug nach Berlin.

1895 hatte sich die Zahl der Einwohner gegenüber 1871 auf 1,68 Millionen verdoppelt. Von ihnen waren nur etwa 40 Prozent in der Hauptstadt geboren, der Rest wanderte zu, hauptsächlich land- und mittellose Landarbeiter, deren Ausbeutung die Industrie florieren ließ. 1905 wurde in Berlin die Zwei-Millionen-Einwohner-Marke geknackt.

Wohnungsnot in Kombination mit niedrigen Zinsen baute ab Mitte der 1880er Jahre eine neue Spekulationswelle auf. Hypothekenbanken sammelten Geld aus der ganzen Gesellschaft ein und vergaben vermehrt Kredite. Allein 1886 verdoppelten sich die von ihnen gewährten Darlehen, die in Berlin laut Carthaus einen »regen Baustellenhandel« finanzierten: Mit dem Kredit der Banken reich ausgestattete Aktiengesellschaften kauften große Geländeflächen zu hohen Einstandspreisen auf und machten aus ihnen »Bauerwartungsland«. Dieses verkauften sie zu noch höheren Preisen an alte und neue Aktiengesellschaften, die das Bauland erschlossen. Das Geld dafür erhielten diese Gesellschaften oftmals von ihren Großaktionären, den Banken. Das erschlossene Terrain wurde dann abermals gegen Aufpreis an Baustellenhändler verkauft, die dafür ebenfalls Kredit bekamen, um die hohen Preise zu zahlen. Die Baustellenhändler wiederum gaben die Flächen gegen Preisaufschlag weiter an Bauunternehmer, die ebenfalls von den Banken mit Kredit ausgestattet wurden. Diese Bauherren errichteten schließlich auf den Parzellen »Massenmietshäuser«, also Mietskasernen mit bis zu acht Hinterhöfen, in denen ein Maximum an Menschen auf geringstmöglicher Fläche zusammengedrängt werden konnte.

Genährt wurde der Boom von den Banken, die jeden der Verwertungsschritte mit Krediten finanzierten, so den Aufschwung am Laufen hielten und prächtig an ihm verdienten. Als Basis des Kreditüberbaus dienten die Mieteinnahmen, also die Mieter, die mit ihren Zahlungen dafür hafteten, dass die Verwertung des Berliner Bodens funktionierte.

Eine Erweiterung erhielt die Spekulation dabei durch die Erschließung der Vororte wie Neukölln oder Schöneberg. »Die Gründer kauften öffentliche Gärten und Etablissements und verwandelten sie in Bauplätze; sie kauften die Kartoffeläcker und Gemüsefelder in den Vorstädten, die Wiesen, Sümpfe und Sandschollen vor den Toren, die Weiden und Ländereien der benachbarten Dörfer und steckten überall Häuserzeilen und Straßenviertel ab«, beschreibt Glagau.

Drei Faktoren nährten die Spekulation jenseits der Berliner Stadtgrenze: Erstens die Anbindung der Vororte wie Charlottenburg durch eine Bahnverbindung. Zweitens die 1887 erteilte und 1903 erweiterte staatliche Erlaubnis, auch außerhalb Berlins hohe Mietskasernen zu bauen. Drittens wurden die Armen zunehmend aus dem repräsentativen Stadtzentrum in die Peripherie verdrängt, auch die Industrie wanderte ab, da das Zentrum zu teuer geworden war. So zog Siemens erst nach Charlottenburg und 1905 weiter nach Siemensstadt. All dies machte den Grundbesitz in den Vororten laut Carthaus »spekulationsreif«. Folge waren drastische Preiserhöhungen – zum Schaden der Mieter, die nun auch außerhalb Berlins hohe Preise zahlen mussten.

Der Bauboom führte abermals nicht dazu, das Elend der Bevölkerung zu beenden. Denn aufgrund der Renditeanforderungen wurden bis 1900 vor allem Gebäude zu gewerblichen Zwecken und Häuser mit großen Wohnungen für solventere Mieter gebaut, es herrschte ein drückender Mangel an kleinen Wohnungen. Im Ergebnis standen 300.000 Wohnungen leer, während gleichzeitig »Ställe, Trockenböden und Kohlekeller als menschlicher Wohnraum« vermietet wurden, klagte damals Hans Kurella im Magazin »Neue Deutsche Rundschau«. »Modern ist an all diesen Straßenreihen nur die rücksichtslose Ausnützung des dem Grundherrn widerspruchslos eingeräumten Luftmonopols.«

Profiteure wiederum waren die großen Aktiengesellschaften. Sie monopolisierten den Berliner Boden für sich. Der »in der Gründerzeit begonnene Prozess der Besitzkonzentration« kam laut Carthaus zum Beginn des neuen Jahrhunderts »zu seiner Vollendung«, die Spekulation erreichte ihren Höhepunkt. »Das hiesige Bauunternehmertum«, schrieb der »Deutsche Ökonomist« 1904, »ist und bleibt eine dubiose Gesellschaft, und man kann fast sagen, dass, je eleganter die Equipage ist, in welcher der Bauunternehmer herumfährt und seine Bauten besucht, desto weniger vertrauenswürdig seine Verhältnisse sind.«

Der Zirkel aus Krediten, die die Nachfrage nach Grundstücken erhöhten, was zu höheren Grundstückspreisen führte, die wiederum neue Kredite rechtfertigten, kam etwa 1911 zum Ende. Gestoppt wurde er nicht durch Protest der Bevölkerung. Sondern durch den Kapitalmarkt: Aufgrund starken Wirtschaftswachstums und der erhöhten Nachfrage der Rüstungsindustrie nach Kredit stiegen die Zinsen. Den Finanziers des Immobilienbooms kamen Zweifel ob der ewigen Erhöhung der Grundstückspreise, zumal immer mehr Wohnungen leer standen – nicht weil die Menschen mit Wohnraum ausreichend versorgt gewesen wären, sondern weil die hohen Preise vielfach nicht mehr gezahlt werden konnten. Bereits 1907, so der Ökonom Konstantin Kholodilin, fraß die Miete etwa ein Fünftel der Einkommen der Berliner – ein Wert, der angesichts von Löhnen am Existenzminimum nicht mehr gesteigert werden konnte. Die Löhne selbst wiederum konnten nicht deutlich zulegen, weil das produzierende Kapital seine Lohnkosten drücken wollte und dies aufgrund der großen Anzahl rechtloser Arbeitssuchender auch konnte.

Ab 1912 wurden die Banken vorsichtiger, zogen Kredite zurück. Es folgte die Krise großer Bodengesellschaften und der abermalige Zusammenbruch. Die Schuld dafür gab man – wie auch heutzutage – nicht der Immobilienspekulation und ihren Gesetzen, sondern einzelnen Personen: »Im Allgemeinen beschränkte man sich auf die Erörterung der am stärksten auffallenden kriminellen Auswüchse, man verurteilte die moralische Unzulänglichkeit gewissenloser Existenzen«, so Carthaus.

Von dieser Krise erholte sich der Berliner Markt nicht mehr. Es kam der Erste Weltkrieg: Massenhaft wurden junge Männer eingezogen und verließen die Stadt. Frauen wurden zu ihren Verwandten aufs Land geschickt. Beides ließ die Nachfrage nach Wohnraum schrumpfen, zwischen Sommer 1914 und Ende 1917 halbierten sich die Mieten in Berlin, so Kholodilin. Die Bautätigkeit fror daraufhin ein. Als gegen Ende des Krieges die Bevölkerung zurückkehrte, kam es zunächst zu drastischen Mieterhöhungen. Doch die stoppte die Regierung durch eine Deckelung der Mieten und der erstmaligen Einführung eines Mieterschutzes, weil sie soziale Unruhen befürchtete. »Heimatliebe und Patriotismus gedeihen nicht in dumpfen Wohngelassen«, hatte schon 1909 Hans Rost gemahnt.

Ein neuer Aufschwung für den Berliner Markt kam erst viele Jahrzehnte später, als Berlin Hauptstadt der Bundesrepublik wurde. Mit der Wiedervereinigung 1990 begann eine neue Spekulationswelle auf den Aufschwung Ost, die abermals in Pleiten endete, unter anderem der Bankgesellschaft Berlin. Die damals bestehenden Hoffnungen auf unaufhaltsam steigende Immobilienpreise erfüllte sich erst später: Seit 2010 legen die Mieten kräftig zu, abermals angetrieben von Wohnungsmangel und niedrigen Zinsen. In dieser neuen Spekulationswelle leben wir heute.

Vilma Carthaus Geschichte und Theorie der Grundstückskrisen in deutschen Großstädten mit besonderer Berücksichtigung von Groß-Berlin. 1917

Geschrieben von:

Stephan Kaufmann

Journalist

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