Wirtschaft
anders denken.

Arbeitswelt im Wandel, Einkommen unter Druck: die Realität hinter den großen Zahlen – der OXI-Überblick

04.01.2018
Larsinio / Public Domain

So viele Erwerbstätige wie nie, so wenig Erwerbslose wie lange nicht. Die offizielle Statistik bestimmt die politischen Diskurse. Doch hinter den großen Zahlen ändert sich die Arbeitswelt gravierend. Und das hat Folgen, die mehr in den Blick genommen werden sollten.

Wenn Angela Merkel über die Bundesrepublik spricht, dann ist das ein Land, »in dem noch nie so viele Menschen Arbeit hatten wie heute«. Kurz nach der Neujahrsrede der Kanzlerin legten die Bundesstatistiker mit neuen Zahlen nach: 2017 waren im Jahresschnitt 44,3 Millionen Menschen hierzulande erwerbstätig. Die Zahl stieg gegenüber dem Vorjahr so stark wie seit 2007 nicht mehr. »Damit setzte sich der seit 12 Jahren anhaltende Anstieg der Erwerbstätigkeit dynamisch fort.« Kurz danach meldete die Bundesagentur für Arbeit neue Daten – der Arbeitsmarkt habe sich auf »hohem Niveau … gut entwickelt«, auch im Jahresrückblick der Behörde ist von einer »sehr guten Entwicklung des Arbeitsmarktes« die Rede.

Klingt gut, ist aber nur das halbe Bild. Deshalb weisen Sozialverbände, Gewerkschaften und Teile der Opposition immer wieder auf die Schattenseiten hin. Erstens: Die Zahl der offiziell gemeldeten Erwerbslosen bringe nicht die ganze Wahrheit zum Ausdruck, nicht 2,4 Millionen Menschen sind ohne Erwerbsarbeit, sondern 3,4 Millionen – wenn man auch die in Maßnahmen »geparkten« und anderweitig nicht mitgezählten Arbeitslosen einberechnet.

Zweitens: Die rein statistische Lage am Erwerbsmarkt spiegele weder die Qualität der Arbeit, sage also auch nichts über die Folgen von zunehmendem Druck, von Arbeitsverdichtung und so fort, noch könne sie etwas über die verteilungspolitischen Auswirkungen aussagen. Dann wird auf die gewachsene Ungleichheit verwiesen, die zwar zu manchen die jeweiligen Berechnungsmethoden betreffenden Schaukämpfen führt, aber im Grunde ja unbestritten ist: Ganz oben wachsen Einkommen und Vermögen deutlich schneller als weiter unten.

Was wächst? Der Dienstleistungsbereich

Wer sich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Entwicklung der Erwerbstätigkeit genauer anschaut, wird auf die ungleiche Entwicklung in den Großsektoren stoßen: Die Zunahme betrifft fast ausschließlich den Dienstleistungsbereich (plus 4,4 Millionen seit 2005); im produzierenden Gewerbe (plus 351.000) und auf dem Bau (plus 216.000) stieg die Erwerbstätigenzahl nur leicht, in der Landwirtschaft ging sie sogar um 51.000 zurück.

Das ist ein schon lange anhaltender Trend, und doch könnte das, was sich hinter den »großen Zahlen« an Verschiebungen, an Auf- und Abstiegen, an veränderten Lebenswelten verbirgt, politisch durchaus größere Aufmerksamkeit erhalten. Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat das vor geraumer Zeit schon angemahnt, ein Jahresanfang mag ein guter Zeitpunkt sein, daran zu erinnern: »Die gesellschaftliche ›Mitte‹, die Normalität wird neu definiert, aufsteigende soziale Klassen verdrängen andere aus dem Zentrum von Politik und Gesellschaft. Statistiken wachsender sozialer Ungleichheit und ›Prekarierungsdebatten‹ vermögen diese Umwälzungen in Arbeitswelt, sozialen Milieus und ihrer wechselseitigen Beziehungen und Verbindungen ins politische Feld kaum einzufangen.«

Die Normalität wird neu definiert

Ein Blick in die Berufswelt und ihre Veränderungen, gewissermaßen das höher aufgelöste Bild von den oben skizzierten Veränderungen in der Arbeitswelt, zeigt gravierende Veränderungen. Noch einmal Kahrs: »Die wohl wichtigste Veränderung ist die Höherqualifikation des ›gesellschaftlichen Gesamtarbeiters‹, die ›Kompetenzrevolution‹.« Sie hat die noch Anfang der 1990er Jahre noch dominierenden Fachlehrberufe  gegenüber den un- und angelernten aber auch den höherqualifizierten Berufen ins Hintertreffen geraten lassen. Ihr Anteil sank zwischen 1991 und 2013 von 46 auf 29 Prozent – im gleichen Zuge nahm die Bedeutung von akademischen Berufen zu, die der ungelernten Berufe in bestimmten Teilbranchen. Genauere Daten hierzu finden sich bei Sonja Weber-Menges und Michael Vester, die in mehreren Studien die beruflichen Arbeitsteilung und die Prekarisierung der Erwerbsstruktur untersucht haben; zum Beispiel hier und hier.

Horst Kahrs macht auf die politischen Implikationen des Wandels der Arbeitswelt aufmerksam. Waren vor einem Vierteljahrhundert noch die Facharbeiter und Fachangestellten »die Mitte der Berufswelt«, und dominierten also ihre sozialen Milieus, ihre spezifischen Mentalitäten, Lebensentwürfe und Lebensführungsmodelle, so sind diese immer stärker unter Druck geraten und teilweise an den Rand gedrängt worden – was wiederum auf das Alltagsbewusstsein derer zurückschlug, die da ihren Status verloren gehen sahen.

Neuzusammensetzung des »gesellschaftlichen Gesamtarbeiters«

Unter Verweis auf Heinz Bude lässt sich hier der Bogen zurück zu den groben Zahlen schlagen, die erst einmal nur statistischen Zuwachs ausdrücken – aber von der widersprüchlichen Neuzusammensetzung des »gesellschaftlichen Gesamtarbeiters« nicht viel wissen können. Bude merkt an, das deutsche Produktionsregime habe eine »geradezu disruptive Kehrtwendung« vollzogen, deren Kern eine »neue Zusammensetzung von alten industriellen, neuen digitalen und vor allem erweiterten Dienstleistungskomponenten« sei. Kahrs ergänzend: »Die deutsche Exportindustrie liefere nicht mehr nur Maschinen, sondern zudem in flachen, team- und kundenorientierten Hierarchien zeitnah Wartung und Kundenbetreuung, die Beschäftigten seien gewöhnt, den Unternehmenserfolg zur eigenen Sache zu machen. Diese Reorganisation erhöhe nicht nur den psychischen Druck, sondern spalte die Gesellschaft doppelt: in Gewinner und Verlierer, wobei die Regeln der ›Leistungsgesellschaft‹ immer weniger gelten; und in eine ›Mehrheitsklasse, die sich vermehrt einfache Dienstleistungen zur Entlastung ihrer angespannten Lebensführung leistet, und einem neuen Proletariat, das diesen Haushalten auf unterschiedliche Weise zu Diensten ist‹.«

Die Zunahme im Dienstleistungsbereich hat eine kritische verteilungspolitische Komponente: Dort ist die Tarifbindung am geringsten. Generell scheint zu gelten: »Der tarifpolitisch gut regulierte Kern wird immer kleiner und die tarifschwachen und -freien Zonen immer größer«, wie die Linkspartei moniert.

Und das hat Folgen. Die »Berliner Zeitung« notierte vor einigen Wochen dazu: »Während die reale Kaufkraft der Tariflöhne zwischen 2000 und 2016 um fast 16 Prozent zulegte, stiegen die realen Bruttolöhne preisbereinigt um insgesamt nur sechs Prozent. Dabei gibt selbst diese Zahl nur einen Teil des Rückstands wieder. Denn in die Bruttolöhne insgesamt fließen auch die Tariflöhne ein und heben so das allgemeine Niveau an. Würden allein nicht tarifliche Arbeitsentgelte betrachtet, ergäbe sich eine noch deutlich größere Lücke.«

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