Besetzen, Widerstand leisten, produzieren
Betriebsbesetzungen gelingt, was vorher meist niemand glauben mochte. Rückeroberte Betriebe sind ökologischer und überleben auch im feindlichen Umfeld. Aus OXI 11/21.
Kurzarbeit, Entlassungen und Betriebsschließungen. Die drastischen Folgen der Covid-19-Pandemie sind jetzt schon zu spüren. Eine Rückkehr zu einer Situation wie vor der Pandemie wird es nicht geben. Wenn die staatlichen Überbrückungsgelder einmal auslaufen bzw. aufgebraucht sind, wird es zu Betriebsschließungen und Entlassungen kommen. Bleibt den Betroffenen dann keine Alternative, als auf einen neuen Job zu hoffen? Es geht anders.
In den vergangenen 20 Jahren wurden weltweit über 1.000 Betriebe von Arbeiter:innen besetzt und unter Selbstverwaltung weitergeführt. Zu diesen gehören u.a. Metall- und Schuhfabriken, Krankenhäuser, Druckereien, Hotels und Fast-Food-Restaurants. Einige Betriebe mussten sich neu erfinden und die Produktion umstellen. So geschehen in Lateinamerika. Im Zuge der Krise seit 2008 weiteten sich Betriebsbesetzungen jedoch über Lateinamerika hinaus aus. In den vergangenen Jahren gab es sie auch vermehrt in Europa.
Massive Betriebsbesetzungen begannen in Argentinien in der Finanzkrise 2000/01, die sich schnell in eine ökonomische, soziale und politische Krise verwandelte. Sie erfasste die stark mit Argentinien verknüpfte Wirtschaft Uruguays und führte dort ebenfalls zu Betriebsbesetzungen. Es folgten Besetzungen in Brasilien und Venezuela.
Ende 2021 gibt es in Argentinien über 430 »Rückeroberte Betriebe unter Arbeiterkontrolle« (RBA) mit etwa 15.000 Beschäftigten, in Brasilien sind es mindestens 78 Betriebe mit etwa 12.000 Beschäftigten und in Uruguay 22 Betriebe. In Venezuela existieren mindestens 50 RBA, die meistens von Arbeiter:innen und Communitys gemeinsam verwaltet werden. RBA entstanden in allen industriellen Sektoren (Metall, Textilien, Lebensmittel, Chemie und Baustoffe) sowie zunehmend im Dienstleistungsbereich (Gaststätten, Kliniken, Hotels und Transport) und den Medien. Hierzulande ist Vio-Me aus Thessaloniki in Griechenland der bekannteste RBA. Er produziert biologische Seifen und Reinigungsmittel.
Betriebsbesetzungen in Europa
Zwei weitere Beispiele aus Europa: Scop-Ti in Gémenos, Frankreich, und Rimaflow in Trezzano sul Naviglio, Italien. Scop-Ti, früher Fralib, gehörte zu Lipton (Unilever) und produzierte Kräuter- und Früchteteebeutel und die 120 Jahre alte lokale Marke Thé Eléphant. Im September 2010 beschloss Unilever, Produktion und Maschinen nach Polen zu verlagern. Die Arbeiter:innen reagierten schnell und besetzen den Betrieb, um den Abtransport der Maschinen zu verhindern. Sie forderten die Übernahme der Fabrik und Maschinen sowie der Traditionsmarke Thé Eléphant und planten, die Produktion auf Bio- und Naturaroma-Kräutertees mit vorwiegend regionalen Produkten umzustellen. Die Besetzung dauerte über drei Jahre. Zunächst beteiligten sich alle 182 Arbeiter:innen an der Besetzung. Doch die Zeit zehrte am Kampfgeist, einige zogen weg, andere gingen in Rente. Nach drei Jahren waren noch 76 Arbeiter:innen aktiv. Sie erreichten mehrmals die Annullierung der offiziellen Schließung und des in Frankreich obligatorischen Sozialplans. Unilever musste die Löhne zwei Jahre lang weiter bezahlen und willigte Ende Mai 2014 schließlich ein, insgesamt 20 Millionen Euro an die 136 Arbeiter:innen für die Gründung einer Genossenschaft zu zahlen, 7 Millionen Euro davon für Maschinen und Anlagen. Im Mai 2015 wurde die Ex-Fralib als Scop-Ti (Société Coopérative Ouvrière Provençale de Thés et Infusions) neu eingeweiht. Seit 2020 wird der notwendige jährliche Umsatz von vier Millionen Euro erreicht. Nach weiteren Verrentungen sind heute 42 Arbeiter:innen bei Scop-Ti tätig, die gemäß Branchentarifvertrag monatlich 1.600 bis 1.700 Euro netto (2 Einkommensgruppen) verdienen, während der Direktor 2.000 Euro erhält.
Die Arbeiter:innen bei Rimaflow mussten ihren Betrieb hingegen neu erfinden. Maflow wurde im Oktober 2010 an einen transnationalen Investor verkauft. Dieser war allerdings nur am Namen interessiert, reduzierte die Anzahl der Beschäftigten und schloss das Werk zwei Jahre später, ohne die Produktion wieder aufgenommen zu haben. Auch die Maschinen ließ er abtransportierten. Im Februar 2013 besetzten die ehemaligen Arbeiter:innen gemeinsam mit prekär Beschäftigten das Werk. Die alte Produktion konnte nicht fortgesetzt werden. 20 Arbeiter:innen begannen, zu experimentieren. Sie reparierten und recycelten Computer und Haushaltsgeräte, eröffneten eine Mensa, organisierten Kulturaktivitäten mit der Nachbarschaft; vernetzten sich mit Bio-Bäuer:innen, produzierten Bio-Soßen und Bio-Likör.
Ab 2017 konzentriert sich Rimaflow auf die erfolgreichste aller Aktivitäten: Herstellung von Likören und Schnäpsen und Weiterverarbeitung und Vertrieb von biologischen Lebensmitteln. Rimaflow steht im engen Kontakt mit verschiedenen sozialen Bewegungen und Organisationen. Ihr Zitronenlikör Rimoncello wird aus Bio-Zitronen von Genossenschaften hergestellt, die migrantischen Saisonarbeiter:innen faire Löhne und würdige Unterkünfte bieten. Vom Kräuterschnaps Amaro Partigiano geht ein Teil der Einkünfte an ein Zentrum für Partisanengeschichte und mit dem Wodka Kollontai werden Schutzräume von LGBT-Organisationen unterstützt.
Zwei Jahre lang verhandelte Rimaflow mit dem formalen Eigentümer, der Bank Unicredit, die letztlich doch einen Räumungsantrag stellte. Die Räumung im November 2018 konnte dank vieler Unterstützer:innen verhindert werden. Unicredit gestand Rimaflow sechs Monate Zeit zu, um eine neue Produktionsstätte zu suchen und bot zusätzlich 300.000 Euro. Mit weiterer finanzieller Unterstützung kaufte Rimaflow Anfang 2019 ein 9.000 m² großes Grundstück mit zwei verlassenen Fabrikhallen ganz in der Nähe und zog im Mai 2019 um. Mittlerweile stellt Rimaflow weitere Liköre her und liefert eine breite Palette von Bio-Produkten aus sozial verantwortlicher Produktion in Mailand und Umgebung. Allen 22 Arbeiter:innen wird der gleich Monatslohn von 1.500 Euro netto ausgezahlt. Während der schlimmsten Phase des Lockdowns organisierte Rimaflow aus Spenden die Versorgung von 5.000 armen Familien in den umliegenden Stadtteilen mit Lebensmittelpaketen.
Scop-Ti und Rimaflow, aber auch nahezu alle anderen RBA weltweit haben Gemeinsamkeiten. Die Besetzung als erster Schritt stellt das Privateigentum an Produktionsmitteln infrage. Aus dem ehemaligen Privateigentum wird dann kollektives soziales Eigentum. In allen Betrieben findet die Entscheidungsfindung durch demokratische kollektive Selbstverwaltung mittels Versammlungen statt. Einkommensunterschiede betragen meist höchstens 33 Prozent (außer in Brasilien) und folgen sozialen Aspekten. Die Betriebe sind mit anderen Bewegungen, sozialen und politischen Organisationen vernetzt und andere Arbeitskämpfe werden solidarisch unterstützt.
Die Produktion ist häufig ökologisch ausgerichtet. Zulieferer sind bevorzugt andere Kooperativen. Den meisten gelingt es, in einem feindlichen Umfeld zu überleben, obwohl der Ausgangspunkt ist, dass Unternehmer vorher aufgegeben haben.
Dario Azzellini: Vom Protest zum sozialen Prozess. Betriebsbesetzungen und Arbeiten in Selbstverwaltung Hamburg VSA 2018
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