Nachwuchs als »Rohstoff«
Reformen in der Bildung erhöhen den Leistungsdruck und scheren alles und alle über den gleichen Kamm. Aus OXI 3/21.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Für die meisten Kinder hat das zum ersten Mal in der Schule reale Konsequenzen. Hier müssen sie den Unterrichtsstoff in Schulklassen zusammen mit rund 30 Gleichaltrigen zur gleichen Zeit und im gleichen Takt aufnehmen. Der Lernerfolg wird ständig mit Hilfe von Schulnoten gemessen. Ausgehend von qualitativen Leistungen werden dabei abstrakte Zahlenwerte auf einer Skala von eins bis sechs vergeben. So wird etwa bei Deutsch-Aufsätzen genau geschaut, ob eine passende Überschrift gefunden wird, die Zeitform durchgehend eingehalten ist oder ob Wortwiederholungen vorkommen. Für all das gibt es Punkte, aus denen die Note errechnet wird. In ähnlicher Weise schlägt sich Verhalten im Unterricht in Zensuren nieder. Durch Noten werden alle Fächer und Inhalte formal gleich gemacht.
Kinder erleben Benotung als Zuschreibung von persönlicher Wertigkeit. Zensuren ergeben sich aber nicht wirklich aus individueller Leistung. Vielmehr handelt es sich hier um die Einordnung von Leistungen aller Schüler in eine formale Rangfolge. Was wirklich gemessen wird, ist also nicht die Leistung selbst, sondern das Verhältnis zwischen den Leistungen der Kinder. Dabei ist die Ausschöpfung der gesamten Notenskala verbindlich. In Bayern wurde im Juli 2018 eine Grundschullehrerin strafversetzt, weil alle ihre Schüler das Klassenziel erreicht hatten und niemand eine Eins oder Sechs bekam.
Den Schulnoten liegt die nach dem Mathematiker Carl Gauß benannte Verteilungskurve (kurz: Gauß-Kurve) zugrunde. Gauß formulierte sie eigentlich im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeitsverteilung von Zufallsvariablen in Bezug auf bereits existierende Tatsachen. Im Bildungssystem wird diese Kurve missbräuchlich angewendet, indem ihr Verteilungsschema als Ziel gesetzt wird, das erreicht werden muss. Der Notenschlüssel ist dabei so angelegt, dass sich aus ihm eine Gauß’sche Verteilung ergibt, bei der die Note drei am häufigsten vorkommen soll. Außerdem wird willkürlich festgelegt, dass die Noten breit gestreut sein müssen. Demnach muss es auch schlechte Noten geben. Das schafft unter den Schülern Konkurrenzbedingungen mit einer bereits feststehenden Anzahl von Gewinnern, Durchschnittlichen und Verlierern. Dabei steht von vornherein fest, dass eine bestimmte Anzahl der Kinder scheitert.
Neben den Noten spielen Barrieren im Bildungssystem eine große Rolle. Das sind namentlich der Übergang auf eine weiterführende Schule nach der Grundschule, der »Mittlere Abschluss« und das Abitur. An ihnen entscheidet sich, wie der weitere Weg im Bildungssystem verläuft. Je früher ein Kind dabei scheitert, umso weniger Möglichkeiten hat es künftig. Insgesamt wird bis zum Abitur knapp die Hälfte des Nachwuchses systematisch von weiterführenden Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen.
Noten und Barrieren gab es immer schon. Noch schlimmer wurde es, als sich im Herbst 2001 der sogenannte PISA-Schock ereignete. Auslöser war der PISA-Test, eine internationale Vergleichsstudie unter 65 OECD-Staaten, bei der die Mathematik-, Lese- und Schreibfähigkeiten von Schülern am Ende der Pflichtschulzeit getestet werden. Er fand 2001 erstmalig statt und wird seitdem alle drei Jahre wiederholt. Seine überaus simple Grundfrage lautet: »Wer bringt die besten Leistungen?«. Deutschland schnitt damals nur durchschnittlich ab. Das mochten deutsche Bildungspolitiker nicht auf sich sitzen lassen und verkündeten eine »neue Kultur der Anstrengung an den Schulen«. Es folgte eine Welle von Bildungsreformen. Eine davon war die möglichst frühe Einschulung der Kinder. Bis zu 50 Prozent fünfjährige Erstklässler sind seither in vielen Bundesländern die Regel. Warnungen von Ärzten und Kindertherapeuten, wonach früh eingeschulte Kinder häufiger als andere gesundheitliche und psychische Probleme bekommen, wurden damals ignoriert. Eine weitere gravierende Reform war die flächendeckende Einführung des verkürzten Abiturs nach 12 statt nach 13 Schuljahren. Mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz wurden seinerzeit alle Bundesländer von dem Wahn erfasst, ihre Gymnasiasten im Eiltempo zum Abitur zu hetzen. Die Folge war eine Verdichtung der Lernpläne und eine Verschärfung der Prüfungsanforderungen. Für die Schüler in der gymnasialen Mittelstufe bedeutete das, inklusive Hausaufgaben und Nachbereitung, ein Arbeitspensum von 50 bis 60 Stunden pro Woche. Die verkürzte Gymnasialzeit war allerdings sehr unpopulär und führte zur Abwahl etlicher Landesregierungen. Seit 2010 befindet sie sich daher auf dem Rückzug, ist aber bis heute nicht ganz verschwunden.
Auch der Ausbildungsmarkt ist anspruchsvoll geworden. Angeblich soll die Lage hier sehr entspannt sein. Laut offiziellen Zahlen standen 2019 578.205 freien Ausbildungsplätzen 549.528 Lehrstellensuchende gegenüber. Das ist jedoch eine Täuschung. Viele junge Menschen kommen nur in einer der sogenannten »Berufsvorbereitenden Maßnahmen im Übergangssystem« unter, die in die erste Zahl mit eingerechnet sind. Dabei handelt es sich um diverse Ersatzmaßnahmen, in denen ca. 300.000 junge Menschen aus verschiedenen Jahrgängen zwischengeparkt sind. Einen Berufsabschluss kann man dort nicht erwerben. Wer dort ein Jahr oder mehr verbringt, wird von der Statistik nicht mehr als Absolvent betrachtet und fällt fortan aus der Zahl der Lehrstellensuchenden heraus.
Viele echte Ausbildungsplätze bleiben dagegen unbesetzt. Die Arbeitsabläufe in den Betrieben werden immer komplizierter und voraussetzungsvoller. Statt die Lehrlinge selbst entsprechend zu qualifizieren, delegieren viele Unternehmen diese Aufgabe aus Kostengründen an das Bildungssystem, das damit aber heillos überfordert ist.
Nicht zuletzt besteht zwischen den Berufswünschen der Jugendlichen und den freien Lehrstellen eine enorme Kluft. Freie Stellen gibt es vor allem im Einzelhandel sowie in der Fleisch- und in der Gastronomiebranche. Bei dieser beschränkten Auswahl kann von freier Berufswahl kaum die Rede sein. In den Ausbildungsbetrieben herrschen außerdem häufig ein rauer Umgangston und gesetzeswidrig lange Arbeitszeiten; auch fachfremde Tätigkeiten sind keine Seltenheit. Fast jeder vierte Lehrling gibt daher vorzeitig auf (DGB-Ausbildungsbericht 2017).
Etwa die Hälfte eines Jahrgangs begibt sich an die Universität. Seit der »Bologna-Reform« sind auch dort Stress und Arbeitsdruck an der Tagesordnung. 1999 schlossen sich 29 europäische Staaten der Bologna-Deklaration an. Dabei ging es eigentlich nur um einen gemeinsamen europäischen Hochschulrahmen. Deutschland vollzog aus diesem Anlass aber die größte Hochschulreform seit 200 Jahren, schaffte die alten Diplom- und Magisterabschlüsse ab und führte stattdessen den Bachelor und den darauf aufbauenden Master ein. Die Lehre an den Universitäten wurde einem strengen Leistungsregime unterworfen. Hierzu wurden detaillierte Vorgaben über die Studienleistungen eingeführt. Die Arbeitsbelastung der Studierenden sollte fortan der eines Vollzeitbeschäftigten entsprechen, um belastbare Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt heranzuziehen. Diesem Ziel wurde die wissenschaftliche Qualifikation explizit untergeordnet. Außerdem wurde die Studiendauer stark verkürzt.
Mit den Änderungen ging eine starke Verdichtung des Lehrstoffs einher. Er wurde innerhalb von Modulen in kleine Einheiten zerlegt und muss seitdem in einer bestimmten Zeit präzise getaktet angeeignet werden. Dafür gibt es Kreditpunkte, die nach einer bestandenen Prüfung gutgeschrieben werden. Pro Semester müssen 30 Kreditpunkte erworben werden. Wer 180 Punkte gesammelt hat, kann sich zum Examen melden. Daneben gibt es noch die klassischen Zensuren, die seit der Reform vom ersten Semester an in die Endnote eingehen.
Die vollen Stundenpläne und festen Inhalte lassen kaum Freiheiten. Vertiefungen der Inhalte sind nicht prüfungsfähig und werden auch nicht unterrichtet. Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts vom Dezember 2016 sind 62 Prozent der Hochschullehrer der Ansicht, dass die Studierenden seit der Bologna-Reform kaum noch selbstständiges Denken ausbilden (Deutscher Hochschulverband 2016). Zudem brechen jedes Jahr fast 30 Prozent aller Hochschüler ihr Studium ohne Abschluss ab. Mit der Bologna-Reform ist also das Kunststück gelungen, die Studienqualität zu verschlechtern und zugleich die Studierenden zu überfordern.
Im Spätkapitalismus stellt der Nachwuchs eine Art Rohstoff dar, der möglichst passgenau aufbereitet werden soll, um ihn anschließend der Arbeitswelt zuzuführen. Folgerichtig ist das Bildungssystem darauf ausgerichtet, junge Menschen wie Werkstücke in einem Betrieb zu bearbeiten und dabei von einem Bildungsabschnitt zum nächsten weiterzureichen. Bildung nach Gesichtspunkten von Persönlichkeitsentwicklung, Kritikfähigkeit und selbständigem Denken findet dagegen kaum noch statt. Stattdessen herrschen Zeitdruck und Konkurrenz. Beide sind für gelingende Lernprozesse nicht notwendig. Wissen und Können legen nicht fest, in welcher Zeit sie verstanden werden und verlangen auch keine Leistungsvergleiche.
Seine Rechtfertigung bezieht das Diktat des gegenseitigen Vergleichs aus der Behauptung, dass jeder der Beste sein kann und die Schlechten selbst schuld an ihrem Scheitern seien. Das ist Unsinn. Aufgrund der missbräuchlichen Verwendung der Gauß-Kurve steht das Zahlenverhältnis von Gewinnern und Verlierern von vornherein fest und der jeweils eigene Erfolg ist nur möglich, indem man andere zu Verlierern macht. Der Missbrauch der Gauß’schen Normalverteilung führt außerdem zu einem Automatismus der ständig steigenden Konkurrenz. Wenn sich nämlich alle ständig anstrengen müssen, dann wird der Wert der Durchschnittsleistung laufend nach oben »korrigiert«.
Weil die jungen Menschen dabei zunehmend überfordert werden, entsteht bei ihnen das Gefühl, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung. Manche entwickeln aufgrund der daraus resultierenden Frustrationen Aggressionen, die sie dann gegen andere richten. Zum Beispiel in Form von Mobbing. Der Gedanke, dass ein Bildungswesen auch anders strukturiert sein könnte, kommt in dieser Atmosphäre kaum auf. Wie auch? Es trägt selbst ja nichts dazu bei, entsprechendes Gedankengut zu entwickeln.
Peter Samol hat Philosophie und Soziologie in Marburg studiert und an der Universität Jena promoviert. Er beschäftigt sich u.a. mit Theorien der Gerechtigkeit und Wertkritik und arbeitet als freier Journalist und Buchautor. U.a.: »Die Leistungsdiktatur – Wie Konkurrenzdruck unser Leben zur Hölle macht«, Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2021, www.krisis.org.
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