Keine Überhöhung des Bruttoinlandsproduktes
In der Pandemiebekämpfung ist das Wirtschaftswachstum zweitrangig. Die Berechnung des BIP stellt ohnehin ein Problem dar.
Zum Ende des Quartals versuchen sich in dieser Woche erneut verschiedene Wirtschaftsinstitute der Bundesrepublik an einer Prognose des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Zwei der führenden Forschungsstätten, das Münchener Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) und das von Arbeitgeberverbänden finanzierte Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW), senken dabei ihre Erwartungen. Sie rechnen nun mit einem Wachstum von drei statt zuvor geschätzten vier Prozent (IW) beziehungsweise 3,7 statt 4,2 Prozent (ifo). Die Volkswirtschaft sei „zunehmen gespalten“, warnen die Kölner. Positiver ist das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) gestimmt: „Wir sind deutlich zuversichtlicher als viele der anderen Institutionen“, schreibt der Direktor vom IMK, Sebastian Dullien, auf Twitter. Seine Schätzungen prognostizieren ein BIP-Wachstum von 4,9 Prozent.
Der Grund für die revidierten Prognosen ist offensichtlich: Die Corona-Pandemie zieht sich. „Der Lockdown wird bis nach Ostern verlängert, das Impfen stockt, Menschen konsumieren wenig und Unternehmen investieren noch nicht wie vor der Krise“, so das IW. Das hat selbstverständlich einen Einfluss auf den Indikator für das gesamtwirtschaftliche Wohlbefinden: Das BIP. Doch ist es überhaupt sinnvoll, gesellschaftliche Entwicklungen in der Pandemie an einer volkswirtschaftlichen Kennzahl zu messen? Führt eine gute Krisenführung zu einem schnelleren Anstieg des BIP und kann somit als Indikator dafür benutzt werden? Und generell: Geht es uns allen in der Pandemie besser, wenn das BIP steigt?
Das BIP reflektiert die Ideologien der jeweiligen Ära
Bevor Alternativen zu diese Wohlstandsmessung diskutiert werden können, muss man erstmal erklären, was das BIP überhaupt ist. Es lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln berechnen: Erstens über die Produktion als Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen. Zweitens über die Einkommen als Summe sämtlicher Einkommen. Und drittens über die Nachfrage als Summe aller konsumierten Güter und Dienstleistungen. Was wird dabei allerdings addiert? Und was davon ist für die Gesellschaft „wertvoll“?
Diese Frage behandelt die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem Bestseller „Wie kommt der Wert in die Welt?“ aus dem Jahr 2019. „So lange Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt einen Preis erzielen, verdienen sie die Aufnahme ins BIP“, beschreibt sie die aktuelle Rechnung. Das entspräche der neoklassischen Theorie der Grenznutzen nach der alles, was auf einem Markt einen Preis erzielt, auch einen Wert hat. Messungen dieser Art reflektierten immer Ideen, Theorien und Ideologien der jeweiligen Ära, so Mazzucato. Das Problem für sie bei der Aufnahme aller Güter ins BIP: „Ob sie zum Wert beitragen oder lediglich Wert abschöpfen, wird dabei ignoriert.“ Produkte, die sozialen Schaden nach sich ziehen, aber verkauft werden, rechnen die Ökonom:innen in den BIP-Indikator mit ein. Die Wirtschaft wächst.
Das lässt sich am allgegenwärtigen Beispiel der Masken-Affäre veranschaulichen. Wegen Korruption und einem unvollkommenen Markt in einer Krisen-Situation kaufte der Staat zu einem viel höheren Preis Schutzmasken als sie ‚wert‘ sind. Durch diese definitiv nicht effiziente Maßnahme steigt das BIP im Vergleich zur Situation mit niedrigeren ‚fairen‘ Preisen (was auch immer das ist). Der Staat hat mehr ausgegeben, das sind gleichzeitig die höheren Einnahmen eines Unternehmens. Hat sich der Wert für die Gesellschaft erhöht? Vermutlich nicht.
Keine Überhöhung des Sozialprodukts
Nach Mazzucato ist der Staat als Ziel von Kritik bezüglich der Ineffizienz allerdings falsch gewählt. Eher ist es umgekehrt: „Staatliche Leistungen werden vielmehr zu niedrigen ‚marktunüblichen‘ Preisen zur Verfügung gestellt“, konstatiert die Wirtschaftswissenschaftlerin, die eine Professur für Innovationökonomie in London innehat. Das sei nicht per se schlecht, sondern der Staat schaffe so durch Bildung, Infrastruktur und ähnliche Angebote die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum. Aber: Da Ökonom:innen nur die Ausgaben des Staates im BIP einbeziehen, sei er per Definition in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung unproduktiv.
Was heißt das für die Bewertung des BIP als Indikator für gutes staatliches Agieren in der Pandemie? Lediglich indirekt fasst es ein effektives Krisenmanagement über die staatlichen Ausgaben mit ins Auge. Die Wirtschaft erhole sich und wachse, wenn das Virus bekämpft wird, so die Annahme. Ein effektiver Kampf gegen die Pandemie, beispielsweise durch eine ZeroCovid-Strategie und einen wirklichen Lockdown, würde allerdings sicherlich zunächst der Wirtschaft schaden, aber nicht der Gesellschaft in Gänze. Ein gutes Leben für alle lässt sich nicht über das BIP messen. Nicht nur in der Krise ist das Inlandprodukt nicht geeignet, um wertvollen Wohlstand anzugeben. Also: Keine Überhöhung!
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