Wirtschaft
anders denken.

Besetzung oder Obdachlosigkeit

26.01.2023
Skyline von Sao Paulo (Brasilien)Foto: RenanWährend die Innenstadt von São Paulo glänzt, leben an den Rändern der Stadt Menschen ohne Wohnung.

In der Megametropole São Paulo, aber auch außerhalb der großen Städte leisten verschiedene Bewegungen in Brasilien Widerstand gegen die Ausgrenzung auf dem Wohnungsmarkt. Aus OXI 1/23.

Verônica ist wütend. Am Morgen seien die Polizei und Mitarbeiter:innen der Wasserwerke angerückt, hätten Bewohner:innen bedroht und die Strom- und Wasserleitung gekappt. »Wir sind doch keine Kriminellen«, schimpft die kleingewachsene 48-Jährige, die ihren Nachnamen nicht nennen will. »Wir sind Arbeiter.« Sie steht vor einem mehrstöckigen Gebäude im Zentrum São Paulos. Aus mehreren Fenstern hängen rote Fahnen, auf einem Transparent steht: »Keine Frau ohne Wohnung«. Davor hat sich ein Spalier aus Polizist:innen aufgebaut.

Es ist Anfang November. Einige Tage zuvor hatten rund 150 Familien das Gebäude am heruntergekommenen Paissandú-Platz besetzt. Die Bewohner:innen sind in der Bewegung Frente de Luta por Moradia (Wohnungskampffront, FLM) organisiert, die mehrere Gebäude in der Innenstadt besetzt hält. Die meisten der Besetzer:innen lebten vorher auf der Straße, viele sind alleinerziehende Mütter, etliche kommen eigentlich aus anderen Bundesstaaten. Was alle verbindet: Besetzungen sind die einzige Möglichkeit, an Wohnraum zu kommen. »Wir brauchen doch ein Dach über dem Kopf«, sagt Verônica. »Sonst landen wir wieder auf der Straße.« Seit mehr als 20 Jahren ist sie in der FLM organisiert, war an mehreren Besetzungen beteiligt. Die Aktionen ihrer Bewegung seien legitim, meint sie. Denn die besetzten Gebäude stünden lange Zeit leer, seien reine Spekulationsobjekte. Im aktuellen Fall soll ein Räumungsbefehl vorliegen. »Doch als die Polizei anrückte, konnte sie keine Papiere vorzeigen«, schimpft Verônica. Ein klassischer Fall in São Paulo.

Arme Bewohner:innen der Megametropole leisten seit langem Widerstand gegen Ausgrenzung. Es gibt eine Tradition der Hausbesetzungen und auch rechtliche Möglichkeiten, Wohnraum einzufordern. Ende der 1980er Jahre bildete sich im Zuge der Rückkehr zur Demokratie eine urbane Reformbewegung. Favela-Organisationen, Bürgerrechtsgruppen und Nichtregierungsorganisationen kämpften damals gemeinsam für Verbesserungen in den Städten, durchaus mit Erfolg. Viele Forderungen der Aktivist:innen wurden in die progressive Verfassung von 1988 aufgenommen. So legen Artikel 182 und 183 soziale Grundsätze der Stadt fest: Häuser und Freiflächen müssen demnach eine soziale Funktion erfüllen, und Eigentümer:innen können notfalls enteignet werden, wenn dies nicht der Fall ist. Auch bietet die Verfassung wichtige Ansätze zur Legalisierung informeller Siedlungen. Das 2001 verabschiedete Stadtstatut-Gesetz setzt die Verfassungsgrundsätze um – zumindest theoretisch, denn Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. In der Praxis stehen in São Paulo und anderen brasilianischen Städten Tausende Häuser leer, damit sie später zu einem höheren Preis weiterverkauft werden können. Die Verbindungen zwischen Justiz, Investor:innen und Immobilienspekulant:innen sind ein offenes Geheimnis. Das bestätigt auch Raquel Rolnik, Urbanistin und ehemalige UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenes Wohnen: »Die juristischen Instrumente, die in der Verfassung und im Recht verankert sind, werden in der Praxis einfach nicht angewendet.«

Die extreme soziale Ungleichheit ist charakteristisch für São Paulo. Während in vielen zentralen Stadtteilen moderne Bürotürme, Einkaufszentren und bewachte Wohnanlagen das Stadtbild bestimmen, leben Millionen von Menschen in den benachteiligten Randbezirken. Die Wohnungsnot ist riesig: Laut Statistiken haben Hunderttausende Menschen im Großraum São Paulo keine Wohnung oder leben in inadäquaten Wohnverhältnissen. Gleichzeitig stehen Zehntausende Wohneinheiten leer.

Anfang der 1990er Jahre entstanden die ersten Wohnungslosenbewegungen in der größten Stadt der Südhalbkugel. Arme Familien, vor allem Migrant:innen aus anderen Bundesstaaten, schlossen sich zusammen und versuchten durch Besetzungen urbanen Leerstand für sich nutzbar zu machen. Der damals neue verfassungsrechtliche Rahmen erweiterte dabei die legalen Möglichkeiten. Die Aktivist:innen nahmen vor allem das historische Zentrum São Paulos ins Visier. Die zunehmende Segregation und das Abwandern des Handels hatten in den 1980er Jahren zu einem schleichenden Verfall der Innenstadt geführt. Das Zentrum entwickelte sich zu einem »vergessenen Ort«. Tausende Gebäude standen leer, ein Glücksfall für die Wohnungslosen. Die Besetzungen sind politischer Protest gegen eine verfehlte Stadtpolitik, bieten gleichzeitig aber vielen Familien eine praktische Alternative.

Die stetig wachsende Wohnungsnot sorgte in den vergangenen Jahren für einen Zulauf zu den Bewegungen. Heute sind die Besetzungen fester Bestandteil des Stadtbildes von São Paulo. Fahnen und Transparente markieren die Häuser schon von weitem. Die Eingänge sind verbarrikadiert und werden rund um die Uhr von den Besetzer:innen bewacht, Einlass erhält man nur mit Genehmigung. Das Zusammenleben ist meist klar geregelt: Alkohol und Drogen sind tabu. Gewalt wird nicht geduldet und mit dem Ausschluss geahndet. Die Kinder müssen in die Schule gehen, und die Teilnahme an den Sitzungen sowie Treffen der Bewegung ist für alle Besetzer:innen Pflicht. Für die improvisierte Strom- und Wasserversorgung zahlen die Familien, einige Besetzungen öffnen ihre Türen regelmäßig für Außenstehende. Die Besetzung »9 de Julho«, die einen Gebäudekomplex umfasst, hat sich zu einem der wichtigsten alternativen Kulturorte São Paulos entwickelt. Dort finden jeden Tag Konzerte, Theater- und Kinovorführungen statt. Außerdem gibt es Workshops und eine Ausstellung im Keller.

Allerdings ist die Zukunft vieler zentral gelegener Besetzungen bedroht. Denn die Innenstadt ist in den vergangenen Jahren wieder in den Fokus von Investor:innen gerückt, und auch die alternative Szene hat das Zentrum für sich entdeckt. Mit schwerwiegenden Folgen: Die Gentrifizierung schreitet voran, und die eingeleitete »Revitalisierung« verdrängt oft ärmere Bewohner:innen. Regelmäßig kommt es zu gewaltsamen Räumungen von Besetzungen, obwohl sie faktisch legal sind. Die meisten Gebäude stehen danach als Spekulationsobjekte leer. Dagegen lässt sich nur wenig ausrichten – das Immobilienkapital erscheint als übermächtiger Gegner. Den Familien, deren Wohnraum geräumt wurde, bleibt keine andere Alternative, als sich wieder am Stadtrand niederzulassen.

Doch auch dort leisten Bewegungen Widerstand, unter anderem die MTST, die »Bewegung der Arbeiter:innen ohne Dach«. Diese wurde Mitte der 2000er Jahre gegründet, nachdem sie sich von der Landlosenbewegung MST gelöst hatte. Heute ist sie die größte Wohnungslosenbewegung des Landes und gilt als eine der wichtigsten linken Stimmen in Brasilien. Der MTST-Aktivist Guilherme Boulos wurde vor zwei Jahren fast zum Bürgermeister São Paulos gewählt und sitzt seit Januar im Bundesparlament. Auch andere Aktivist:innen haben in linken Parteien politische Karrieren gemacht. »Wir wollen dort aktiv sein, wo die armen Menschen wohnen, nämlich vor allem in der Peripherie«, erklärt Josué Rocha, Arzt und einer der Koordinator:innen der Bewegung. Mit den Besetzungen will die MTST gleichzeitig politischen Druck aufbauen und Wohnraum erkämpfen. Ist ein Gelände besetzt, beginnen die Verhandlungen. Das Ziel: der Bau von Wohnungen in Eigenregie. Es sind oft mühsame Verhandlungen, und in den letzten vier Jahren musste die Bewegung viele Abwehrkämpfe führen.

Die Amtszeit des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro war für soziale Bewegungen eine Katastrophe. Der Hauptmann der Reserve setzte alles daran, linke Bewegungen zu kriminalisieren. Immer wieder teilte er auch gegen Wohnungslosenbewegungen aus und legte die Axt an, etwa als er das 2009 eingeführte staatliche Wohnungsbauprogramm Minha Casa, Minha Vida (Mein Haus, mein Leben) aussetzte. Das neu eingeführte Programm Casa Verde e Amarela (Haus Grün und Gelb) steht massiv in der Kritik: Es seien viel zu wenig Wohnungen gebaut worden, die ärmsten Brasilianer:innen hätten keinen Zugang zu dem Programm. Auch in anderen Bereichen wurden Sozialprogramme gestrichen und unpopuläre Maßnahmen umgesetzt. Die neoliberale Politik – und zum Teil auch die Corona-Pandemie – hat im größten Land Lateinamerikas verheerende Auswirkungen.

Sie sind überall sichtbar, auch in São Paulo sieht man Familien, die in Zelten an Straßenecken hausen. Im Supermarkt betteln junge Mütter darum, dass man ihrem Baby ein Tüte Milch kauft. Es gibt Menschen, die sich von Fleischabfällen ernähren, und Schulkinder, die nicht ausreichend ernährt im Klassenzimmer kollabieren. Laut Statistiken sollen bereits 33 Millionen Brasilianer:innen hungern. Eine Studie der Kampagne Despejo Zero (Keine Räumung), in der 175 Organisationen und soziale Bewegungen organisiert sind, fand kürzlich heraus, dass mehr als 800.000 Menschen vor der unmittelbaren Räumung stehen. Die Wohnungsfrage hat sich auch in Brasilien zu einem der zentralen Themen entwickelt.

Deshalb setzen viele ihre Hoffnung auf die neue Regierung unter dem Sozialdemokraten Luiz Inácio Lula da Silva. Der ehemalige Gewerkschaftsführer versprach, die Bekämpfung der Armut und des Hungers zur Chefsache zu machen, und deutete an, das Wohnungsbauprogramm Minha Casa, Minha Vida wieder einzuführen. Allerdings bewegte sich Lula im Wahlkampf politisch auch deutlich zur Mitte. Der Spielraum für größere Transformationen dürfte klein sein. Denn die Rechte ist trotz Bolsonaros Abwahl weiterhin stark, seine Partei stellt die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus. Lula wird im traditionell zersplitterten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen und seinen konservativen Koalitionspartner:innen viele Zugeständnisse machen müssen. Außerdem konnten sich seine Gefolgsleute in vielen Bundesstaaten durchsetzen. In den drei größten Bundesstaaten – São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais – regieren künftig Bolsonaro-Unterstützer:innen. Das sind auch für die Besetzer:innen in São Paulo keine guten Nachrichten. Trotzdem ist bei vielen die Hoffnung groß, dass es im krisengebeutelten Land einen Aufbruch geben wird – und irgendwann alle ein Dach über dem Kopf haben.

Niklas Franzen ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Brasilien. Rund um die Präsidentschaftswahl 2022 hielt er sich mehrere Monate lang in dem Land auf. Er ist Autor des Buches »Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte«, Assoziation A, Berlin/Hamburg, 2022.

Geschrieben von:

Niklas Franzen

Freier Journalist

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