Wirtschaft
anders denken.

Wenn aus dem Lohnabstandsgebot ein Armutsdiktat wird

05.12.2023
Bürgergeld-StempelFoto: Tim Reckmann / ccnull.de

Bei der Debatte über die Höhe des Bürgergeldes werden die etwas weniger Armen gegen die ganz Armen ausgespielt. Ein Buch beschreibt, wer davon profitiert und wie es anders ginge.

564 Euro pro Monat für eine alleinstehende Person. Das soll ab Januar 2024 die Höhe des monatlichen Bürgergeldes sein – vorausgesetzt Friedrich Merz oder Carsten Linnemann schaffen es nicht vorher noch in die Regierungsverantwortung. Dann nämlich, so lässt es die derzeit mal wieder auch Hochtouren laufende AFD-CDU-CSU-FDP-Arbeitgeber-Propagandamaschine ahnen, würde hier, am Existenzminimum, noch mal ordentlich gekürzt. Die Begründung fürs angeblich alternativlose Sparen bei den Armen ist seit Jahren die gleiche: Lohnabstandsgebot. Das klingt zwar wie ein in Stein gemeißeltes Gesetz aus Moses‘ biblischen Tagen, ist jedoch tatsächlich nur eine seit Jahrzehnten gepflegtes Konstrukt. Es nützt allen, die von niedrigen Löhnen profitieren. Weil sie denjenigen, die mit diesen zu niedrigen Löhnen auskommen müssen, das Gefühl vermittelt, dass es immer noch schlimmer kommen könnte. Was als Drohung offenbar ebenso wirksam ist wie als Trostpflaster. Weshalb es PR-Profis, Berater:innen und Agenturen gibt, die nach Kräften daran arbeiten, dieses profitable »Gebot« stets auf neue ins Gespräch zu bringen: Aktuell gerade durch die Behauptung, die dringend benötigten Fachkräfte im Bäckereihandwerk und anderswo würden nun alle lieber Bürgergeld beantragen und ausschlafen, statt die verlangten kleinen Brötchen zu backen.

Medienprofis und die Hatz aufs Bürgergeld

Der Deutschlandfunk immerhin gab Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Gelegenheit, der Propaganda ein paar Fakten entgegenzusetzen:

a) die zum Jahreswechsel wirksame werdende Bürgergeld-Erhöhung um 60 Euro entspricht noch nicht mal dem Inflationsausgleich. Weswegen b) jede zum ebenfalls steigenden Mindestlohn arbeitende Person selbstverständlich mehr Geld hat. Falls diese Person aus welchen Gründen auch immer weniger verdient, hat sie c) Anspruch auf ergänzendes Bürgergeld. Zu dieser Gruppe zählen d) fast eine Millionen der 5,4 Millionen Bürgergeld-Empfänger:innen. Was ein Hinweis darauf sein sollte, dass es e) tatsächlich ein Abstandsproblem existiert, nämlich zwischen zu niedrigen Löhnen und zu hohen Preisen.

Leider fand dieses Aufklärungsgespräch morgens um 6.50 Uhr statt, also zur besten Fachkräfte- und Leistungsträger:innen-Zeit. Deshalb verhallt es vermutlich deutlich schneller als das Halali, mit dem Medienprofis gerade mal wieder zur Hatz aufs Bürgergeld blasen. Umso erwähnenswerter ist es, dass eine von ihnen, Claudia Cornelsen, ihre Talente und Fähigkeiten anders einsetzt. Gemeinsam mit Helena Steinhaus kämpft sie seit Jahren im Verein »Sanktionsfrei« nicht gegen, sondern auf Seiten derjenigen am Existenzminimum. Aus dieser Arbeit – die von Sozialberatung über juristische und finanzielle Unterstützung bis zu cleveren Medienkampagnen reicht – ist kürzlich ein Buch entstanden. Sein Titel, »Es braucht nicht viel«, erinnert bewusst an Spendenaufrufe, die ans schlechte Gewissen der in der Überflussgesellschaft Lebenden appellieren, um Ihnen milde Gaben aus der Tasche zu ziehen. Doch das Thema des Buchs ist eben kein moralisches, sondern politisch: »Wir wollen bloß gemeinsam mit Ihnen darüber nachdenken, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben wollen.« Dazu schlagen die beiden Autorinnen einen Plauderton an, der in derartigen Debatten eher selten ist, und deshalb umso wirkungsvoller. Denn selbstverständlich haben sie Recht, wenn sie zu Anfang fragen »Was tun mit einem Thema, das so anstrengend wie trostlos ist? Das will man doch nichts auch noch als Einschlaflektüre auf dem Nachtisch liegen haben.« Also haben sie eine Art Roadmovie durch den real-existierenden Sozialstaat geschrieben, unterfüttert von allergrößter Sachkenntnis, gewonnen sowohl durch die praktische Arbeit von »Sanktionsfrei«, akribische Recherche und nicht zuletzt eben ein Insider-Verständnis davon, wie es so läuft in der politischen PR-Betrieb der wohlhabenden Partien und Verbände.

Falsche Berechnungen stützen das Geschäftsmodell

Es geht um gefälscht Zahlen und Berechnungen, mit denen CSU wie AfD gegen Armutsbetroffene Stimmung machen, und die sie auch dann nicht von ihren Kampagnen-Webseiten entfernen, wenn ihnen die Falschheit ihrer Berechnungen nachgewiesen wurde. »Fleischermeisterin Nora«, der das Qualitätsblatt »Die Zeit« ebenso Raum für ihren Ärger über »Vollzeit-Nichtstun« einräumte wie diverse Talkshows, entpuppte sich als Vorstandsmitglied der Wirtschafts- und Mittelstandsunion in Sachsen. Doch während solche Taschenspielertricks in anderen Politikfeldern möglicherweise für echte Empörung sorgen würden, hält sie sich in engen Grenzen, solange es um die »Abbruchkante der Armut« geht. »Sozialstaatsreformen sind einfach kein Wahlkampfschlager, erst recht nicht, wenn man mit der wichtigsten Maßnahme, einer simplen Erhöhung des Regelsatzes, das Gros der Unternehmen gegen sich aufbrächte, deren Geschäftsmodell nun mal auf möglichst billigen Arbeitskräften basiert.« Diesem Urteil der Autorinnen ist wenig hinzuzufügen. Dass sich bei der Lektüre statt Schulterzucken eine gute Wut einstellt, liegt vor allem an den Erfahrungsberichten und Details aus dem real-existierenden Hartz IV/ Bürgergeld-Bezug: Nachzahlungen für den Strom der Nachtspeicherheizung, den die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern aus dem Regelsatz abstottern soll. Die gesammelten Geldgeschenke, mit denen sich der aufstockende Rentner zum 70sten ein E-Bike kauft. Was das Jobcenter ihm dann in kleinen Raten monatlich wieder abzieht. Die kafkaesken Formulierungen in den Schreiben der Jobcenter. Die willkürlichen Kürzungen an den Berechnungsgrundlagen des Regelsatzes in der Vergangenheit, die zeigen, dass stets nach Wahlkampfklima und Kassenlage entschieden wurde und nie nach dem, was hierzulande ein Existenzminimum darstellt. Das alles lässt absolut nichts Gutes erhoffen für die nahe Zukunft – schon gar nicht für diejenigen, die nicht in diesem Land geboren wurden, und denen die von der AFD inspirierte CDU /CSU jetzt die Leistungen gerne noch unter das unzureichend ausgerechnete Existenzminimum senken möchte.

Ein Buch für den Gabentisch

Weil Wut allein ja nicht weiterhilft, haben Claudia Cornselsen und Helena Steinhaus sich in ihrem Buch außerdem die Mühe gemacht, für jedes der beschriebenen Probleme eine naheliegende Lösung anzubieten: Von realistischer Regelsatzberechnung (ungefähr 750 bis 800 Euro) über verständliche Jobcenter-Briefe –für die sie geradezu Templates vorformuliert haben – und pragmatische Regelungen, die verhindern würden dass sich kleinen Problemen zu existenziellen Krisen auswachsen, bis zu einem grundsätzlich anderen Menschenbild.

Deshalb ist dieses Buch wirklich ein ideales Weihnachts-Geschenk– ganz am Ende gibt es sogar ein »Bürgerhartz-Quiz«, mit dem sich die Familienrunde auflockern lässt. Und für die FDP-Anhängerinnen in der Verwandtschaft erzählen die Autorinnen eine bezeichnende Anekdote über das von Christian Lindern mit zwei Kumpels 2000 gegründete Start-Up »Moomax GmbH«. Nicht nur hatten der Oberstudienrats-Sohn und seine ebenfalls aus gutem Hause stammenden Freunde keine Probleme, mit Anfang 20 die nötigen 30.000 € Startkapital zusammenzubringen. Sie hatten außerdem die nötigen Kontakte, um einen Investor für zwei Millionen Euro Risikokapital zu bekommen, das größtenteils aus einem Programm der staatlichen KfW-Bank stammte. »Die von Christian und seinen Freunden investierten 10.000 Euro pro Kopf flossen binnen kurzem als Geschäftsführergehalt wieder an die Boygroup zurück. Das von viel Tamtam begleitete Geschäftsmodell erwies sich jedoch schnell als heiße Luft. Im Januar 2002 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Moomax war pleite und die zwei Millionen Euro waren futsch.« Während es für die Moomax-Mitarbeitenden nach derart kurzer Zeit noch nicht mal für Arbeitslosengeld reichte, war Christian Lindner damals schon in den NRW-Landtag eingezogen. Seither lebt er von Diäten und seinen Nebeneinkünften, bei denen er, bevor er Finanzminister wurde, im Bundestag eine Spitzenposition hielt. »In den Jahren 2018 bis 2020 hat er allein durch Vorträge bei privaten Veranstaltungen 424 000 Euro zusätzlich kassiert.«

Helena Steinhaus, Claudia Cornelsen: Es braucht nicht viel. Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen. S. Fischer 2023

Geschrieben von:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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