Wirtschaft
anders denken.

Bürgerlich, besserverdienend, schnurzegal? Zur Klischeeologie der Grünen

25.06.2019
Foto: Joehawkins / Lizenz: CC BY-SA 4.0Grünen-Büro in Dortmund

Wie links sind eigentlich die Grünen? Und was ist der Maßstab für so eine Frage? Ein paar Gedanken zur sozialen Differenzierung der neuen Wählerschaft, zu veralteten Daten und zur politischen Nützlichkeit des Vorwurfs, die Ökopartei wäre eine der Besserverdienenden.

Wie links sind eigentlich die Grünen? Und was ist der Maßstab für so eine Frage? Der Aufstieg der Ökopartei in Umfragen und bei Wahlen wird begleitet von kritischen Hinweisen aus verschiedenen Richtungen. Von weiter links aus hört man immer wieder, die Grünen hätte sich längt von ihrer linken Vergangenheit abgelöst, dass man sie als »die linksgrünen Weltverbesserer« bezeichne, sei bloß noch ein Vorurteil: »Die Grünen sind in ihrer Haltung alles andere als links. Der Grünen-Wähler ist meist bürgerlich und gehört zur Mittelschicht«, so etwa Yasmine M’Barek in der »tageszeitung«, vom sozialdemografischen Zahlenbefund wird direkt auf ein angebliches politisches Kollektivdenken geschlossen: »gebildet, aber über alles erhaben, vor allem über jene unterhalb der Mittelschicht«.

Auch bei der Linkspartei und den Sozialdemokraten trifft man auf eine ähnliche Art der Grünen-Kritik. Der SPD-Übergangsvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel ließ sich unlängst mit der Anmerkung ein, »den Grünen ist die soziale Frage schnurzegal. Sie spielt überhaupt keine Rolle in ihrer Programmatik«. Der Vorwurf kam zeitlich etwas unpassend, die Grünen hatten da gerade ein Konzept zur Kindergrundsicherung vorgestellt, und es war ihnen auch sonst nicht schwer, auf sozialpolitische Forderungen im eigenen Programm zu verweisen und das »faktenfreie Gelaber« (Jürgen Trittin) aus der SPD abtropfen zu lassen. Die Grünen, so deren sozialpolitischer Sprecher im Bundestag, Sven Lehmann, würden seit Jahren »für einen gerechten Arbeitsmarkt, gegen Armut, für Sicherheit bei Pflege, Gesundheit und Rente« arbeiten.

Die Motive der Grünen-Kritik

An dieser Stelle setzen regelmäßig zwei politische Echomaschinen ein – von der einen Seite wird auf die »neoliberale Bilanz« der rot-grünen Bundesregierung verwiesen, immerhin saßen die Grünen mit am Kabinettstisch, als die Agenda 2010 durchgesetzt wurde; von der anderen Seite wird stattdessen an den Wahlkampf 2013 erinnert, als die Grünen – ebenfalls nach einem, damals durch die Reaktorkatastrophe von Fukushima angetriebenen Aufschwung – umverteilungspolitische Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz, mehr Erbschaftsteuer und einer Vermögensabgabe in die Bundestagswahl zogen und »nur bei 8,4 Prozent« landeten. Was hier gemeint ist: »Die Pläne der Grünen kosten Milliarden«, da die Anhängerschaft der Partei aber überdurchschnittlich gut verdienend ist, laufe das Ganze darauf hinaus, »die eigenen Wähler zur Kasse zu bitten«.

Diese Erzählung ist auch in der Vergangenheit gern vorgetragen worden, weniger aus sozialwissenschaftlicher Neugier, eher sollten solche »Warnungen« dazu beitragen, die Umfragewerte der Grünen wieder zu drücken. Man darf vermuten, dass es dabei nicht bloß um die Interessen eben dieser WählerInnen geht, sondern auch um die anderer.

Man könnte an dieser Stelle ein paar Mutmaßungen über die Motive der Grünen-Kritik anstellen. Wenn zum Beispiel Schäfer-Gümbel behauptet, »sie präsentieren sich als fortschrittliche Kraft, aber sie sind keine fortschrittliche Kraft«, könnte ja ein grundlegend anderes Verständnis von Fortschritt hinter dem Dissens stehen. Wenn von links den Grünen ihre Selbstveränderung vorgehalten wird, könnte die Frage auftauchen, wer zu dieser Art linker Türsteherei eigentlich legitimiert ist – wer entscheidet, was »richtig links« sein darf? Abgesehen davon, ließe sich fragen, ob sich die Grünen, deren frühere Veränderungen man beklagt, sich nicht auch wieder und abermals neu orientieren könnten, zum Beispiel aus Einsicht oder weil die Zeiten andere geworden sind und mit ihnen die Interessenslagen, die in einer Partei wie den Grünen repräsentiert sind. Kann man von Boris Palmers Eskapaden auf die Vorstellungen der Wählerschaft schließen? Ist die Zustimmung zu mehr Klimaschutz etwa schlechter, wenn man diese bei Leuten mit höheren Einkommen findet? Wäre eine grüne Partei, in deren Anhängerschaft sich mehr Arbeiterklasse finden lässt, schon deshalb eine bessere?

Aber hier soll es eher um Zahlen gehen. Die oben genannten Beispiele für eine bestimmte Sicht auf die Grünen begründen ihre mehr oder minder kritischen Positionen mit empirischen Hinweisen. »Der Grünen-Wähler ist meist bürgerlich und gehört zur Mittelschicht. Das geht aus dem ›Handbuch Parteienforschung‹ von Probst aus dem Jahre 2013 hervor«, heißt es da unter anderem. 2013! Oder es wird auf eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2017 verwiesen, laut der die Grünen-Wählerschaft mit 3.000 Euro im Monat das zweithöchste mittlere Einkommen im Parteienspektrum hat. »72 Prozent der Grünen-Wähler sind Angestellte, 10 Prozent Beamte, und nur 9 Prozent sind Arbeiter – so wenige wie bei keiner anderen Partei«, hieß es vor ein paar Tagen in der FAZ, auch diese Zahlen stammen aus der DIW-Studie.

Das Problem auch hier: Die da verarbeiteten Daten stammen von 2016 und damit aus einer Zeit, in der die Grünen etwas über 10 Prozent in den Umfragen lagen, also auf einem »alten Niveau« – der bis heute anhaltende Aufschwung setzte nach Angela Merkels Rückzugsankündigung im Spätherbst 2018 ein und ist so gravierend, dass er die Partei und ihre Anhängerschaft verändert haben dürfte. Aus politisch ganz anderer Perspektive und ironisch gemeint hat Ansgar Graw um die Zeit von Merkels Rückzugsankündigung herum zudem noch auf etwas eigentlich Selbstverständliches hingewiesen: »Den typischen Grünen gibt es kaum noch, dafür bestimmen das Bild gleich mehrere grüne Typen.« Seine »Klischeeologie« der neuen GrünenwählerInnen blieb freilich selbst in der Vergangenheit stehen: »Seit die Grünen in der Mitte angekommen sind, sind ihre Anhänger nicht mehr so leicht zu erkennen«, schreibt Graw und reproduziert damit erst einmal nur das ohnehin bekannte Bild der »meist bürgerlichen« Grünen.

Erfolge »in ehemaligen Arbeiterstädten«

Aber zeigt dieses noch die real existierende Mitgliedschaft, die Wählerschaft? Allein 2018 sind bei den Grünen »10.000 neue Mitglieder hinzugekommen«, daran erinnert gerade die »Frankfurter Allgemeine«, »durch die Eintritte wird die Partei derzeit immer jünger, und sie wird weiblicher und sogar ostdeutscher. Die neuen Mitglieder kommen aus allen Bevölkerungsgruppen und Gegenden.« Auch die Wählerschaft ändert sich, Bundesgeschäftsführer Michael Kellner wird mit den Worten zitiert, »dass wir in allen Berufsgruppen deutliche Zugewinne haben. Bei Arbeitslosen zum Beispiel sind wir mit 17 Prozent drittstärkste Kraft, auch bei Gewerkschaftsmitgliedern legen wir zu«.

Die Grünen gewinnen nicht nur wie früher in Städten, sondern werden heuer auch »in einigen ländlich geprägten Gebieten wie der Ostalb oder in Mecklenburg-Vorpommern« stärkste Kraft, Kellner nennt zudem die Erfolge »in ehemaligen Arbeiterstädten wie Dortmund«. Natürlich lassen sich schnell auch Zahlen anführen, die man in die andere Richtung interpretieren könnte. Nach den Landtagswahlen in Bayer im Herbst 2018, bei der die Grünen zweitstärkste Kraft geworden waren, war auf deren sozial geteilten Ergebnisse hingewiesen worden: In Gegenden mit sehr hohen verfügbaren Einkommen lagen die Grünen über dem Landesschnitt, in denen mit niedrigen Einkommen deutlich darunter.

Wem nützt welche Etikettierung der Grünen?

Hier wird aus dem Zahlensalat ein diskurspolitisches Problem: Die Etikettierung der Grünen als Partei der Besserverdienenden macht es denen leichter, die Ökologie als Luxusthema zu denunzieren trachten. Dabei bilden sich eigenartige Koalitionen der »Kritik«, gegen »Hypermoral«, ökologische Hochnäsigkeit und Klimaschutz als Angelegenheit von Leuten, die es sich ohnehin leisten können, wird quer über die politische Landkarte agitiert. Beinahe täglich werden Pappkameraden herumgereicht. Die Behauptung, wer nach schärferem Klimaschutz ruft, fliege doch in Wahrheit selbst aber, sich über das schlecht bezahlte Abfertigungspersonal an den Airports erhebend in den Karibikurlaub, passt in eine Zeit, in der das Ad-hominem-Argument viel und die differenzierte Analyse eher wenig zählt.

Zum Glück erheben inzwischen auch jene die Stimme des Widerrufs, die sich nicht vor einen solchen Karren spannen lassen wollen. Aber sind das mehr als Einzelfälle, was sagt in Sachen Grüne die Empirie? Bei der Europawahl haben die Grünen unter Erwerbslosen laut Infratest dimap 17 Prozent erreicht – in der oben angeführten DIW-Studie wird die Parteipräferenz für die Grünen unter Arbeitslosen mit 2 Prozent angegeben. Die DIW-Zahlen von 2016 zeigen, dass die Zustimmung zu den Grünen unter denen, die sich als »ArbeiterInnen« selbst verorten, im Jahr 2000 bei 19 Prozent lag, dann bis 2016 auf 9 Prozent zurückgegangen ist. Bei der Europawahl lagen die Grünen unter »ArbeiterInnen« bei 13 Prozent (Forschungsgruppe Wahlen) bzw. 14 Prozent (Infratest), ihr Anteil in dieser Gruppe hat sich im Vergleich zur Europawahl 2014 verdoppelt.

Da dies für die Zustimmung zur Partei insgesamt gilt, wird man auch die Zahlen für die einzelnen soziodemografischen Gruppen genau analysieren müssen. Dabei sind diverse methodische Probleme zu beachten, etwa wie groß die Gruppe der »ArbeiterInnen« in Relation zum Gesamtelektorat ist und wie die Befunde überhaupt zustandekommen. Und es bleibt auch richtig, dass die Grünen in den Gruppen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen unterdurchschnittlich abschneiden, und in denen mit den höheren Zertifikaten überdurchschnittlich.

Aber es ergibt sich doch die Frage, ob Urteile über die Anhängerschaft der Grünen heute einfach so noch auf Zahlenmaterial aus der Zeit vor ihrem jüngsten Aufschwung zu stützen ist – und vor allem auf welches. Immerhin gibt es auch Daten aus früheren Jahren, mit denen man die Grünen kaum als »Partei der Besserverdienenden« einsortieren kann. Ob die Etikettierung »meist bürgerlich« und »zur Mittelschicht« gehörend überhaupt erkenntnismäßig weiterführt, steht noch auf einem ganz anderen Blatt.

Was in den Hintergrund verdrängt wird

Außerdem liegt in der Behauptung, die Grünen seien eine Partei der Besserverdienenden immer auch eine politisch interessierte Entnennung: Es wird damit in den Hintergrund verdrängt, dass laut Zahlen vom Herbst 2016 nur fünf Prozent der Grünen-AnhängerInnen »in der Spitzengruppe mit einem verfügbaren Haushaltsnettoeinkommen ab 5.000 Euro lagen – aber 13 Prozent der Wähler von CDU/CSU und 14 Prozent der FDP-Wähler. SPD und Linke kamen ebenfalls auf jeweils fünf Prozent, die AfD auf acht Prozent.«

Na klar, auch diese Zahlen mögen sich inzwischen verändert haben. Richtig ist auch, dass die Grünen einer Böll-Analyse zufolge bei der Europawahl weniger deutlich bei denen zugelegt haben, die subjektiv unzufrieden mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lage sind (plus 6 Prozent) als bei denen, die subjektiv  eher zufrieden sind (plus 11 Prozent). Aber irgendwelche Gründe für den doch immer noch recht beachtlichen 6-Prozent-Zuwachs wird es geben.

Anders gesprochen: Die Grünen – als Partei, als Anhängerschaft – verändern sich gerade ziemlich schnell und gravierend, so wie andere Parteien auch. Die Frage ist nur, in welche Richtung, warum und welche Schlussfolgerungen man daraus ziehen möchte. Klischees über die Grünen jedenfalls, aus welcher Ecke auch immer sie kommen mögen, tragen nicht viel zur Erklärung des Aufstiegs der Partei bei, noch taugen sie für die notwendigen Debatten über die politischen Schlussfolgerungen und Optionen, ganz gleich, ob man damit Grün-Rot-Rot auf Bundesebene meint oder etwas anderes.

Foto: Grünen-Büro in Dortmund, Joehawkins / CC BY-SA 4.0

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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