Bürgerräte – Gelebte Demokratie?
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland tagte zwischen September 2023 und Januar 2024 ein per Losverfahren zusammengesetzter Bürgerrat des Deutschen Bundestages zum Thema »Ernährung im Wandel. Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben«.
Die Zusammensetzung des Bürgerrats zum Thema »Ernährung im Wandel. Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben« erfolgte mehrstufig per Zufallsauswahl, so dass es nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Bundesland, Gemeindegröße sowie nach Bildungshintergrund exakt den Bevölkerungsanteilen in Deutschland entspricht. Außerdem wurde der Anteil der sich vegetarisch und vegan ernährenden Bevölkerung im Bürgerrat berücksichtigt. Die Beratungen des 160 Personen umfassenden Gremiums sind durch eine inhaltlich neutrale Moderation begleitet worden, außerdem wurde der gesamte Prozess durch Fachleute aus Wissenschaft und Praxis unterstützt. Die Evaluation hat ein Forschungsteam der Bergischen Universität Wuppertal übernommen, das unter anderem nachdrücklich kritisiert hat, dass die Arbeit des ersten bundesweiten Bürgerrats nicht mit der parallel erarbeiteten Ernährungsstrategie der Bundesregierung abgestimmt war. Die Gesamtkosten des Bürgerrats »Ernährung« belaufen sich auf etwa drei Millionen Euro.
Bereits im Vorfeld der Übergabe des Bürgerratsgutachtens, das neben einer Dokumentation des Beratungsprozesses konkrete, von den Teilnehmenden priorisierten Handlungsempfehlungen enthält, lobten die einschlägigen Medien das Engagement der Teilnehmenden geradezu euphorisch als ein innovatives Beispiel für lebendige Demokratie. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) musste den Bürgerrat allerdings von Beginn an gegen Kritik verteidigen: Sie sehe in diesem Bürgerdialog eine Chance für die Demokratie, weil die Beratungen des Bundestages zu bestimmten Themen durch diese direktdemokratische Partizipation bereichert würden. Der Bundestag bekäme ein Bild davon, welche Maßnahmen für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung gewünscht werden und was die Menschen dafür zu leisten bereit seien. Ein solches Gremium sei allerdings kein Nebenparlament; letztendlich treffe der Bundestag auch weiterhin alle Entscheidungen. Soweit – so gut?
In mehreren Online- und drei Wochenend-Präsenzkonferenzen in Berlin hat der Bürgerrat insgesamt neun Vorschläge für eine zukunftsfähige Ernährungspolitik erarbeitet. An erster Stelle findet sich die fachlich begründete Empfehlung für ein kostenfreies und gesundes Mittagessen an allen Kitas und Schulen als ein wichtiger Beitrag, um gleiche Bildungs- und Gesundheitschancen für alle Kinder zu gewährleisten und die soziale Funktion des gemeinsamen Essens in Kita und Ganztagsschule zu stärken. Es folgt die Forderung nach einem verpflichtenden staatlichen Label, um bewusstes Einkaufen leichter zu machen, die Empfehlung zur verpflichtenden Weitergabe genießbarer Lebensmittel durch den Einzelhandel und auch die Einführung eines Tierwohllabels. Der Bürgerrat schlägt fünftens vor, dass Zucker künftig nicht mehr als Grundnahrungsmittel gelten und mit einer Mehrwertsteuer von 19 Prozent belegt werden solle, während auf Obst und Gemüse in Bio-Qualität sowie auf Hülsenfrüchte, Nüsse, Tafelwasser sowie Vollkornprodukte usw. in Zukunft keine Mehrwertsteuer mehr erhoben wird. Als sechste Empfehlung folgt, den Zugang zu gesunder und ausgewogener Ernährung in Krankenhäusern, Reha-, Senioren- und anderen Pflegeeinrichtungen sicherzustellen, darüber hinaus eine zweckgebundene Verbrauchsabgabe zur Förderung des Tierwohls zu erheben, die Altersgrenze für Energiedrinks auf 16 Jahre anzuheben und schließlich die Forderung nach mehr Personal für Lebensmittelkontrollen.
Am 14. März 2024 stand das Gutachten auf der Tagesordnung des Bundestages. Es gab viel verbalen Zuspruch und Sympathie für die Arbeit dieses Bürgerrats. Die Debatte hat aber auch deutlich werden lassen, dass viele Abgeordnete von CDU/CSU, FDP und AfD dem Instrument einer direkten Bürgerbeteiligung grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen.
Philipp Amthor (CDU/CSU) hob zwar einerseits in altväterlicher Manier hervor, dass viele der Teilnehmenden mit Begeisterung und jetzt mit einem besseren Verständnis für Demokratie, Parlament und Parteien unterwegs seien. Andererseits betonte er – pikanterweise selbst Mitglied der Berichterstatter-Gruppe Bürgerrat – dass »herbeiquotierte« Bürgerräte den Deutschen Bundestag schwächen würden. Seine Parteifreundin Petra Nicolaisen sekundierte ihm und verstieg sich zudem zu der Aussage, dass ein kostenfreies Mittagessen eine für die Kommunen nicht bezahlbare und »ausufernde Form der gesellschaftlichen Beglückung« sei, mehr noch: ein »Konjunkturprogramm zur Steigerung der Politikverdrossenheit«. Stephan Proschka (AfD) warnte gar vor »Sowjets« (Räten) und dem »Einsatz ideologisch motivierter Moderatoren«. Dr. Gero C. Hocker (FDP) sah in den Vorschlägen des Bürgerrats eine »Wünsch-Dir-was«-Liste von Nicht-Experten. Und: es ginge einfach nicht an, dass Kinderlose künftig das Mittagessen für Kinder anderer Leute bezahlen. Außerdem brachten einige Bundestagsabgeordnete das Argument, dass »was nichts koste, auch nichts wert sei«. Zudem unterstellte man wiederholt Eltern per se, dass sie ihre Kinder bei Kostenfreiheit nicht mehr vom Essen abmelden würden, so dass selbiges dann in der Tonne landet.
Wer die Mimik der anwesenden Bürgerratsmitglieder beobachtet hat, konnte ihre Enttäuschung regelrecht spüren. Ein derart geringschätziger Umgang mit bürgerschaftlichem Engagement verstärkt den ohnehin bestehenden Vertrauensverlust in das westliche Demokratiemodell und seine Reformfähigkeit. Zudem ist es verfehlt, von »Hardcore-Vertretern« der Bürgerräte zu sprechen, wenn sie ein gewisses Maß an Verbindlichkeit für direktdemokratische Elemente einfordern. Vielmehr muss es genau darum gehen. Deutschland könnte hier von anderen Ländern lernen. Ansonsten werden solche demokratischen Partizipationsformen schnell als zeitraubende Alibi-Veranstaltungen erlebt, deren Empfehlungen am Ende in diversen Ausschusssitzungen versanden. Eine Teilnehmerin aus Potsdam befürchtete schon zu Beginn der ersten Sitzung im September 2023 genau das: »Ich gehe nicht davon aus, dass wir etwas durchsetzen werden«. Ähnlich pessimistisch äußerte sich auch ein anderer Teilnehmer aus Kiel: »Ich fürchte, das wird eine Farce«.
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