Wirtschaft
anders denken.

Schwer zu durchschauen

02.07.2021

Die Änderung des Wahlgesetzes hat alles noch komplizierter gemacht. Ein Versuch das System der Bundestagswahl trotzdem zu erklären. Aus OXI 6/21.

Nach der letzten Bundestagswahl waren sich (fast) alle im Bundestag vertretenen Parteien einig: Der Bundestag ist durch das deutsche Zweistimmenwahlsystem bei der letzten Wahl zu groß geworden. Von der Regelgröße von 598 Abgeordneten ist er mittlerweile meilenweit entfernt.

In der Theorie werden 299 Abgeordnete in Wahlkreisen nach dem Prinzip des Mehrheitswahlrechts gewählt und die anderen 299 Abgeordneten über die Landeslisten der Parteien. Die Zusammensetzung des Bundestages wiederum muss das Verhältnis der Parteien nach den Zweitstimmen widerspiegeln. Das führt mittlerweile zu sogenannten Überhangmandaten, die ausgeglichen werden müssen. Am einfachsten erklärt sich das am Beispiel der CSU. Wenn diese in Bayern alle Direktmandate gewinnt, entspricht dies 50 Prozent der bayrischen Sitze im Bundestag. Liegt die CSU nun aber in den Zweitstimmen unter 50 Prozent, ist sie überrepräsentiert, denn die Direktmandate verbleiben ihr natürlich. Dies führt dazu, dass alle anderen Parteien Sitze hinzubekommen, bis die Repräsentanz der CSU im Verhältnis zu den anderen Parteien wieder stimmt.

Mittlerweile wurde ein Vorschlag zur Änderung des Bundeswahlgesetzes der Großen Koalition beschlossen, welcher der Vergrößerung des Bundestages entgegenwirken soll. Konkret soll dies dadurch gelingen, dass mit Wirkung zum 1. Januar 2024 – also erst zur übernächsten Bundestagswahl und nicht zu der im September 2021 – die Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert werden. Die andere entscheidende Änderung ist kompliziert und soll bereits für die Bundestagswahl 2021 gelten. Sie besagt, dass die Direktmandate einer Partei, die nicht von der Zahl der für eine Landesliste ermittelten Sitze abgerechnet werden können, bis zu einer Zahl von drei bei den Ausgleichsmandaten unberücksichtigt bleiben. Klingt kompliziert und ist kompliziert. Am besten erklärt sich das wieder am Beispiel der CSU. Diese hat bei der Bundestagswahl 2017 sieben Überhangmandate produziert. Bislang mussten nun im Hinblick auf diese sieben Überhangmandate Ausgleichsmandate vergeben werden. Jetzt wären es nur noch vier. Es handelt sich aber eben nicht um ein reines CSU-Problem. Die CDU produzierte im Jahr 2017 insgesamt 36 Überhangmandate und gewann alle Direktmandate in Baden-Württemberg, ohne bei den Zweitstimmen an die 50-Prozent-Marke heranzukommen. Auch hier würden wohl drei unausgeglichene Überhangmandate entstehen. Durch die Fraktionsgemeinschaft mit der CSU wären dies schon sechs Mandate, die nicht dem Zweitstimmenergebnis entsprechen. Bei einem engen Wahlausgang könnte dies entscheidend sein. Neben diesem praktischen Problem verschärft die Änderung aber auch ein rechtstheoretisches Problem. Die Umrechnung der Zweitstimmen der Parteien in Bundestagssitze ist schon bislang äußerst kompliziert, nun wird alles noch komplizierter. Der Wähler und die Wählerin jedenfalls kann – wenn überhaupt – nur in groben Zügen nachvollziehen, was mit ihrer oder seiner Stimme passiert. Nun hat das Bundesverfassungsgericht allerdings gesagt, dass die Unmittelbarkeit der Wahl ein Wahlverfahren verlangt, bei dem die Wählenden vor dem Wahlakt erkennen können, wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Bewerber:innen auswirken kann. Mir scheint, dies ist schon lange nicht mehr gegeben.

Die Änderung des Wahlgesetzes wird von FDP, Grünen und Linkspartei beklagt.

Schließlich sollte auch eine Reformkommission eingesetzt werden, die sich mit Fragen des Wahlrechtes beschäftigt und hierzu Empfehlungen erarbeitet. Und hier wird es politisch spannend. Denn es stehen ein paar Grundsatzentscheidungen an. Wenn die Kommission und die Mehrheit im Bundestag der Ansicht sind, dass das Zweistimmenwahlrecht die beste aller Lösungen ist, dann muss eben auch gesagt werden, dass Demokratie kostet und der Bundestag größer wird als im Bundeswahlgesetz vorgesehen. Eine durchaus nachvollziehbare Argumentation. Andernfalls wäre aber auch die Option gegeben, über Alternativen zum Zweistimmenwahlrecht nachzudenken, zum Beispiel ein reines Listenwahlsystem, bei dem die Wählenden die von den Parteien vorgegebenen Listen allerdings verändern können. Die Reformkommission hätte aber auch die Chance, die Frage eines geschlechtergerechten Wahlrechts genauer zu untersuchen, bekannter als Debatte um ein Paritätsgesetz. Anders als vielfach rezipiert, stellt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Dezember 2020 nämlich keine Absage an ein Paritätsgesetz dar, es wurde lediglich die Verpflichtung zum Erlass eines solchen ausgeschlossen. Es formulierte vielmehr in Randnummer 112:

»Insbesondere ist nicht dargelegt, dass es sich bei dem Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG um ein übergeordnetes Verfassungsgut handelt, hinter dem die Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 GG und die Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ohne Weiteres zurückzutreten haben. Vielmehr spricht vieles dafür, dass sich diese Verfassungsgüter gleichrangig gegenüberstehen und es Sache des Gesetzgebers ist, zwischen ihnen einen angemessenen Ausgleich herbeizuführen.«

Hier hätte die Kommission eine spannende Aufgabe. Ein Wahlrecht schaffen, das diesen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genügt. Ein Wahlrecht, das den Verfassungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken, ebenso berücksichtigt wie die Wahlrechtsgrundsätze der freien, gleichen, geheimen und unmittelbaren Wahl. Zumindest mit Letzterem gäbe es bei einer reinen Listenwahl mit der Möglichkeit, diese Listen durch die Wählenden zu ändern, so gut wie keine Probleme. Und die Regelgröße von 598 Abgeordneten wäre auch sichergestellt.

Geschrieben von:

Halina Wawzyniak

Juristin

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