Wirtschaft
anders denken.

Ziel: Privatregierung

22.01.2020

Der französische Philosoph Grégoire Chamayou hat eine bahnbrechende Studie über die Genealogie und den Siegeszug des »autoritären Liberalismus« seit den 1970er Jahren vorgelegt. Ein Beitrag aus der Januar-Ausgabe von OXI.

Im November 1932 hatte der reaktionäre Staatsrechtler und spätere »Kronjurist des Dritten Reiches«, Carl Schmitt, eine seiner Sternstunden. Vor den versammelten westfälischen Industriellen warb er für den Übergang zu einer autoritären Ordnung, die über »ungeahnte neue Machtmittel« verfügen müsse und in ihrem »Innern keinerlei staatsfeindliche Kräfte aufkommen« lassen dürfe. Dieser »qualitativ totale Staat« nach Art des faschistischen Regimes in Italien würde so die Gesellschaft zunächst mit eiserner Faust »entpolitisieren«, dann aber »alles Übrige der Sphäre der freien Wirtschaft überlassen«. Bei seinen Zuhörern rannte Schmitt mit seiner Kritik an der »Vermischung von Politik und Wirtschaft« bekanntermaßen und wenig überraschend offene Türen ein. 

Nur wenige Wochen nach diesem Vortrag und noch vor der von Schmitt herbeigesehnten Übertragung der Macht an die Nationalsozialisten unterzog der heute weithin in Vergessenheit geratene sozialdemokratische Rechtswissenschaftler Hermann Heller diese Konzeption einer ersten Kritik. »Sobald nämlich von Wirtschaft die Rede ist«, schrieb er, »verzichtet der ›autoritäre‹ Staat restlos auf seine Autorität und seine angeblich ›konservativen‹ Wortführer kennen nur noch die Parole: Freiheit der Wirtschaft vom Staate!« Diesen gewaltsamen »Abbau der Sozialpolitik«, denn nichts anderes hatte Schmitt natürlich im Blick, bezeichnete Heller als »autoritären Liberalismus«.

Diesen weitgehend unbekannt gebliebenen Begriff schlägt nun der französische Philosoph Grégoire Chamayou vor, um die Entwicklungen seit den 1970er Jahren zu benennen, die mit dem Begriff des Neoliberalismus aus seiner Sicht nur unzureichend beschrieben werden können. »Unser Zeitalter ist zwar ein neoliberales«, schreibt er in seiner gerade erschienenen Studie »Die unregierbare Gesellschaft«, »aber dieser Neoliberalismus ist ein hybrides Produkt (…), dessen eigentümliche Synthesen nur aus der Geschichte der Konflikte erklärbar sind, die ihre Entstehung prägten.«

Chamayous bahnbrechende Darstellung unterscheidet sich dementsprechend von den eher ideengeschichtlichen – nichtsdestotrotz ebenfalls höchst lesenswerten – Studien etwa Philip Mirowskis, Michel Agliettas oder David Harveys nicht nur terminologisch. Im Zentrum seiner »Geschichte von oben« stehen ihnen gegenüber die historisch-konkret zu begreifenden diversen »Gegenangriffe der herrschenden Klasse«, die die »überzogenen Erwartungshaltungen« (Schmitt) der Subalternen mit aller Macht einzudämmen suchten. Denn diese seien von Kapitalbesitzern, Konservativen und liberalen Ökonomen als bedrohliches »Problem der Regierbarkeit« wahrgenommen worden; ein Szenario, auf das der ultrakonservative Politologe Samuel Huntington vor dem neoliberalen elitären Thinktank Trilaterale Kommission bereits 1975 hingewiesen hatte.

Für Chamayou stand also kein Masterplan und auch nicht einfach die Reaktion auf die »Krise der Profitabilität« (Robert Brenner) hinter der Aufkündigung des »wacklige(n) Kompromiss(es) zwischen Marktwirtschaft und keynesianischem Interventionismus«, der noch die westlichen Nachkriegsgesellschaften geprägt hatte. Sondern die Disziplinierung aufsässiger Arbeiter, aufkommender neuer sozialer Bewegungen oder zu kompromissbereiter Manager. Demgegenüber sei es den langfristig sehr erfolgreichen Herrschenden vor allem darum gegangen, ihre uneingeschränkte »Privatregierung« in den Unternehmen zu re-implementieren. Und notwendigerweise sei dies vor allem als politischer Kampf um die Macht in den jeweiligen Staaten ausgetragen worden, mit dem Ziel, alle die Privatregierung einschränkenden Regulierungen und Befugnisse zurückdrängen zu können. 

Als einen der größten Fehler vieler Kritiker des Neoliberalismus bezeichnet Chamayou es so auch, diesen als »Ausdruck einer Staatsphobie« darstellen zu wollen. Denn in Wirklichkeit käme dieser »sehr gut mit der Staatsmacht, einschließlich ihrer autoritären Formen, zurecht, solange dieser Staat auf wirtschaftlicher Ebene liberal bleibt«. Und nicht nur dies: Wie schon Schmitt die »uneingeschränkte Souveränität« des Staates gegenüber der Bevölkerung als unbedingte Voraussetzung der Durchsetzung einer »gesunden Wirtschaft« ausgemacht hatte, so agierten auch seine neoliberalen und konservativen Nachfolger geradezu autoritätsversessen, wenn nur die Märkte verschont blieben. Die Begeisterung vieler von ihnen, wie etwa die Friedrich von Hayeks oder Milton Friedmans, für das Chile Pinochets oder das südafrikanische Apartheidsregime, um nur zwei von Dutzenden von Beispielen zu nennen, ist bereits vielfach beschrieben worden.

»Die unregierbare Gesellschaft« zeichnet aus, dass diese oberflächlich widersprüchlich erscheinende Autoritätsfixiertheit des Liberalismus systematisiert wird. Denn man dürfe nicht vergessen, dass der Hauptfeind der Konservativen, die sich gegen Ende der 1970er Jahre auch politisch überall durchzusetzen begannen, das »Immanenz-, Autonomie- und Selbstorganisationsdenken« der kapitalismuskritischen Linken gewesen sei, das auch zehn Jahre nach den großen globalen Revolten noch einen »unbestreitbaren Reiz« auf große Teile der Gesellschaft und vor allem der Jugend ausübte. »Die große Reaktion, die sich in den 1970er Jahren vorbereitete, war weniger als Alternative zum Wohlfahrtsstaat denn als Alternative zu dessen Infragestellung gedacht«, schreibt der im Pariser Nanterre Lehrende dazu. Wie weit dabei zu gehen war, hing von den jeweils spezifischen Mitteln ab, die ausreichten, um die Regierbarkeit zu verteidigen beziehungsweise wiederherzustellen.

Aber nicht nur die Bereitschaft zur Niederwerfung jeder Bewegung der Subalternen stellt in diesem Sinne die autoritäre Dimension des Liberalismus dar. Denn in seinem Zentrum stehe stets ein Freiheitsbegriff, so Chamayou, der das »Erstarken privater Autoritätsverhältnisse« gegen alle demokratischen Einflussnahmen durchzusetzen suche: Freiheit als Eigentumsfreiheit. Immerhin waren manche Neoliberale ehrlich genug, um dies zuzugeben: »Wahlfreiheit (auf dem Markt, A. B.) kann auch in einer zur Selbstbeschränkung fähigen Diktatur existieren«, so das 1978 in der Londoner »Times« ausgesprochene Lob Hayeks für die Militärjuntas in Chile und Argentinien, »nicht aber unter dem Regiment einer uneingeschränkten Demokratie.« »Was die Wirtschaft mit Zähnen und Klauen verteidigt – darin liegt der Sinn ihrer politischen Mobilisierung –, ist die Autonomie ihrer Privatregierung«, kommentiert Chamayou. »Wenn es einen sozialen Akteur gibt, der sich nicht regieren lassen will, dann ist es sie: sich selbst unregierbar machen, aber um die anderen besser regieren zu können.« 

So gesehen fällt es tatsächlich schwer, sich den Liberalismus nicht in letzter Konsequenz als autoritäre Bewegung der Herrschenden vorzustellen. International spiegelt sich deren Siegeszug nicht nur in den massenhaften autoritären Regimes von Manila bis Budapest und Brasília bis Riad wider, die sich einer möglichst uneingeschränkten Eigentumsgarantie verbunden fühlen, sondern auch in der allgemeinen »Entthronung der Politik« (Hayek). Immer mehr Fragen auch in den westlichen Demokratien seien »außerhalb der Reichweite demokratischer Politik angesiedelt«, wie Chamayou konstatiert. 

»Wenn man der Demokratie nicht trauen kann, braucht man nur ein für alle Mal in die Verfassung zu schreiben, dass der Kapitalismus das Gesetz des Landes sein soll«, hatte der keynesianische Ökonom Paul Samuelson 1980 gespottet. Weit entfernt ist man davon, vor allem in der EU, nicht. Ob das den marktradikalen Hardlinern langfristig reichen wird, muss schon deshalb bezweifelt werden, weil aufsässige Arbeiter und soziale Bewegungen sich nicht dauerhaft daran halten werden. »In demokratischen Formen würde das Volk diesen neoliberalen Staat nicht lange ertragen«, hatte Heller einst prognostiziert. Auch dafür hat Chamayou einen Tipp: Man müsse, anstatt auf den Wohlfahrtsstaat zu setzen, »gegen den autoritären Liberalismus das Thema Selbstverwaltung reaktualisieren«. Auch deswegen seien dem Buch möglichst viele Leser gewünscht.

Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Berlin 2019 (Suhrkamp), 496 S., 32 Euro. Infos und Bezug hier.

Geschrieben von:

Axel Berger

Historiker

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