Wirtschaft
anders denken.

Chancengerechtigkeit, Mindestlohnklau, deutsche Krisendeutung: der OXI-Überblick

12.12.2017
Pexels / Pixabay

Warum die Rede von mehr Chancengerechtigkeit noch längst nicht zu weniger Ungleichheit führt? Wie vielen Menschen hierzulande immer noch der Mindestlohn verweigert wird? Was immer noch irre an der deutschen Eurokrisendebatte ist? Der OXI-Überblick.

Wenn man die politische Debatte danach beurteilen würde, wie oft darin das Wort »Ungleichheit« vorkommt, man müsste glauben, die Bundesrepublik sei auf Schussfahrt in die soziale Gerechtigkeit. Doch leider: Nur weil inzwischen fast alle darüber reden, ändert sich ja nicht schon etwas wirksam an der relativen Armut, am Auseinanderdriften der Einkommen und Vermögen. Mitunter wird aus dem Reden über Ungleichheit sogar ein Beitrag zur Legitimation der eigentlich kritisierten Verhältnisse. Etwa, wenn »Chancengerechtigkeit« zum großen Ausweg erklärt wird.

Stephan Kaufmann nimmt sich in der »Frankfurter Rundschau« die Debatte und ihre Engführung kritisch vor: »Selbst wenn Gleichheit der Chancen umgesetzt wäre, mehr soziale Gleichheit gäbe es dadurch nicht. Denn die Chancengleichheit zielt nur auf die – kaum erreichbare – Gleichheit der Ausgangsbedingungen der Konkurrenz. Nicht ihrer Ergebnisse.« Unbedingt lesenswert. Auch, weil Kaufmann einen Gedanken von Ungleichheitsforscher Branko Milanovic zu Rate zieht, der zu grundsätzlichen Zweifeln an auch linken Gerechtigkeitsrhetoriken Anlass gibt – etwa, wenn darin beklagt wird, dass der »Fahrstuhl« des sozialdemokratischen Aufstiegsversprechens für immer weniger nach oben fährt oder die Drängelei auf der »Rolltreppe« immer stärker wird. Denn: In der Idee des »Nach-oben-kommens« steckt eben nicht nur die Vision einer für immer mehr erreichbaren Welt des Zugangs zu Chancen, Kultur, materieller Wohlfahrt. Sondern auch ein durchaus neoliberal anschlussfähiger Gedanke des Wettbewerbs. Kaufmann zitiert hier Milanovic: Aufwärtsmobilität für einige bedeutet gleichzeitig zwangsläufig eine Abwärtsmobilität für andere.

Wer das Thema noch etwas ausführlicher beackern will, schaut in das letzte Buch des großen Tony Atkinson: »Ungleichheit«. Darin holt der Anfang des Jahres verstorbene britische Ökonom die Debatte um »Chancengleichheit« als »die große Lösung« auf den Boden der Tatsache zurück: »Chancenungleichheit ist im Wesentlichen ein Ex-ante-Konzept – jeder soll gleiche Ausgangsbedingungen haben –, während für das Ex-post-Ergebnis ein hohes Maß an Umverteilung erforderlich ist. Die Vertreter der Ansicht, Ergebnisungleichheit sei nicht weiter von Belang, halten die Beschäftigung mit den Ex-post-Ergebnissen für ungerechtfertigt und glauben, dass wir uns mit dem Ergebnis nicht mehr befassen sollten, sobald wir für alle am Anfang ihres Lebens die gleichen Ausgangsbedingungen geschaffen haben.« Und weiter: »Wenn es uns um künftige Chancengleichheit geht, müssen wir uns mit der gegenwärtigen Ergebnisungleichheit beschäftigen… Folglich ist die Verringerung der Ergebnisungleichheit auch für all jene von Bedeutung, denen es letztlich um Chancengleichheit geht.«

Ein großer Niedrigeinkommensbereich

Fragen der Zugangsgleichheit und der Verteilung von Chancen sind ohnehin nicht zu denken ohne die realkapitalistische Wirklichkeit, die sich nicht an theoretische Konzepte zu halten pflegt und nicht einmal an Gesetze. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat dieser Tage eine Studie zum Mindestlohn veröffentlicht – besser gesagt: über dessen millionenfache Verweigerung. »Ungefähr sieben Prozent der anspruchsberechtigten ArbeitnehmerInnen« bekämen »weniger als den Mindestlohn, Mini-JobberInnen und Beschäftigte in kleinen Firmen sind besonders betroffen«, so das Institut. Es geht um rund »1,8 Millionen Personen, die anspruchsberechtigt waren«, aber im Jahr 2016 dennoch »unter 8,50 Euro brutto pro Stunde verdienten«.

Zwar gilt: »Das sind eine Million weniger als im Jahr 2014, vor der Einführung des Mindestlohns.« Aber es stimmt eben auch: »Viele Erwerbstätige fallen nicht unter die gesetzlichen Mindestlohnregeln, insbesondere Selbständige und Auszubildende wie auch Beschäftigte in den Branchen, in denen längere Übergangsfristen verabredet wurden. Rechnet man diese dazu, so verdienten im Jahr 2016 auf Basis ihrer vertraglichen Arbeitszeit insgesamt 4,4 Millionen, auf Basis ihre tatsächlichen Arbeitszeit sogar 6,7 Millionen Erwerbstätige unter 8,50 Euro pro Stunde und belegen die Existenz eines großen Niedrigeinkommensbereichs.« Die ganze DIW-Studie findet sich hier.

»Im deutschen Märchen«

Vor allem linke Ökonomen haben immer wieder darauf hingewiesen, wie der deutsche Niedriglohnsektor mit den europäischen Krisenerscheinungen zu tun hat – er ist ein Standbein des deutschen exportnationalistischen Modells, an dem die Nachbarn in der EU schwer zu tragen haben. Nun klingt seit der Präsidentschaft von Emmanuel Macron die Debatte über wirtschaftspolitische Neujustierung in Europa lauter, ob sie deshalb auch erfolgreicher wird und vor allem: in die richtige Richtung geht, steht auf einem anderen Blatt.

Thomas Fricke hat sich in seiner Kolumne die öffentliche Debatte über die Reformvorschläge für die Eurozone angeschaut und attestiert den deutschen Politikerin darin, »ein erbärmliches Bild« abzugeben. »Sie halten an Selbstgerechtigkeit und Zuchtmeisterallüren fest – obwohl die sich in der Eurokrise als fatal erwiesen haben.« Aktuell stehen Fragen wie eine Transferunion, ein europäischer Finanzminister und stärkere wirtschaftspolitische Integration auf dem Debattenzettel, das Ganze spielt vor dem Drama der europäischen Krise.

»Im deutschen Märchen«, so Fricke, heiße das immer noch: »Da waren einmal furchtbare südliche Regierungen, die zu viele Schulden machten, deshalb von den Finanzmärkten ordnungsgemäß bestraft wurden – und am Ende barmherzig von uns gerettet und zur Ordnung gerufen werden mussten.« Die daran anknüpfende Politik erwies sich als Bündel krisenverlängernder Maßnahmen. Seit einiger Zeit würden »die Defizitziele pragmatischer gehandhabt. Und siehe da: Seitdem zieht die Konjunktur in diesen Ländern an. All diese Fehler räumen heute auch orthodoxere deutsche Ökonomen ein.« Aber: »Das Irre ist, dass all das nicht dazu geführt hat, die deutsche Krisendeutung zu revidieren.« In der aber sieht Fricke die Crux auch bei der Frage, wie es nun grundsätzlicher in Europa weitergehen soll. Warum eine mögliche nächste Eurokrise »sich nicht mit den Bordmitteln der Teletubbies wegmachen« lässt und warum es für Fricke »höchste Zeit für Visionen aus deutschen Landen« ist, steht hier.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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