Wirtschaft
anders denken.

Den Neoliberalismus begraben

03.09.2022
Demonstrant:innen erklimmen nicht Chile-Fahnen und Protest-Schildern eine StaturFoto: Carlos Figueroa, Lizenz: CC BY-SA 4.0Die Protestbewegung vom Herbst 2019 legte den Grundstein für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Diesen Sonntag stimmt Chile über einen fortschrittlichen Verfassungsentwurf ab. Der Ausgang des Referendums gilt als offen.

An internationaler Unterstützung mangelt es nicht. In mehreren offenen Briefen und Erklärungen setzen sich renommierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler:innen sowie Umweltaktivist:innen für den Verfassungsentwurf ein, über den Chile am Sonntag abstimmt. Sollte er eine Mehrheit erhalten, werde dies »zweifellos ein Ausgangspunkt für die Erweiterung und Vertiefung der emanzipatorischen Perspektiven in Chile und in der ganzen Welt sein«, heißt es in einem der Briefe. Ein weiterer drückt die Hoffnung aus, dass »die neue Verfassung als Antwort auf die Krisen des Klimawandels, der wirtschaftlichen Unsicherheit und der nachhaltigen Entwicklung einen neuen globalen Standard setzt

Die Erwartungen sind möglicherweise ein wenig hoch gegriffen, aber nachvollziehbar. Gibt es doch momentan wenig positive Bezugspunkte, die als Inspiration dafür dienen, endlich die drängenden globalen Fragen anzugehen. In erster Linie aber steht am Sonntag für Chile selbst viel auf dem Spiel.

Seit mehreren Jahren befindet sich das südamerikanische Land in einem gesellschaftlichen Aufbruch. Ab Oktober 2019 hatten sich soziale Proteste gegen eine Fahrpreiserhöhung in der U-Bahn rasch zu einer breiten Revolte gegen das neoliberale Wirtschaftssystem ausgeweitet. Mit dem ehemaligen Studierendenaktivisten Gabriel Boric gewann am 19. Dezember 2021 ein junger, linker Politiker die Stichwahl um die Präsidentschaft. »Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus ist, wird es auch sein Grab sein«, hatte der damals 35-jährige im Wahlkampf erklärt. Im lateinamerikanischen Vergleich gilt Boric als »moderner« oder »moderater« Linker, der eher den Interessenausgleich sucht, als eine Revolution auszurufen. Hoffnung auf tiefgreifende Veränderung machte daher vor allem der seit Mai 2021 tagende Verfassungskonvent, der dem Präsidenten Anfang Juli dieses Jahres den Entwurf für eine neue, fortschrittliche Verfassung übergab, die den Neoliberalismus überwinden will.

Autoritärer Neoliberalismus im Chile unter Pinochet

Chile war bekanntlich das erste Land weltweit, das in den von Keynesianismus und Sozialismus geprägten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit neoliberaler Politik experimentierte. Nach dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende am 11.September 1973 machte die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet Chile gewissermaßen zu einem Labor des Neoliberalismus. Die so genannten Chicago Boys – Jung-Ökonomen, die überwiegend an der University of Chicago bei neoliberalen Vordenkern wie Milton Friedman studiert hatten – erhielten ab Mitte der 1970er Jahre weitgehend freie Hand für Reformen. Mittels einer »Schocktherapie« deregulierte die Militärdiktatur innerhalb kurzer Zeit große Teile der Wirtschaft, zerschlug die Gewerkschaften und privatisierte überwiegend den Zugang zu Wasser sowie das Bildungs- Gesundheits- und Rentensystem. Die Verfassung von 1980 sollte ein neuerliches sozialistisches Experiment unmöglich machen und sicherstellen, dass das neoliberale Wirtschaftssystem auch nach einer mittelfristigen Demokratisierung Bestand haben würde. Dank der noch heute gültigen Verfassung konnte das Militär nach dem Ende der Diktatur 1990 großen politischen Einfluss behalten. Das neoliberale System blieb im Grundsatz auch nach der Demokratisierung erhalten, ergänzt durch punktuelle Sozialpolitiken verschiedener Mitte-Links-Regierungen.

Schon häufig gingen Proteste gegen neoliberale Politik in Chile von Schüler:innen und Studierenden aus, die aufgrund der hohen Bildungskosten mit Schuldenbergen in ihr Berufsleben starten. Erst der breiten Revolte 2019 gelang es aber, die Kritik am neoliberalen System erfolgreich in eine breite gesellschaftliche Debatte zu überführen. Die damalige Regierung unter dem rechten Milliardär Sebastián Piñera sah sich gezwungen, auf die immer stärker werdenden Forderungen nach einer neuen Verfassung einzugehen. Im Oktober 2020 sprachen sich in einem Referendum fast 80 Prozent der Wähler:innen dafür aus, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Im Mai 2021 wurde eine paritätisch besetzte verfassunggebende Versammlung gewählt, in der linke und unabhängige Kandidat:innen die Mehrheit hatten. Die rechte Elite konnte mit weniger als einem Drittel der Sitze keine Beschlüsse blockieren. 17 von 155 Sitzen waren indigenen Gemeinschaften vorbehalten, die in der Verfassung von 1980 keinerlei Rolle spielen. Den Vorsitz hatte mit Elisa Loncón eine Vertreterin der Mapuche inne.

Fortschrittlicher Verfassungstext

Herausgekommen ist ein partizipativ erarbeiteter Verfassungsentwurf, der die Rechte der Bevölkerung, den Umweltschutz sowie die wirtschaftliche Rolle des Staates stärkt. Der Einfluss sozialer, feministischer und indigener Bewegungen ist unverkennbar. Im ersten Artikel wird Chile als »sozialer, demokratischer und rechtsstaatlicher Staat« und »solidarische Republik« definiert, die »plurinational, interkulturell, regional und ökologisch« ist. Der Entwurf garantiert das Recht auf Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit, Wasser sowie menschenwürdigen Wohnraum und enthält weitgehende Arbeitsrechte. Eine starke Rolle spielen im Verfassungsentwurf zudem die Belange der Natur, die mit eigenen Rechten ausgestattet wird.

Auch aus feministischer Sicht enthält der Entwurf weitreichende Änderungen. So würde Chile eine »paritätische Demokratie« einführen und sämtliche öffentliche Ämter mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt werden. Die Verfassung garantiert Frauen, Kindern, Jugendlichen, trans und nicht-binären Personen ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt. Zudem enthält sie das Recht auf Sorge und auf Abtreibung. Unbezahlte Haus- und Carearbeit wird anerkannt. Eine feministische Perspektive zieht sich durch den gesamten Verfassungstext.

Zu einem der umstritteneren Punkte zählen Änderungen im politischen Repräsentations-System. So soll der bisherige, stets von der Elite kontrollierte Senat durch eine »Kammer der Regionen« ersetzt werden. Diese hätte anders als bisher weniger Rechte als die erste Kammer des Nationalkongresses, die Abgeordnetenkammer.

Die traditionelle Elite fürchtet durch den sozialen und politischen Wandel um ihre Privilegien und versucht, die Annahme des Verfassungsentwurfs mit einer aggressiven Kampagne zu verhindern. Durch Falschbehauptungen schürt sie Ängste vor Enteignungen und wirtschaftlichem Niedergang. So führt das vorgesehene Recht auf Wohnraum beispielsweise zu der Falsch-Behauptung, dass zukünftig Privatwohnungen und -Häuser enteignet würden. Und durch die Plurinationalität, die offiziell indigene und afrochilenische Gruppen mit einbezieht, drohe der Zerfall des Landes. Wohl auch aufgrund dieser Kampagne liegt das »Nein« zum Verfassungsentwurf seit Monaten vorne. Ob diese jedoch wirklich die Stimmung im Land abbilden, ist nicht sicher. Die Gegner:innen der Verfassung haben vor allem mehr finanzielle Mittel, während die Befürworter:innen auf der Straße mobilisieren. Zur Abschlusskundgebung in der Hauptstadt Santiago de Chile kamen am Donnerstag laut Schätzungen 500.000 Personen, um für Zustimmung (»apruebo«) zu werben. Der Ausgang des Referendums gilt als offen.

Geschrieben von:

Tobias Lambert

Freier Journalist

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