Verschuldet ins Berufsleben
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500 Euro kostet ein Studienplatz in Chile monatlich, private Schulen kassieren oft 300 Euro. Um Wohnraum, Lebensmittel, Gesundheit und Bildung für sich und ihre Kinder zu finanzieren, verschulden sich viele Menschen enorm
Die Privatisierung der Bildung ist Teil des neoliberalen Erbes der zivil-militärischen Diktatur in Chile (1973–1990). War der Zugang zu Schulen und Universitäten vor dem Putsch kostenlos, so änderte sich dies, als chilenische Ökonomen in der neoliberalen Schule Milton Friedmans im US-amerikanischen Chicago studierten und dessen Wirtschafts- und Gesellschaftsdoktrin nach Chile brachten. Im Schatten der Repression der Militärs machten sie das Land zu einem Versuchslabor für neoliberale Reformen. Sie verschärften die Arbeitsgesetzgebung, privatisierten das Rentensystem, weitgehend auch die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem.
In der 1980 verabschiedeten Verfassung ist als Aufgabe des »subsidiären Staates« definiert, dass dieser Aktivitäten privater Akteure zu ermöglichen und zu befördern hat und die Bedingungen zur Verfügung stellen muss, damit private Unternehmen agieren und eben auch Bildungseinrichtungen gründen können. Ein Eingreifen des Staates ist nur da vorgesehen, wo der Markt komplett versagt. Die Verfassung garantiert seinen Bürger:innen zwar die Wahlfreiheit zwischen privatem und öffentlichem Bildungs- oder auch Gesundheitssystem, aber nicht das Recht auf Zugang zu guter Bildung und Gesundheit.
Die Universitätsreform 1981 erlaubte es, private Universitäten einzurichten und zu fördern. Über 30 Privatunis und viele private Schulen wurden seitdem gegründet. Diese zu betreiben, ist in Chile bis heute ein einträgliches Geschäft, denn Bildung ist teuer. Die Mehrheit der Lehrenden an den Universitäten arbeitet trotz akademischer Ausbildung hingegen mit niedrigen Gehältern und unter prekären Bedingungen: auf Honorarbasis oft an mehreren Unis, als »Stunden-Profs«. Die Gebühren für einen Studienplatz an privaten und auch an öffentlichen Universitäten liegen bei 500 Euro pro Monat, teils auch weit darüber. Nicht viel weniger kassieren auch viele private Schulen.
»Das chilenische Bildungssystem ist dreigeteilt und in hohem Maße sozial ungerecht«, erklärt der chilenische Soziologe Rodrigo Hidalgo in Bezug auf die Schulen: 53 Prozent der Schüler:innen gehen demnach an öffentliche, von den Kommunen betriebene Schulen. Die seien zwar kostenlos, aber sehr schlecht ausgestattet, beschreibt der Soziologe. Weitere 40 Prozent der Kinder besuchen, Hidalgo zufolge, sogenannte subventionierte Schulen und müssen dort umgerechnet etwa drei Euro Gebühren pro Monat und Kind bezahlen. Diese Schulen werden von privaten Unternehmen betrieben und bekommen staatliche Zuschüsse. Die am besten ausgestatteten rein privaten Schulen sind der wirtschaftlichen Elite vorbehalten. Denn nur etwa sieben Prozent der Schüler:innen können die monatlichen Gebühren aufbringen.
»Meine Eltern haben über 300 Euro monatlich für meine Schule gezahlt«, sagt der 28-jährige Jorge Lastra Cerda. Er hat Psychologie studiert, lebt zurzeit in Deutschland und fängt gerade an, in einem Familienzentrum in Berlin zu arbeiten. »An der Universität in Santiago hatte ich für das erste Jahr ein Stipendium wegen guter Noten. Danach habe ich ein Teilstipendium bekommen, weil meine Eltern während der Diktatur als Oppositionelle im Gefängnis waren und gefoltert wurden. Sie sind anerkannt nach den Kriterien der Kommission Valech.« Diese »Nationale Kommission zur Ermittlung politischer Haft und Folter« hatte 2004 ein Register von Folteropfern der Diktatur erstellt. Jede in dieser Liste geführte Person kann für ein Kind oder eine:n Enkel:in einen Zuschuss zur Ausbildung beantragen. Wirtschaftlich gesehen leben Lastra Cerdas Eltern inzwischen in einer privilegierten Situation, sein Vater ist Arzt und hat viele Jahre nach der Diktatur in einer Leitungsposition in einem Krankenhaus gearbeitet. »Dennoch haben meine Eltern sich sehr anstrengen müssen, um uns fünf Geschwistern eine Ausbildung zu finanzieren«, sagt er. »Erst jetzt, nachdem meine jüngere Schwester ihr Studium abgeschlossen hat, können meine Eltern daran denken, endlich in Rente zu gehen.«
Viele seiner Freund:innen und Kommiliton:innen hatten es wirtschaftlich schwerer: »Die Privatisierung und die daraus folgende Verschuldung trennen gesellschaftliche Sektoren«, sagt Lastra Cerda. »Dass ich Zeit habe, nebenbei Musik zu machen, und dass ich nach Deutschland reisen konnte, hat auch damit zu tun. Das Geld, das ich sparen konnte, um meinen Flug zu bezahlen und hier erst mal anzukommen, mussten viele andere verwenden, um Kredite abzuzahlen. Manche von ihnen haben sich auch weniger an Streiks in Unis oder Schulen beteiligt. Ihnen war klar, dass mit jeder verpassten Prüfung, mit jedem verlorenen Semester ihre Studienzeit länger wurde und dass sie desto höhere Kredite benötigten.«
Einige Studierende beziehen Stipendien, die seit 2018 an mehr Personen vergeben werden als zuvor – ohne die Gewinnorientierung der Bildungsunternehmen grundsätzlich in Frage zu stellen. Wer nach Teilen des Familieneinkommens durch die Anzahl der Familienangehörigen des Haushalts pro Kopf weniger als etwa 200 Euro zur Verfügung hat, kann an einigen registrierten Unis oder Instituten inzwischen über ein Stipendium für eine Regelstudienzeit ohne Gebühren studieren. Sehr viele Studierende und ihre Eltern verschulden sich jedoch enorm, um die monatlichen Studiengebühren von rund 500 Euro aufzutreiben.
Wer einen privaten Bankkredit oder den »CAE« (Crédito con Aval del Estado), einen 2006 eingerichteten, mit staatlicher Bürgschaft ausgestatteten Kredit, in Anspruch nimmt, häuft im Laufe eines Studiums schnell 30.000 Euro oder mehr an Schulden an – noch dazu mit hohen Zinsen. Ab dem Eintritt ins Arbeitsleben muss dieser Kredit in Raten zurückgezahlt werden. Für viele ist das eine Last, die sie bis ins hohe Alter begleitet, vor allem für diejenigen, die eben keinen gut bezahlten Job bekommen. Denn viele halten sich nach dem Studium als Uber-Fahrer:in oder mit sonstigen Gelegenheitsjobs über Wasser oder verdienen sogar als ausgebildete Akademiker:innen zu wenig. So liegt das Monatsgehalt von Lehrer:innen bei 400 bis 600 Euro. Dabei sind die Lebenshaltungskosten in Chile ähnlich hoch wie in Deutschland.
Kredite zur Finanzierung von Studiengebühren ermöglichen einem höheren Anteil von Personen den Zugang zu akademischer Bildung. Gleichzeitig sichern sie auch die Gewinne privater Bildungsunternehmen ab und zwingen die Menschen, dauerhaft in ungesicherten und mäßig bis schlecht bezahlten Jobs zu arbeiten. Wer einen Kredit nicht korrekt bedient, läuft Gefahr, in der DICOM, einer Art chilenischer Schufa, als kreditunwürdig gelistet zu werden.
Die argentinische Theoretikerin Verónica Gago beschreibt die disziplinierende Funktion der Verschuldung. Menschen, die in einer Schuldenspirale festhängen, seien über eine Art Gehorsamsversprechen für die Zukunft gezwungen, immer prekärere Jobs anzunehmen, um die Kredite zurückzuzahlen. Gago spricht von finanziellem Extraktivismus und einem neuen Mechanismus der Ausbeutung, der in besonderem Maße Frauen trifft. Aufgrund ihrer Zahlungsmoral, ihrer Verantwortlichkeiten für Kinder und Familie und der immer noch schlechteren Durchschnittsgehälter von Frauen gegenüber denen von Männern arbeiten Frauen sehr oft und über lange Zeit in besonders prekären Arbeitsverhältnissen, um ihre Schulden zu bedienen.
Bis heute fordern Studierende den Erlass der Schulden, die aus dem Kreditsystem für die Studiengebühren entstanden sind. Die linke Regierung von Präsident Gabriel Boric verfolgt auch das Ziel, die Schulden aus diesem staatlich verbürgten System zu erlassen. Da sie aber nicht über eine Mehrheit im Parlament verfügt, ist fraglich, ob sie es umsetzen kann. Das Ziel des Rechts auf Zugang zu guter und kostenloser Bildung für alle schien 2022 greifbar nah. Nachdem Schüler:innen und Studierende sich schon bei den Protesten der Jahre 2006, 2011 und 2014 über das Thema Bildungsgerechtigkeit politisiert hatten, war diese Forderung auch in der Protestbewegung wieder präsent, die seit Oktober 2019 Millionen Chilen:innen auf die Straße brachte. Auch in dem auf die Proteste folgenden verfassunggebenden Prozess drehten sich zentrale Debatten um mehr Gerechtigkeit in der Bildung. Doch der fortschrittliche Entwurf für eine neue Verfassung, der allen Menschen einen Zugang zu öffentlicher Daseinsvorsorge und auch zu Bildung garantieren sollte, wurde im Oktober 2022 in einem Referendum von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Von dem aktuell laufenden, von rechten Parteien dominierten Verfassungsprozess 2.0 ist eine Neuausrichtung in der Versorgung der allgemeinen Daseinsvorsorge kaum zu erwarten.
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