Wirtschaft
anders denken.

China und der Kapitalismus: Die Grenzen des westlichen Blicks

20.10.2017
giggel , Lizenz: CC BY-SA 3.0 Peking

Chinas Weg zu ökonomischen Weltmacht wird im Westen meist durch ein Raster beobachtet, das nur eine Entwicklung hin zu »liberaler Marktfreiheit« als historischen Fluchtpunkt kennt. Anmerkungen zum Echo auf den Parteitag der Kommunisten in Peking.

In Peking tagt die Kommunistische Partei, und wenn ma sich die gewachsene Rolle Chinas in der globalen Ökonomie und der Weltpolitik vor Augen hält, mag man die Aufmerksamkeit, die der Parteitag erhält, für einigermaßen verengt halten. Das ist weniger eine Frage der Quantität, natürlich wird viel berichtet, aber worüber?

Zum Beispiel über eine Beifall-App, mit der via WeChat Passagen der Rede von Parteichef Xi Jinping beklatscht werden dürfen. Oder über die wieder stärkere Repression in dem Milliarden-Land, über Chinas Verschuldung und darüber, ob Xi’s Regierungsdevise in die Parteistatuten kommt und wie die Formulierung ausfällt. Denn es macht einen Unterschied, ob da nur der Name im Zusammenhang mit der rhetorischen Formel steht oder sogar von »Xi-Jinping-Gedanken« die Rede sein wird, was ihn, den »Kern der Parteiführung«, sozusagen mit Mao auf eine Ebene stellen würde.

Vor allem aber über die »versprochene Marktöffnung«, mit der das Land aus Sicht hiesiger Politiker, die damit die Sicht von Kapitalinteressen zu ihren machen, endlich ernst machen solle. Die Bewertung Chinas folgt dabei in aller Regel einer Sicht, die nur eine Entwicklung hin zu »liberaler Marktfreiheit« als historischen Fluchtpunkt kennt. Dabei wird, und hier geht es nicht darum, die Repression des chinesischen Herrschaftsapparates und die Unterdrückung von Dissidenz zu beschönigen, Demokratie erstens nur in einer »westlichen« Form für denkbar gehalten und, wichtiger, zweitens als politische Ableitung marktförmiger Ökonomie.

Die Wogen der Globalisierung

Beispielhaft steht dafür ein Kommentar aus der »Frankfurter Allgemeinen«: »Schon seit der 2007 in Amerika ausgebrochenen Weltfinanzkrise hatte in der KP die Sympathie für freiheitliche Werte abrupt nachgelassen. Marktfreiheit galt auf einmal als westlich.« Und weiter: »Spätestens seit diesen wirtschaftlichen und politischen Krisen haben die Marktkräfte nicht mehr viele Freunde in der Parteispitze. Dort ist der Glaube zurück, nur eine starke Führung könne die Wogen der Globalisierung glätten.«

Nun könnte man sagen, der Aberglaube in unbeschränkte Marktfreiheit hat auch im globalen Westen ordentliche Kratzer abbekommen und mehr staatliche Regulierung zur Einhegung der Folgen kapitalistischer Globalisierung wird inzwischen sogar vom Internationalen Währungsfonds empfohlen.

Doch ein bestimmter Blick auf China kann wie durch ein Brennglas marktliberaler Ideologie immer nur die »Marktöffnung« sehen – auch die »Frankfurter Allgemeine« hat in besagtem Kommentar zunächst an die Anfänge von Xi’s Regentschaft erinnert, als dieser auf dem vorangegangenen Parteitag 2012 erklärte, der Markt werde in China fortan eine »entscheidende Rolle« spielen – was als Öffnungsversprechen für westliches Kapital verstanden wurde, hatte man in Peking dem Markt doch bis dahin (nur) eine »grundlegende Rolle« zugestanden. Als Signal eins »Aufbruchs« galt dieser Sichtweise eine auf die »Privatisierung des weiterhin fast sämtliche Schlüsselindustrien beherrschenden Staatssektors«, auch eine Öffnung des chinesischen Finanzmarktes.

Xi Jinping ist seit 2012 Generalsekretär, der politökonomische Hintergrund seiner Amtszeit ist mit den unmittelbaren Nachwirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 und der Folgejahre ebenso verknüpft wie mit chinesischen Börsenturbulenzen und der grassierenden Hyperkorruption im Land. Das alles ist keine Begründung für irgendeine Politik, es könnte aber zur Erklärung beitragen, warum Politik sich bisweilen ändert, auch in China.

Osten: »Die stärkste Hoffnung der Menschheit«?

Das eigentliche Problem dürfte auch eines des westlichen Selbstverständnisses sein, das derzeit angesichts der realen Lage weder einen Hurra-Kapitalismus vor sich hertragen noch sich seiner globalen Hegemonie sicher sein kann. Das verleitet manchen, in Peking (wieder) den Leitstern des Fortschritts zu sehen, die Tageszeitung »Junge Welt« schreibt sogar, Chinas Regierung und die »herrschende Partei sind Garanten der Aufklärung und des Humanismus – und, in einer irre gewordenen Welt, die stärkste Hoffnung der Menschheit«.

Es handelt sich gewissermaßen um die Kehrseite jener Verengung, welche in die genau andere Richtung läuft. Als Beispiel kann man den Kommentar zu Xi Jinpings Rede in den »Stuttgarter Nachrichten« zitieren, der ebenso vereinfacht – nur anders herum: »Die knallharte Interessenpolitik Chinas bedarf dringend einer eindeutigen Antwort aus dem Westen.« Man fragt sich, worauf das hinauslaufen soll? Sanktionen? Einmarsch? »Die Europäer müssen zusammenrücken und selbstbewusst auf eigenen Regeln wie die freie Marktwirtschaft und der Rechtsstaat beharren. Und das idealerweise im Schulterschluss mit den USA.«

Westen: »Der beste Weg zu Wohlstand und Stabilität«?

Hier ist sie wieder, die Verknüpfung von »freier Marktwirtschaft« (das »soziale« hat man schon weggelassen) und Rechtsstaat (gemeint sein dürfte in einem weiteren Sinne Demokratie), die offenbar keine Begründung braucht, weil nur sie für vorstellbar gehalten wird: Keine Demokratie ohne Kapitalismus? Die Londoner »Times« schreibt, »die westlichen Demokratien« müssten »erneut zeigen, dass politischer und wirtschaftlicher Liberalismus tatsächlich der beste Weg zu Wohlstand und Stabilität sowie zum Respekt der Menschenrechte ist«.

Würde China in dieser Logik weitergedacht demokratischer werden, wenn es (noch) kapitalistischer würde? Oder müssen die medialen Rufe nach »eindeutigen Antworten des Westens« deshalb so laut ausfallen, weil man sich seiner selbst und seinem Weg nicht mehr recht traut. Wer Donald Trump, den EU-Scherbenhaufen und den Aufstieg der antidemokratischen Rechten mit sozialer Spaltung und einer keinesfalls beendeten Vielfachkrise des Kapitalismus zusammenzählt, hat entweder Grund, in sich zu gehen – oder er übertönt die eigene Verunsicherung mit umso markigeren Worten.

Eine Verunsicherung über uns selbst

»Von Europa aus über China nachzudenken bedeutet heute daher nicht zuletzt, über die eigene Beobachterrolle nachzudenken«, schreibt Mark Siemons in seinem gerade jetzt wieder sehr lesenswerten Buch über das große Land, von dem viele tun, als kennen sie es. »Die Verunsicherung durch China scheint eine Verunsicherung des Westens auch über sich selbst zu sein.«

Aus der Perspektive gesellschaftskritischer Haltung ist das freilich kein Grund zum Frohlocken. Das Modell China hat zwar gezeigt, wie eine radikale ökonomische Modernisierung aussehen kann, die Abermillionen aus der Armut holt und wirtschaftliches Wachstum global konkurrenzfähig in Gang halten kann. Aber das unter politischen Bedingungen, die sich auch nicht mit dem Hinweis darauf rechtfertigen lassen, dass es sich nun einmal um eine Übergangsperiode handelt. Wo dies doch geschieht, wird China sozusagen als weltpolitische Spielmarke genutzt, als eine Art symbolischer Behälter. Es fungiert dabei als das Andere, als eine Alternative, als der nicht weiter ausgeführte Beweis dafür, dass es mit dem bisherigen weltpolitischen Kladderadatsch nicht mehr weit her ist.

Widersprüche einer kapitalistischen Modernisierung

Interessanter Nebenaspekt in diesem Zusammenhang: China gibt es medial hierzulande meist nur als »ein China«, als monolithischen Block, als Anti zum Westen, als Bedrohung, manchmal auch als Faszinosum, als Einparteienherrschaft, als System, in dem es sich kommunistisch kostümierende Machthaber gibt – und irgendwie einen sehr großen Rest von Leuten. Nur selten wird auf die innerchinesischen Widersprüche verwiesen, es sind Widersprüche einer kapitalistischen Modernisierung.

Chinas KP kennt diese Widersprüche durchaus, in einem Flyer für die deutschsprachige Öffentlichkeit hieß es vor einiger Zeit, es kämen immer neue »Probleme zum Vorschein: Die Wirtschaftsentwicklung wird immer stärker von den Ressourcen und der Umwelt gefesselt; bei der Einkommensverteilung gibt es große Unterschiede; die wissenschaftlich-technische Innovationsfähigkeit ist weitgehend zu verbessern; die Industriestruktur ist irrational; die Entwicklung zwischen verschiedenen Regionen, zwischen Land und Stadt ist disproportioniert; in den Bereichen der Lebenshaltung wie Beschäftigung und Sozialabsicherung stechen immer mehr Probleme hervor.«

Im Westen will man oft von diesen Widersprüchen nicht viel wissen. In der »Libération« stützt sich »der neue chinesische Imperialismus« auf einen »immer effizienteren und aggressiveren Produktionsapparat und schier unerschöpfliche finanzielle Mittel. Davon geht nicht nur eine Gefahr für die Menschenrechte aus, sondern auch für die Stabilität des Planeten.« Und für die Beschäftigen? Für die, die den neuen chinesischen Reichtum produzieren?

Oskar Negt hat in einem »Argument«-Sammelband schon vor über zehn Jahren als bemerkenswert bezeichnet, »dass bei diesem spektakulären Aufstieg Chinas zur wirtschaftlich potenten Weltmacht weniger Gedankenarbeit darauf gerichtet ist, was diese Billigimporte ermöglicht, wie die Produktionsbedingungen aussehen, unter denen lebendige Arbeitskraft steht. Er erinnert an Marx, auf den sich auch die chinesische Führung zu berufen pflegt, der schreibt: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«

China und die progressive Linke im Westen

Negt merkt dazu an: »Wo sich Gegenmacht zu dieser eigentümlichen Wirkungsweise des Kapitals nicht zu entwickeln vermag oder bewusst unterbunden wird, und zwar auf drei Ebenen: dem Rechtssystem, der kritischen Öffentlichkeit, der freien gewerkschaftlichen Organisationskraft – da findet das statt, was Marx die ›reelle Subsumption der lebendigen Arbeit unter das Kapital‹ bezeichnet.«

Zugestanden, in einer Nische des gesellschaftlichen Denkens werden die damit zusammenhängenden Fragen auch hierzulande durchaus diskutiert. An anderer Stelle hatte der Autor sehr verkürzt zusammengefasst: »Natürlich, die Linke ist nicht völlig chinablind, wie man etwa an den Schriften des unlängst verstorbenen Theodor Bergmann sehen kann. Giovanni Arrighi hat zu Lebzeiten auch Bemerkenswertes zu China geschrieben. Hier und da finden sich ausführliche ökonomische Analysen oder solche über die Entwicklung des Rechts in China. Und wer über das historisch gewachsene, schwierige Verhältnis zwischen der Linken hierzulande und China oder über das Echo des Maoismus etwas erfahren will, liest bei Felix Wemheuer nach.«

Dies wäre zu ergänzen: Dem »Argument«-Sonderheft von 2006 folgte 2012 ein weiterer China-Schwerpunkt, die Zeitschrift »Prokla« hat sich 2010 mit China auseinandergesetzt, und wer eine ökonomisch fundierte Sichtweise auf den Aufstieg Chinas, der ja nicht isoliert stattfindet, sondern Teil der globalkapitalistischen Prozesse ist, und also immer auch ein Stück weit »unsere eigene Geschichte«, kann bei Wolfgang Fritz Haug über das Chimerika-Theorem und die Zeit nach dem »amerikanisch-chinesischen Paradox« nachlesen, jedenfalls bis 2012. Und das ist noch lange nicht alles.

Die Theorie läuft auf die Partei hinaus, nicht umgekehrt

Und, kommt nun der große Kurswechsel in Peking? Die »Börsen-Zeitung« merkt zum Parteitag und der Rede von Xi Jinping an, »nun stößt man allerdings auf eine etwas forscher wirkende Vision, bei der sich China als moderne sozialistische Großmacht empfiehlt, der auf der Weltbühne eine in jeder Hinsicht tragende Rolle als Soft Power, Wirtschaftsnation und auch militärische Supermacht zukommen soll«. Neu sei unter Xi Jinping »das Herausstreichen einer gewissen ideologischen Zuversicht, bei der China seinen als ›Sozialismus mit chinesischer Prägung‹ bezeichneten Staatskapitalismus als Erfolgsmodell vermarktet. Dies soll der Weltöffentlichkeit zeigen, dass man auch einen anderen Weg als den amerikanischen gehen kann, um sich als moderne, innovationsgetriebene Wirtschaftsnation zu gerieren.«

Das war – ohne irgendeine Wertung gesprochen – im Prinzip nicht anders, als Xi Jinping vor fünf Jahren an die Spitze der Partei aufstieg. Ob dieser Parteitag wirklich so eine große Wende bringt, wie mitunter das westliche Echo glauben machen will, sei dahingestellt. Man könnte auch von größtmöglicher Kontinuität sprechen, eine, die eben darin besteht, sich so pragmatisch wie flexibel den Gegebenheiten anzupassen.

In der Sprache der Kommunistischen Partei: Man halte sich »stets daran fest, die grundlegenden Prinzipien des Marxismus-Leninismus mit der konkreten Praxis Chinas zu verbinden, ihre Leitgedanken mit der Zeit Schritt halten zu lassen und Neues zu schaffen«.

Der schon zitierten Mark Siemons schreibt in diesem Sinne: »Xi Jinping spricht von der Entwicklung eines ›Marxismus-Modells der regierenden Partei‹, die sich immer schon dadurch ausgezeichnet habe, dass sie ›die Theorie mit den Realitäten des Landes und den Eigenheiten der Zeit verbunden‹ habe. Die Theorie wird also durch die Partei, die sich auf sie beruft, zugleich relativiert; die Theorie läuft auf die Partei hinaus, nicht umgekehrt.«

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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