Wirtschaft
anders denken.

Klassenverrat oder Klassenkampf?

»Mit einem elenden Leben, das elend bleibt, will noch immer keiner was zu tun haben«, sagt der Autor Christian Baron.

19.03.2022
Christian Baron steht vor einer HeckeFoto: Britta Steinwachs
Christian Baron ist Autor und Journalist. 2020 erschien beim Claassen-Verlag Berlin sein autobiografischer Roman »Ein Mann seiner Klasse«, 2021 im gleichen Verlag »Klasse und Kampf«, mitherausgegeben von Maria Barankow.

Christian Baron, letztens warfst du dem französischen Schriftsteller Édouard Louis vor, sich auf dem roten Teppich von Cannes wohlzufühlen. Würdest du etwa nicht nach Cannes gehen, wärst du eingeladen?

Garantiert würde ich gehen, klar! Ich habe den Text über Édouard Louis geschrieben, ein paar Monate nachdem ich bei der ZDF-Sendung Aspekte war – gedreht in der Berliner Philharmonie. Dort stand ich im Foyer, mit einem Sektglas in der Hand, und sprach mit den Herrschaften über meine Klassenherkunft.

Auf dem roten Teppich Berlins …

Eine halbe Stunde nachdem ich dort raus war, telefonierte ich mit meiner Tante: »Wo warscht‘n grad?« Wo sollte ich anfangen, zu erklären? Was machte ich eigentlich mit diesen Leuten dort? Ich habe mich wohl ertappt gefühlt. Und so sind wir Menschen oft: Wenn wir sauer auf uns selbst sind, sind wir sauer auf jemand anderen, der uns spiegelt.

Wie hast du dich gefühlt, mit dem Sektglas in der Hand, in diesem Foyer?

Ich hatte das Gefühl, meine Klasse zu verraten, und gleichzeitig zu behaupten, ich würde für meine Klasse kämpfen. Der Verrat bestand für mich schon darin, mich so anzupassen, dass man mich dort nicht sofort erkannte als denjenigen, der gar nicht wirklich dorthin gehört.

Was hattest du an?

Ein Jackett. Es fühlte sich an wie ein habitueller Panzer. Es fühlte sich falsch an. Wieso mache ich da mit?

Du erklärst einem gehobenen Milieu, wie es sich in Armut in Deutschland lebt – und wieso das ungerecht ist. Ist doch sinnvoll?

Und ich erkläre denen auch, dass ich den Kapitalismus durch den Sozialismus ersetzt sehen will. Aber ich habe mich sehr angepasst, damit ich das sagen darf. Hätte ich das in meinem Vokabular, mit meinem Dialekt gesagt, im Trainingsanzug, vielleicht auch mit einer anderen Haltung, nämlich mit dem Zorn, den ich dazu verspüre – hätte man mir dann zugehört? Oder hätte man mich lieber rausgeschmissen? So wurde ich zu einer Figur, die wir doch hassen: Salonkommunist mit Sektglas in der Hand.

Ich hasse diese Figur nicht. Die politische Haltung wird nicht falsch durch das, was zu ihrer Verkündung getrunken wird. Die Frage ist doch, ob man diese Haltung ernst meint und ihr Taten folgen.

Ja, aber: Wann wird man mit welcher politischen Haltung ernst genommen?

Du wirst doch sehr ernst genommen. Genau wie Didier Eribon, Édouard Louis, Annie Ernaux. Wieso gibt es diesen Hype von Klassenliteratur?

Es ist interessant: Auf meinen Lesungen sehe ich das ergraute Bildungsbürgertum, das immer schon CDU gewählt hat. Die sagen mir dann: Ich lese natürlich in der FAZ, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht, aber was das konkret bedeutet, das verstehe ich erst jetzt. Danke.

Denkst du, dass das etwas bewirkt?

Schön, dass der Groschen mal gefallen ist. Aber dass diese Leute beim nächsten Mal an der Wahlurne deshalb etwas anders machen, bezweifle ich. Und dann gibt es viele Menschen, die auch Aufstiegserfahrungen gemacht haben, und sich in meiner Erzählung wiedererkennen. Für sie ist mein Buch ein Befreiungsschlag: Viele haben lange versucht, ihre Herkunft zu kaschieren. Und endlich können sie darüber sprechen. Vielleicht fährt die Klassengeschichte da im Fahrwasser anderer Identitäten, die aufgestiegen sind und ihre Herkunft jetzt thematisieren.

Du meinst, die Verlage sehen, wie gut sich die Identitätsgeschichten von Frauen und Leuten mit Migrationshintergrund verkaufen, und fragen sich: Wen haben wir jetzt noch vergessen?

Genau: Ah, die Klassenidentität! Die fehlt ja auch noch. Das ist nichts Schlechtes, auf diese Weise vervollständigt sich ein Bild von einer Gesellschaft. Die Frage, die sich nun politisch stellt, ist dann diese: Wenn unsere Geschichte jetzt allen zugänglich ist, ändert sich dadurch etwas an gesellschaftlicher Ungleichheit?

Schreibst du deshalb deine Romane? Um etwas zu verändern? Oder möchtest du zunächst nur gesehen und verstanden werden?

Es ist eine legitime Frage, ob ich mich nur ins Schaufenster des Bürgertums stelle, als Solitär, ohne andere mitzunehmen. Ich bin da, aber die Ungleichheit bleibt.

Auf die Quoten-Frau folgt also der Quoten-Proletarier!

Ja, diese Diskriminierungsmechanismen ähneln sich sehr. Geschichte reibt sich. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Wenn eine Frau erfolgreich ist, ist der Sexismus nicht vorbei, und wenn jemand mit Migrationshintergrund erfolgreich ist, ist der Rassismus nicht vorbei. Bei Klasse ist das anders: Wer sich hier »hochgekämpft« hat, hat seine Herkunft hinter sich gelassen. Die soziale Ungleichheit ist weg, man ist kein Proletarier mehr, sondern gehört dem Kulturbetrieb an.

Wir sprechen ja hier nicht über die materielle Ebene sozialer Ungleichheit – diese ist dann tatsächlich überwunden –, sondern über Klassismus. Gelingt es dir denn tatsächlich, deinen Habitus komplett abzulegen und nicht mehr als Proletarier erkennbar zu sein?

Nicht immer. Wenn ich in einer Runde mit studierten Menschen aus akademischen Haushalten sitze, mein Handy klingelt und meine Familie ist dran, rede ich mit denen im pfälzischen Dialekt.

Und dann gucken alle komisch?

Es findet plötzlich ein total enthemmtes Lachen statt. Ein anderes Beispiel: Mein Roman wurde als Stück am Staatstheater in Hannover inszeniert. Dem Regisseur – Lukas Holzhausen, ein Schweizer – war es ganz wichtig, dass der Vater im pfälzischen Dialekt spricht. Viele Leute sagten mir, dass sie das sehr merkwürdig fanden.

Hast du sie gefragt, warum sie so reagieren?

Ja. Sie haben geantwortet: Durch diese Inszenierung mache man sich über die Figuren lustig! Den Zuschauern ist nicht klar, dass es Menschen gibt, die so reden, und dass daran nichts Lächerliches ist – bis das Bildungsbürgertum etwas Lächerliches daraus macht.

Auch hier sehe ich Parallelen zur Geschlechterungleichheit. Viele Frauen, die sich hochgearbeitet haben, erzählen, dass sie sich dafür einer »männlichen« Verhaltensweise anpassen mussten: »Bossy« sein, »rummackern«, »weibliche« Emotionen wie Empathie zurückstellen. Sie mussten das »Weibliche« hinter sich lassen, um als Frau in der Männerwelt erfolgreich zu sein, wie du das Proletarische hinter dir lassen musstest, um als Proletarier in der bürgerlichen Welt erfolgreich zu sein.

Interessant. Leute mit ethnischen Zuschreibungen beklagen das auch: Dass sie ihre Redeweise, ihr Verhalten ans »Deutsche« anpassen mussten, um ernst genommen zu werden. Vielleicht ist das ein Schritt, den die Identitäten koordiniert tun könnten: Jetzt, wo man uns hört, weitere Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Das Gespräch zu suchen: Was sagt es über dich aus, dass du Pfälzisch, dass du Sächsisch befremdlich findest? Wieso gibt es Dialekte so selten im Theater?

Ich erinnere mich daran, wie ich mich über »Cindy aus Marzahn« kaputtgelacht habe: »Maschendrahtzaun«. Um zu verstehen, dass Sächsisch nicht lächerlich ist, musste ich erst nach Sachsen fahren. Aber kann man sich mit allen Lebensweisen gleichermaßen auseinandersetzen?

Voraussetzung dafür ist, dass sich die Identitäten nicht in ein Opfer-Konkurrenzverhältnis treiben lassen. Mir wurde nach meinem Buch auch vorgeworfen: Ah, da will ein weißer Privilegierter so tun, als wäre er mit im Opfer-Club.

Wieso ist es bitte heutzutage so begehrt, Opfer zu sein?!

Hahaha. Eine sehr, sehr schöne Frage.

Opfer zu sein ist doch einfach nur scheiße! Man ist ohnmächtig, man muss sich ewig aus dieser Position herauskämpfen …

… und wie lange hat die Arbeiterbewegung dafür gekämpft, nicht mehr im Opferstatus zu sein, sondern nach vorne zu kommen! Wir sind Subjekte, keine Objekte! Aber Menschen wollen gesehen werden, sie wollen Anerkennung für ihr Können – und ihr Leid, das treibt auch mich an. Das ist die Ebene der Identitätskämpfe. Auf der materiellen Ebene muss es darum gehen, die Ungleichheit nicht nur anzuerkennen – sondern auch auszugleichen. Wie schaffen wir es, die Identitätsdiskussion auf diese Ebene zu heben?

Wieso lesen so viele Leute so gerne deinen Roman und gleichzeitig setzen sich so wenig Menschen dafür ein, den Regelsatz von Hartz IV zu erhöhen oder die Sanktionen abzuschaffen?

Offenbar sind diese Probleme für sie noch immer zu weit weg. Vielleicht interessieren sich Menschen, die nahe am Absturz in Hartz IV sind, mehr dafür? Was ist dein Eindruck?

Ich habe den Eindruck, dass die Angst, auch aus der Mittelschicht in Hartz IV landen zu können, bei der Einführung groß war – aber jetzt weg ist. Die meisten Menschen in der Mittelschicht haben inzwischen die Erfahrung gemacht, dass Hartz IV die Klassengrenzen nicht auflöst, wie sie einst befürchteten, sondern immer noch genug Kapital in ihrem Rücken ist, um sie in der Mittelschicht zu halten: durch die Familie, durch ihre Netzwerke, durch ihren Habitus. Die Leute haben gemerkt, dass Hartz IV für sie nicht das Gleiche bedeutet wie für proletarische Hartz-IV-Empfänger.

Darüber habe ich mal mit der Autorin Anke Stelling gesprochen. Sie hat deinen Eindruck bestätigt: Dass ihre Bekannten aus dem Kulturmilieu diese Abstiegsängste nicht haben. Da wird dann gesagt: »Ich bin gerade auf Hartz IV, weil ich dieses Dokumentarfilm-Projekt mache, da gab es auch mal ne Sanktion, aber meine Eltern leihen mir dann Geld, und wenn der Film erst raus ist …« Das soziale Netz macht den Unterschied.

Wie man sich fühlt, wenn es kein Netz gibt, versteht noch immer keiner aus dem Bürgertum.

Ich werde oft gefragt: Wie fühlt es sich an, arm zu sein? Wie ist das denn so? Kannst du dir vorstellen, was das für ein ambivalentes Gefühl ist?

Nein, kann ich nicht. Erzähl.

Einerseits freue ich mich, endlich mal erzählen zu können, wie sich Armut anfühlt. Andererseits habe ich das Gefühl, ich sitze im Gehege und alle begaffen mich. Wie geht man damit klug um?

Es kommt wohl darauf an, wie die Frage gestellt wird. Ist es Voyeurismus? Oder will jemand sich wirklich in deine Situation hineinversetzen, um dich zu verstehen, um Gesellschaft zu verstehen – um zu lernen und zu verändern?

Und das ist ein weiterer Grund, warum sich diese Aufstiegsgeschichten so gut verkaufen: Die Ausbrecher aus dem System sind so beliebt, weil man sich in sie hineinversetzen kann, ohne sich zu elend zu fühlen. Wir bieten die Möglichkeit, ein armes Leben mit-erlebbar zu machen – inklusive Roter-Teppich-Happy-End. Mit einem elenden Leben, das elend bleibt, will noch immer keiner was zu tun haben.

Das Interview führte:

Elsa Koester

Journalistin

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