Die selbst verwaltete Flüchtlingsunterkunft
Die rigide Sparpolitik von Europäischer Zentralbank, EU- Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF) hat Griechenland in eine humanitäre Krise gestürzt: Zwei Drittel der Menschen leben am Rand und 30 Prozent unterhalb der Armutsgrenze. Gegen diese Verheerungen der Troika stellt sich eine wachsende solidarische und emanzipatorische Graswurzelbewegung. Kathrin Hartmann hat kürzlich Athen im siebten Jahr der Krise besucht und schreibt in einem dreiteiligen Tagebuch, was sie dort erlebt hat. Teil 2: City Plaza, die selbst verwaltete Flüchtlingsunterkunft.
Theseus und Hippodameia tragen eine Mütze aus Schnee, von den Platanen und Palmen rund um die Bronze-Statue auf dem Victoria-Platz fallen weiße Brocken. Nur wenige Menschen halten sich an dem sonst so belebten Ort auf, die Kältewelle hat in diesem Januar auch Griechenland erwischt. Zwei kleine Gruppen junger Männer stehen trotzdem hier, auf einer Bank sitzt eine Familie, Geflüchtete.
Vor einem Jahr noch schliefen auf dem Platz, der wenig größer ist als ein Fußballfeld, hunderte Verzweifelte wochenlang unter freiem Himmel. Jeden Tag brachte die U-Bahnlinie 1 neue Geflüchtete vom großen Hafen in Piräus in die Stadt. Weil Mazedonien die Grenze zu Griechenland dicht gemacht hatte, endete hier für viele Afghanen, Iraner, Iraker, Syrer und Libanesen die Reise.
Verbessert hat sich die Situation für die meisten seither nicht. Im vergangenen März räumte die Polizei den Platz und verteilte die Geflüchteten in provisorischen Unterkünften, etwa im stillgelegten Flughafen in Ellinikó oder in Lagern, wo sie im Januar in ungeheizten Zelten ausharren.
Doch vom Platz der zerstörten Träume sind es gerade einmal fünf Fußminuten zu einem Ort der Hoffnung. Vorbei an Handy-Shops, geschlossenen Läden, Kiosken und kleinen Obstgeschäften komme ich zum City Plaza, ein heruntergekommener Betonklotz aus den siebziger Jahren. Wäsche hängt auf den Balkonen, an manchem Geländer prangen beschriftete Betttücher. Im Foyer plätschert der mondäne Brunnen längst nicht mehr, links vom Eingang stapeln sich Kartons neben Kinderwagen, Kinder rennen laut lachend die Treppen rauf und runter.
Vom Platz der zerstörten Träume zum Ort der Hoffnung
Über dem Schlüsselkasten an der Rezeption hängt ein Plakat, darauf steht auf englisch und arabisch: »Wir leben zusammen – wir kämpfen zusammen.« Das ehemalige Hotel der gehobenen Mittelklasse ist heute eine selbstverwaltete Unterkunft für Geflüchtete. In den mehr als 120 Zimmern auf sieben Stockwerke leben rund 400 Menschen aus Afghanistan, Irak, Iran, Pakistan, Palästina und Syrien – fast die Hälfte davon sind Kinder. Seit 2009 stand das riesige Gebäude in der Athener Innenstadt leer. Die Regierung hatte das City Plaza geschlossen, weil der ehemalige Pächter seine Beschäftigten um Sozialabgaben geprellt hatte. Am 22. April 2016, zu der Zeit, als die Situation in einigen der menschenunwürdigen Lagern eskalierte, flexten Aktivisten den Bauzaun auf und brachen in das Hotel ein. Sie fanden intakte Zimmer, Bettwäsche, Handtücher und eine komplett eingerichtete Küche samt Geschirr. Die ehemaligen Beschäftigten, die den Prozess gegen den Pächter gewonnen und Anspruch auf das Inventar hatten, erklärten sich solidarisch und ihren Verzicht darauf. Nur zwei Stunden nach der Besetzung zogen die Geflüchteten ein.
Selbstverwaltung im City Plaza Athen: Sie leben zusammen, sie kämpfen zusammen.
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Achim Rollhäuser führt mich durch das Treppenhaus in den ersten Stock. Von der Decke hängen noch immer Kronleuchter, an den Wänden hängen Porträtfotos von Menschen, die hier ein Zuhause fanden. Die Geländer sind mit Holzbrettern vernagelt. »Wir haben viele kleine Kinder da, das haben wir gemacht, damit sie nicht durch das Geländer fallen.« Rollhäuser ist Rechtsanwalt und Mitglied von Diktyo, dem aktivistischen Netzwerk für politische und soziale Rechte. Er gehört zu den Aktivisten der ersten Stunde. »Wir waren sofort voll belegt«, sagt er, »wir haben erst die Härtefälle hierher gebracht, Schwangere, Familien, unbegleitete Minderjährige.« Allein 120 Menschen kamen aus dem berüchtigten Lager in Idomeni an der mazedonischen Grenze. »Wir wollen hier nicht nur eine Unterkunft bieten, sondern auch eine solidarische Alternative zu den menschenunwürdigen Camps und der Festung Europa, die vorgibt, keine Platz für Geflüchtete zu haben«, sagt Rollhäuser. Wie in allen solidarischen Initiativen in Griechenland geht es auch hier um Emanzipation: Aktivisten und Geflüchtete organisieren den Alltag im City Plaza zusammen und entscheiden gemeinsam. Sie organisieren auch Proteste, etwa mit den Geflüchteten, die am leerstehenden Flughafen Ellinikó wegen der unwürdigen Bedingungen in Hungerstreik getreten sind. Wir sitzen in der kleinen Bar, hinter der Theke stehen Studenten und kochen Tee. 30 Freiwillige aus 20 Ländern weltweit helfen hier. Darüber hinaus gibt es eine eigene Apotheke wie in den Solidarischen Kliniken, eine Ärztin hat regelmäßig Sprechstunde, eine Psychologin kümmert sich um Traumatisierte, die Kinder sind in Kindergärten und Schulen rundum untergebracht, Aktivisten geben Sprachunterricht.
Gelingende Selbstverwaltung im Alltag
An einem Tisch spielen zwei Männer Backgammon, drei kleine Buben, die übermütig in die Bar stürmen, werden hinaus komplementiert. »Das ist ein Rückzugsort nur für Erwachsene«, sagt Rollhäuser, die Kinder trollen sich kichernd. Damit das Zusammenleben funktioniert, gibt es wenige, aber strenge Regeln: keine Trennung nach Herkunft, alle Familien wohnen in eigenen Zimmern, aber bunt gemischt nebeneinander. Jeder muss einen Dienst übernehmen: kochen, putzen, übersetzen, Lebensmittel im Großmarkt holen, Kinder betreuen oder auch Haare schneiden. Die wichtigste Regel: keine Gewalt. »Das war aber auch bisher nur zweimal der Fall.« Ein gewalttätiger Familienvater wurde rausgeschmissen und durfte erst nach drei Wochen wieder zurückkommen. In einem anderen Fall nahm der rausgeworfene Mann allerdings die ganze Familie mit. »Aber ansonsten funktioniert das bestens. Klar gibt es vielleicht mal Auseinandersetzungen wie überall, aber wir hatten noch nie eine Schlägerei.«
Gelebte Selbstverwaltung im City Plaza Athen ist Kampf um Menschenrechte.
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In der riesigen Hotelküche steht Christian Herera am Herd, er ist Koch und kommt aus Chile. Mit etwa einem Dutzend junger Männer kocht er das Mittagessen, es gibt vegetarisches Chili sin Carne, eine von drei Mahlzeiten am Tag. Die Stimmung ist ausgelassen, es wird herumgealbert. Für einen Moment vergesse ich, dass ich von Menschen umgeben bin, die vor Krieg, Terror, Armut und Elend geflohen sind. Solche Momente gibt es im City Plaza oft. Man spürt und sieht, wie sich die Menschen wohl fühlen. Sie leben hier in Sicherheit, sie haben Privatsphäre, ja: ein Zuhause. Auch wenn die meisten von ihnen noch nicht am Ende ihrer Reise sind, auch wenn viele unter großem psychischen Stress stehen, weil sie traumatisiert sind oder schlicht nicht wissen, wie es weitergeht.
Vom Dolmetscher zum Bittsteller
In der Bar sitzt Rahin. Auf meine Frage, wie es ihm hier gefällt, lächelt er: »Es ist einfach wunderschön hier.« Der 23-jährige Afghane ist einer der ersten alleinstehenden jungen Männer, die im City Plaza aufgenommen wurden. Vor etwa einem Jahr ist er aus Afghanistan geflohen, weil er von Taliban bedroht wurde. Er arbeitete nahe Kabul als Übersetzer für eine amerikanische Firma, »die Taliban wollten, dass ich sie einschleuse für ein Selbstmordattentat.« Er kündigte. Im Hintergrund läuft auch jetzt Nirvanas »Come as you are«. Er organisierte sich ein Visum für die Türkei, von dort gelangte er nach Griechenland. Erst lebte er wochenlang in einem Zelt am Hafen von Piräus, dann wurde er in das Lager Malakassa nahe Athen verfrachtet. »Die UNHCR-Leute haben gesagt, da gäbe es Betten und Duschen, aber es gab gar nichts, es war der Albtraum, zwölf Leute in einem Zelt, selten Strom und nicht einmal Toiletten«, man habe sie auf Büsche und Bäume verwiesen. »Da war ich schockiert: das soll Europa sein?« Er bekam Kontakt zu einer Aktivistin, er half ihr und übersetzte für sie. Sie stellte den Kontakt zum City Plaza her. »Als ich hörte, ich komme in ein Hotel, da dachte ich: wow! Ich konnte das gar nicht glauben.« Als er ankam, hungrig, krank und völlig übermüdet, »da hab ich mich erst einmal ins Bett gelegt und habe einen kompletten Tag durchgeschlafen.« Plötzlich hält er erschrocken inne und greift in die Brusttasche seiner Jacke, erleichtert holt er seinen Registrierungsausweis hervor. »Ich habe immer Angst, den zu verlieren, das ist das wichtigste, was ich habe.« Rahin hofft, endlich anzukommen, am liebsten in Griechenland. Aber das Asylverfahren dauert ewig, »ich warte, warte, warte, dann geht es wieder von vorn los, und immer behandeln sie einen wie Kinder.« Er fühlt sich wohl im City Plaza, wo er übersetzt und Leute zum Arzt begleitet. Gleichzeitig sieht er Freunde kommen und gehen, während er auf der Stelle tritt. »Ich möchte Pläne machen, will mein Leben beginnen.«
City Plaza Athen: Ausruhen nach Flucht, Warten auf Zukunft, Leben in solidarischer Gemeinschaft.
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City Plaza: Das beste Hotel Europas
An der Rezeption hat Nasim Lomani Dienst. Er kommt aus Afghanistan, lebt seit mehr als 15 Jahren in Griechenland und arbeitet seit mehr als zwölf Jahren mit Geflüchteten. Ständig kommt jemand an den Tresen: Leute aus der Umgebung, die Kleiderspenden und Medikamente abgeben, Bewohner, die Kopfschmerztabletten brauchen, Freiwillige, die Dienstpläne besprechen wollen. Lomani ist ebenfalls Mitglied bei Diktyo und gehört zu den ersten Besetzern. »Jeder will hierher kommen«, sagt er. Es hat sich schnell herumgesprochen, dass das City Plaza das »beste Hotel Europas« ist. 300 Leute stehen auf der Warteliste mit den dringendsten Fällen. »Weißt Du, was für ein dreckiger Job das ist, Leute auszuwählen?« Er zeigt mir ein Handyfoto, es zeigt eine junge Mutter im Zelt, die in diesen Tagen bei Minusgraden ihr Baby bekommen hat. Allen in den Lagern geht es beschissen, die Härtefälle sind zahllos. »Die Behörden wollen ihnen das Leben so schwer wie möglich machen, damit sie wieder gehen«, sagt Lomani. Das City Plaza ist gelebter solidarischer Widerstand gegen die menschenverachtende Festung Europa, gegen eine gnadenlose Abschottungspolitik, die zigtausende Menschen in den Tod getrieben hat, gegen eine EU, die Despoten und Kriegsverbrechern Milliarden in den Rachen wirft, damit sie Flüchtlinge zurückhalten. »Wir tun nicht so, als lösen wir das Problem. Aber wir zeigen, wie es funktionieren kann. Wir wollen, dass die Lager schließen, die Menschen sollen zu uns, in die Stadt, kommen.«
Menschenrechte versus Privatbesitz
In diesem Fall geht es auch um eine bedeutende gesellschaftspolitische Frage: Was ist wichtiger – Menschenrechte oder Privatbesitz? »Das Hotel stand jahrelang leer, es wäre einfach verfallen, wenn wir nicht eingezogen wären«, sagt Lomani. Zwar kämpfe die Besitzerin darum, das Hotel zurückzubekommen, weil sie es verkaufen will. Doch die Behörden lassen die Aktivisten gewähren – »sonst müssten sie sich ja um zusätzliche 400 Leute kümmern.«
In ganz Europa stehen 11 Millionen Wohnungen leer – weltweit gibt es rund 65 Millionen Flüchtlinge. Auch ist das Schicksal der Geflüchteten mit dem von vielen Griechen verbunden: in Griechenland leben 50 000 Menschen auf der Straße – das entspricht der Einwohnerzahl einer Stadt wie Passau. Lomansi Augen funkeln wütend, in seiner Stimme liegt Empörung: »Es ist doch absolut unmöglich, Obdachlosigkeit und Kältetod zu akzeptieren!«
Meine Unterkunft ist nur einen Steinwurf vom City Plaza entfernt. Jeden Tag laufe ich über den Viktoria-Platz. Jeden Tag begegne ich Menschen, die im City Plaza leben, sie grüßen freundlich, schon von Weitem. Jedes Mal überkommt mich das heftige Gefühl, das mich die ganze Zeit in Griechenland begleitet – das blanke Entsetzen darüber, was Menschen angetan wird, nur um den wachsenden Wohlstand einiger weniger zu schützen. Und Mut und Hoffnung, wenn ich sehe, was möglich ist und wie einfach alles plötzlich erscheint, wenn Menschen solidarisch sind.
Wer die Arbeit im City Plaza unterstützen will, kann hier spenden.
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