Clickworker der alten Zeit
Was uns in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen und in Verlautbarungen der Politik, in Reden und Abkommen, wissenschaftlichen Untersuchungen und Sachbüchern über Wirtschaft erzählt wird, verhandelt auch die Literatur. Manchmal, nein oft, ist es erhellender, einen Roman zu lesen, um sich darüber klar zu werden, wie sich die Dinge entwickelt haben, worauf wir zusteuern und in welchem Schlamassel wir stecken. Und ob es ernste oder Unterhaltungsliteratur ist, die uns erhellt, sei allen überlassen, die genug haben von den ewig gleichen Wortstanzen. Allemal kann es ein Vergnügen sein. Wenn auch oft ein beängstigendes.
Es war ein anderer, ein neuer Stil, ein Experiment mit der Sprache, das Peter Weiss 1962 der »Gruppe 47« vorstellte. Das dann bei Suhrkamp erschienene Werk, 124 Seiten lang, kostete 1963 drei Mark. Damals betrug das jährliche Durchschnittseinkommen in der kleinen BRD 7775 DM, also rund 648 DM monatlich. Trotzdem klingen drei Mark nach einem kleinen Preis für große Literatur, deren Qualität sich aber wahrscheinlich nicht in hohen Verkaufszahlen niederschlug. Was allerdings dadurch aufgewogen scheint, dass Das Gespräch der drei Gehenden nicht in Vergessenheit geraten ist.
Wie jemand minutiös beschreiben kann, was gesehen, gedacht, gefühlt wird, in einer sanften und doch atemlosen Sprache, war und ist meisterhaft. Der Versuch, den marodierenden Gedanken Ausdruck zu verleihen, bizarr fast in ihrer ausufernden Dehnung und Entfernung vom Ausgangspunkt, Beschreibungen, die beängstigend wirken, einen Sog entwickeln, eine Gemengelage aus Verzweiflung, Fremdheit, die fast körperlich wirkt, surreale Welten und Bilder, Wunden, die sich nie schließen werden, das alles lässt sich, schrieb ein Rezensent, »als Versuch lesen, die Erinnerung an Auschwitz darzustellen«.
Drei Gehende: Abel, Babel und Cabel. Ob sie wirklich miteinander reden oder aneinander vorbei oder gar nicht, ist bald nicht mehr wichtig. Absurde Situationen werden beschrieben, die bildgewaltig beschrieben, abrupt und ohne Auflösung enden. Mythologie, Märchen und Satire vermengen sich. Welten werden beschrieben, von denen eine der vielen die Arbeitswelt, eine Weitere die der Verzweiflung angesichts undurchschaubarer Bürokratien im Gefolge von Arbeit, und eine andere die des Raffens und Schaffens ist.
»In ihrer letzten Stunde saß ich neben meiner Mutter am Bett, in einem mit weißglänzender Ölfarbe ausgemalten Zimmer und zur anderen Seite saß mein Vater. Sie konnte nicht mehr sprechen, zeigte ihre Wünsche nur mit Handbewegungen, oder schrieb sie nieder, auf einen kleinen Block. Sie deutete an, daß wir ihr unsere Arme um die Schultern legen sollten, so lehnte sie sich an uns, es erleichterte ihr das Atmen. Sie wies auf den Block, ich reichte ihn ihr, und sie schrieb, daß es jetzt schön wäre mit einer Tasse Kaffee. Ich läutete, die Pflegerin erschien, wir erhielten den Kaffee. Meine Mutter hatte ihr Leben lang andern Leuten die Wohnungen gereinigt und die Wäsche gewaschen, der Wunsch einer alten Arbeiterin nach einer Tasse Kaffee war der Wunsch nach Sonntagsfrieden.«
Arbeit als lebenslange Plackerei
Arbeiterin, Kaffee, Sonntagsfrieden. Arbeit als lebenslange Plackerei nur schlecht gelohnt am Ende der Tage. Und dann noch das Befremdliche an Arbeit, wenn sie geschieht um einen herum und dazu die Hierarchien, völlig undurchschaubar, dabei hat man ein Anliegen, ein Problem muss gelöst werden. Das nicht funktionierende Telefon in einem Haus, das komplett umgebaut und verwandelt wird zu einem neuen Arbeitsort. Einer der drei Gehenden erzählt seine Suche nach dem Verantwortlichen für das kaputte Telefon. Findet die durch Lötbrenner zerstörte Telefonleitung, fragt nach der Zuständigkeit, wird an den Vormann verwiesen, arbeitet sich durch Baulärm und Unzuständigkeiten, irgendwo werden die neuen Räume bereits mit Schreib- und Rechenmaschinen belegt, da stehen Männer über Baupläne gebeugt, aber das Telefon ist existenzsichernd für den Mann, der Bücher verkauft, sozusagen ein kleines Callcenter ist, Inbound und Outbound hieße es heute, selbstständig, ein Clickworker der alten Zeit. Die Bauleiter verweisen auf einen Beamten des Telefonwerks, der verweist an das Hauptamt.
»Und so kehrte ich zurück in mein Zimmer, wo ich die Lage des geringsten Widerstands wieder aufnahm und das Vergehen des Tages erwartete.«
Kafkas Erzählungen lassen genauso grüßen, wie wir erinnert werden an gepostete Elogen über den Versuch, herauszubekommen, wer bei der Telekom dafür zuständig ist, dass es mit dem Sorglos-Umzugspaket wirklich klappt. Einer erinnert sich an eine Zeit, da er mit ungeheuren Machtbefugnissen ausgestattet, so dass der Pförtner in dunkelgrüner Uniform vor ihm die Mütze zu ziehen hatte, sich um Austeilung, Anleihe oder Eintreibung von Geldern zu kümmern hatte.
»Obgleich auch Schriftstücke und Berechnungen angefertigt wurden, bestand die eigentliche Tätigkeit, in allen Abteilungen, in einem Suchen, Zurückschieben und Ausbauen von gegenseitigen Beziehungen, dies alles war schwer zu überblicken, lag selten offen, verbarg sich zumeist unter Handhabungen, die einen praktischen Anschein hatten. (…)
Ich hatte es mir angewöhnt, seitwärts zu gehen, und schleppte das eine Bein nach, und viele gingen hier auf ähnliche Weise, seitwärts oder rückwärts oder tief gebeugt oder bei jedem dritten Schritt einen Sprung vollziehend, je nach der Art der Aufgaben, die ihnen übergeben worden waren. Wenn ich mich nicht täusche, so waren in manchen Räumen die Schreiberinnen an ihren Stühlen festgeschnallt, und wenn sie aufstanden trugen sie den dreibeinigen Hocker am Gesäß. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke so sehe ich uns alle in einer unermüdlichen gemeinsamen Anstrengung, schief gehend, kriechend, auf dem Bauch zwischen mechanischen Konstruktionen liegend, und nur nachmittags, in der Stunde zwischen Zwei und Drei, sanken wir manchmal in eine Atemnot, eine Lähmung, aus der uns das Geschrei der Krähen weckte.«
Die Arbeitswelt und die Verzweiflung
Die drei Gehenden, von denen wir nicht wissen, ob sie gehen, miteinander reden oder in einem inneren Monolog gefangen sind, von denen sich keiner auf die Erzählung des jeweils anderen bezieht. Und doch sind sie fest verbunden, wie eine traurige dreiköpfige Hydra, der die Arbeit, das Laute, das Elende und das Fiebrige zu Köpfen gestiegen ist, die drei erzählen uns etwas vom Fremdsein und von Entfremdung bis hin zur tödlichen Ermattung.
Und dann ist da noch der Fährmann mit den vielen Söhnen, jeder eine Allegorie auf das Absurde und eine Geschichte von wirtschaftlichem Erfolg oder Misserfolg. Unbedingt lesen.
Peter Weiss: Das Gespräch der drei Gehenden. edition Suhrkamp, Frankfurt 1963
Weitere Buchempfehlungen von Kathrin Gerlof: Der Coup, Der Susan Effekt und Die Filmerzählerin.
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