Die Ordnung einer anderen Welt
Was erzählen uns die Ertrinkenden Pakistans und die Dürstenden Somalias über das Morgen? Kommentar zur COP27 aus OXI 2/23.
Ich nehme hier keine Analyse des institutionellen Gefüges vor, das die Ordnung der Welt zusammenhält. Stattdessen nehme ich dieses Gefüge aus der Perspektive derer in den Blick, die von ihm nichts als weitere Zerstörung und weitere Gewalt zu erwarten haben. Genauer: Ich werde das Institutionengefüge der gegenwärtigen Weltordnung aus der Perspektive in den Blick nehmen, die ich im Dezember 2022 während einer Reise in den Süden Pakistans teilen durfte.
Vom Juni dieses Jahres an wurde Pakistan über Monate von Regenströmen heimgesucht, die nahezu 2.000 Menschen das Leben kosteten, fast 900.000 Häuser zerstörten, weit über eine Million andere Häuser zum Teil schwer beschädigten. In den Fluten und an ihren Folgen starben mit den Menschen fast 800.000 Tiere. In einer zweiten Welle an Krankheiten, die ihren Ursprung im verdreckten, stinkenden Brackwasser hatten, das nach den Fluten jeweils bis zum Horizont das Land bedeckte und in einigen Gebieten noch immer bedeckt. Die gesamte Ernte wurde vernichtet, neue Aussaaten waren und sind auch heute kaum möglich. Die Regenfluten folgten auf eine ebenfalls monatelange Hitzewelle, die das jetzt überflutete Land zuvor weitflächig ausgedörrt hatte. Die Fluten selbst gingen nicht nur auf den seit Beginn der Wetteraufzeichnungen stärksten Monsun zurück, sondern wurden durch die Gletscherschmelze im Norden Pakistans verstärkt.
Die Verwüstung des Landes und die Vertreibung von zeitweile über 30 Millionen Menschen waren kein Naturereignis, sondern Resultat dessen, was man anderswo den »Klimawandel« nennt. Sie sind Resultat der globalisierten kapitalistischen Produktionsweise, der sie institutionell regulierenden Weltordnung und der mit ihr verbundenen imperialen Lebensweise. Sie haben ihren Ursprung und ihre Mitte anderswo: hier bei uns.
Die Perspektive der von dieser Weltordnung ins feuchte und stinkende Nichts Verdrängten teilten wir sechs Tage lang, während derer wir 14 Dörfer der Distrikte Sujawal, Jamshoro, Matiari, Sanghar, Sukkur, Jacobabad und Dadu bereisten. Eines dieser Dörfer war auch Monate nach den Fluten nur per Motorrad zugänglich. Wir kehrten von dort über Karatschi nach Frankfurt zurück. Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, blieben, wo sie waren. Sie haben nicht nur alles verloren. Sie haben heute bereits mehr Schulden als zuvor. Schulden, die sie für die Häuser, das Vieh, die Ernte aufgenommen hatten, die sie jetzt nicht mehr besitzen.
Vom 6. bis 18. November desselben Jahres fand im ägyptischen Scharm el-Scheich die 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen statt, die sich »Conference of the Parties« nannte, kurz COP27. Zu ihr versammelten sich 20.000 Menschen, Staats- und Regierungschef:innen, Minister:innen und Bürokrat:innen verschiedenster Funktionen, mit ihnen Tausende Journalist:innen und Repräsentant:innen der sogenannten »internationalen Zivilgesellschaft«. Vertreter:innen der pakistanischen Regierung trugen bei dieser Konferenz ihre Forderungen nach voller Reparation für die vom »Klimawandel« verursachten Schäden und Verluste vor, sprachen auch von der Notwendigkeit eines Erlasses der Schulden, die ihr jede Möglichkeit nehmen, den Opfern und Hinterbliebenen der Fluten angemessen beizustehen. Dass die Regierung Pakistans nicht um Hilfe bat, sondern Reparationen einforderte, kam in der umfangreichen Berichterstattung zur Konferenz nicht vor. Auch die Vertreter:innen der Zivilgesellschaft insistierten nicht auf diesem doch eigentlich entscheidenden Punkt: Sie wollen ja im Gespräch bleiben, in bester, weil kritischer Absicht. Die Ignoranz konnte nicht verwundern, fanden die Fluten selbst in den internationalen Medien doch kaum Beachtung. Eine internationale Geberkonferenz in Genf gestand dem Land im Januar 2023 mehr Hilfsmittel zu, als seine Regierung auf dieser Konferenz erbat – nachdem sie ihre ursprüngliche Forderung nach voller Reparation für alle Schäden und Verluste stillschweigend aufgegeben hatte, um zu bekommen, was man ihr irgend überlassen wollte.
Dabei wäre von Reparationen nicht nur für Pakistan zu reden. Tatsächlich lässt sich, was von Pakistan zu sagen ist, auch aus Afrika, aus Nigeria, aus dem Tschad, aus Sudan und Südsudan berichten, ebenfalls von katastrophischen Überschwemmungen heimgesucht. Ähnliches wäre aber auch aus Somalia zu melden, dort allerdings nicht infolge von Fluten, sondern umgekehrt infolge einer Dürre, die 90 Prozent des Landes heimgesucht hat, zeitgleich zur Überflutung Pakistans. Hier litten und leiden über sechs Millionen Menschen Hunger und Durst. Auch hier wurde die Ernte vernichtet, konnte für das nächste Jahr nicht ausgesät werden. Auch hier verendete das Vieh, geschätzt drei Millionen Tiere. Auch hier werden sich die Armen weiter und auswegloser verschuldet haben. Dabei findet sich Somalia auf der Liste der für Flut und Dürre verantwortlichen Länder noch deutlich hinter Pakistan, im alleruntersten Feld. Alle Länder dieses Feldes sind ihrerseits rettungslos verschuldet, nicht zufällig genau bei den Ländern, die vom »Klimawandel« nicht oder jedenfalls nicht so betroffen, jedoch für ihn verantwortlich sind. Verschuldet auch bei den Institutionen, die bei der Regulation der internationalen Schuldenordnung maßgeblich sind: IWF und Weltbank. Allerdings sagen uns weder das Ertrinken Pakistans noch der Durst Somalias, dass morgen bereits mit allem Schluss sein wird. Das Zerbrechen der gegenwärtigen Ordnung der Welt kann sich noch Jahrzehnte ziehen. Dazu gehört, dass Wiederaufbau-Arbeiten in Pakistan oder Somalia, wenn es überhaupt zu solchen kommt, gar nicht mehr »nachhaltig« sein können, weil diese und andere, weil immer mehr Länder im nächsten, in drei, fünf oder sieben Jahren von ähnlichen, absehbar eher schlimmeren Verheerungen heimgesucht werden. Hier erst fände eine Debatte von Weltordnungsfragen ihren Ausgangspunkt. Begonnen hat diese Debatte noch nicht wirklich.
Wenn ich im vorletzten Absatz geschrieben habe, dass wir nach Frankfurt zurückgekehrt sind, während die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, blieben, wo sie waren, war das nur die halbe Wahrheit. Ja, viele werden bleiben, wo sie sind. Sie werden zumindest auf Monate, vielleicht auch noch auf Jahre versuchen, irgendwie zurechtzukommen, irgendwie zu überleben. Auf schmalen Landzungen, in zerschlissenen Zelten, am Rand von Landstraßen. Wir haben Kinder gesehen, die bereits wieder Kricket spielen: Wie sollten sie auch nicht?
Doch werden nicht alle bleiben. Viele werden sich auf die Landstraßen begeben, an deren Rändern sie zelten. Sie werden erst zu Fuß gehen, manche werden ein Fahrrad, einen Eselskarren, einige ein japanisches Motorrad, viele irgendwann einen Bus nehmen. Das haben sehr viele von ihnen auch früher schon getan, in größerer Zahl nach den letzten großen Fluten, denen des Jahres 2011. Damals zog es die meisten vom Land in die Städte, nach Sukkur, Larkana, Khairpur, Nawabshah, Hyderabad, Karatschi. Vor allem nach Karatschi. Pakistans ganz im Süden gelegene Industriemetropole zählte in den 1950er Jahren noch 600.000 Einwohner:innen. Wuchs die Stadt zunächst infolge der Massenvertreibungen nach der postkolonialen Teilung des Subkontinents, so später infolge der Armuts- und Elendsmigration, immer auch aber einfach wegen der vieltausendköpfigen Sehnsucht nach einem besseren und freieren Leben. Etwas mehr als 70 Jahre nach der Unabhängigkeit zählt Karatschi nicht mehr 600.000, sondern 30 Millionen Einwohner:innen. Sie leben auf einer Fläche von der Größe des Saarlands. Sie leben in planlos errichteten, meist grauen oder braunen Ziegelbauten, ein- bis vierstöckig, überragt von mehr oder minder verdichteten Ansiedlungen von Hochhäusern und Bürotürmen, von denen manche auch in Frankfurt stehen könnten. Erschlossen wird die Stadt über Abertausende Lehmwege und -straßen, aber auch von rund 50 mehrspurigen, einander zum Teil atemberaubend überwölbenden »Highways«, zu deren Errichtung es nie einen Plan gab. Dazwischen liegen zum Teil auch größere Brachflächen, um die unterschiedliche Mafiaclans blutige Kriege führen: Sie werden nicht mehr lange Brachflächen bleiben, sie werden Bauland. Über Karatschi ist Pakistan der Weltwirtschaft verbunden, hier konzentriert sich die Textilwirtschaft des Landes, mit Hunderttausenden von Arbeiter:innen, die mit der Herstellung von in Europa und den USA verkauften, von uns getragenen Jeans, T-Shirts und Lederjacken zwei oder drei Dollar am Tag verdienen.
Interessant ist, dass es, anders als nach den Fluten 2011, in diesem Jahr keine größere Migrationsbewegung nach Karatschi gab. Die meisten der nach 2011 Zugewanderten sind gescheitert, sind in den weiten Slums Karatschis verschwunden oder zurückgekehrt. Das wissen alle, deswegen bleiben viele, wo sie sind. Gehen aber werden sie, müssen sie, wenn nicht heute, dann morgen, wenn sie von der nächsten Flut heimgesucht werden, einer Flut, der dann wieder eine monatelange Dürre vorausgegangen sein wird. Doch werden sie nicht nach Karatschi, nicht nach Hyderabad, sie wollen und werden nach Europa gehen. Die Route dorthin führt über den Iran und die Türkei, der Verkehr auf dieser Route nimmt seit Jahren beständig zu. So wird Europa diese Menschen doch noch zur Kenntnis nehmen. Mit vielen anderen Leuten von anderswo, in Asien wie in Afrika. Von ihnen her wird Europa die Zukunft seiner Weltordnung denken.
Frage ich aus pakistanischer Perspektive nach »Weltordnung«, dann frage ich nicht nach einer 28. »Conference of the Parties«. Ich denke nicht an eine gemeinsame Anstrengung der gesamten »internationalen Gemeinschaft« zur Rettung der Welt, sondern an die Konferenz von Bandung. Zu ihr versammelten sich im April 1959 Vertreter:innen von 29 Staaten Asiens und Afrikas. Pakistan, Indien, Burma und Sri Lanka spielten dort eine wichtige Rolle. Sie diente einem Austausch dieser Länder in ihrem Verhältnis zu den damals (wie heute) herrschenden Mächten dieser Welt. Eine neue Bandung-Konferenz hätte nicht die Einheit der Welt, sie hätte in sehr viel radikalerer Weise als 1959 deren Spaltung zu denken. Sie hätte den Prozess zu denken und im Fall des Gelingens in Gang zu setzen, in dem die für den »Klimawandel« verantwortlichen Länder der Welt von allen anderen Ländern erst zu Reparationszahlungen und zu einem globalen Schuldenerlass, dann zu einer radikalen Konversion ihrer Produktions- und Lebensweise gezwungen werden. Weil sie dazu »freiwillig« niemals bereit sein werden. Niemals. Absehbar, das weiß ich natürlich, wird es nicht zu einer neuen Bandung-Konferenz kommen. Deshalb wird sich die kommende Weltordnung zunächst um die Probleme der Migrationsabwehr, um die Sicherung des Zugangs zu Ressourcen und um die Bekämpfung des Terrorismus kümmern. Sie wird die Ordnung einer anderen Welt sein.
Thomas Rudhof-Seibert ist in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für Südasien zuständig und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne.
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