Wirtschaft
anders denken.

Corona und darüber hinaus

01.03.2022
Das Titelbild des Buches "Das Chaos verstehen" auf orangenem Hintergrund

Linke Gegenwartsanalysen verbieten den Weg zurück zur Normalität vor Corona.

Die Corona-Pandemie stellt die Linke in theoretischer wie praktischer Hinsicht vor vielerlei Probleme. Die Anzahl der Veröffentlichungen ist unübersichtlich, steigt stetig und stellt im Prinzip bereits einen eigenen Forschungsbereich dar. Der Sammelband „Das Chaos verstehen“ versammelt Zeitdiagnosen zehn Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates von attac. Das Konzept stammt zwar noch von 2019, es wurde nun jedoch um die Dimension der Corona-Krise in all ihren Facetten erweitert.

Auf den ersten Seiten versuchen sechs der Herausgeber:innen die vielschichtigen Grundzüge der aktuellen Lage zu erfassen: Demnach ist die „Menschheit insgesamt mit außergewöhnlichen mehrdimensionalen Krisenprozessen“ konfrontiert, zunehmend verdichtet zu „einem großen Krisenzusammenhang“, insbesondere in Sachen Klima und Umwelt. Die Finanzkrise seit 2008 wurde nicht adäquat gelöst, die Verhältnisse in der EU sind vor allem von der EZB abhängig. Die soziale Krise ist Folge von vier Dekaden neoliberaler Politik, der „Staat und die politischen Systeme“ sind in „Krise ihrer Problemlösungs- und Steuerungsfähigkeit sowie ihrer Legitimation geraten“, was sich im Umgang mit Corona zeigt. In der internationalen Politik kommt es zur Rückkehr geopolitischer Machtpolitik, die EU befindet sich in einer „Dauerkrise“ und kann schon längst „nicht mehr als progressives Projekt bezeichnet werden“. Die Autor:innen machen eine „Orientierungskrise“ in den Bevölkerungen aber auch bei den Herrschenden aus. Insbesondere von den klimatischen Verschlechterungen ist aber in erster Linie der globale Süden betroffen. Corona wird als „Brandbeschleuniger“ bewertet, der die Krisenprozesse nur noch deutlicher werden lässt. Dass die Autor:innen zugleich das tatsächliche Ende der europäischen Austeritätspolitik an der Tagesordnung sehen, ist angesichts der aktuellen Regierungsbeteiligung der FDP noch nicht ausgemacht.

Wir befinden uns in einer „siguläre[n] Zivilisationskrise“, die Menschheit als Ganze ist betroffen und die Umweltkrise ist ganz unmittelbar mit dem Kapitalismus verbunden. Einem grünen Kapitalismus wird eine grundlegende Absage erteilt. Die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung wird als gegeben angesehen. Hinzu kommt eine Krise der Demokratie, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit.

Am Ende folgt eine Analyse linker Politik als transformationsorientierte, wobei die größte Kritik lautet, es fehle an Klassenanalyse und dem Kontakt zu Arbeit und zur Arbeiterklasse. Es seien auf politisch-gesellschaftlicher Ebene „transformative Eingriffe“ nötig, und die Linke müsse analytisch das große Ganze im Blick haben, um wieder eine Kraft zu sein.

Wie auch die nachfolgenden Beiträge ist der rahmensetzende Auftakt nüchtern formuliert und kommt ohne alarmistische Formulierungen aus. Nichts wird beschönigt, die Komplexität der Lage wird anschaulich, analytisch erfasst. Ausformulierte Lösungen sucht man allerdings vergebens.

Die anschließenden, allesamt gut lesbaren Beiträge, die dann einzelne Stränge aus dem Auftakt weiterverfolgen, können nur schlaglichtartig beleuchtet werden: Alex Demirović betont, dass wir uns bereits inmitten der Zeit der Veränderung befinden. Ein neues, einigermaßen stabiles Akkumulationsregime hat sich nicht entwickelt, die postfordistische Regulation ist gescheitert, neue, tiefereichende Krisenprozesse sind zu beobachten, die beispielsweise auch Meeresströmungen umfassen. Und selbst das 1,5-Grad-Ziel würde die Entwicklung nicht mehr aufhalten, höchstens begrenzen, neue Organisationsformen sind daher nötig.

Birgit Mahnkopf zerpflückt mit Verve den grünen Kapitalismus und den European Green Deal – beides sind für sie nichts als Illusionen, denn beispielsweise schon allein seltene Erden als wichtiges Element der E-Mobilität und ihre Förderung sind höchst problematisch und geopolitisch aufgeladen.

Peter Wahl skizziert „Krieg und Frieden in der multipolaren Welt-Un-Ordnung“. Bitter ist, wie angesichts der aktuellen Ereignisse in und um die Ukraine deutlich wird, dass eine breite, linke Friedenspolitik, die nicht an den nationalstaatlichen Grenzen zerschellt und eine Unabhängigkeit wie Flexibilität im Denken aufweist, fehlt. Deutlich wird auch, dass geopolitische Fragen bei der Krisenanalyse nicht fehlen oder vergessen werden dürfen.

Andreas Fisahn stellt fest, dass auf nationalstaatlicher Ebene der Rechtsstaat im Fordismus repressiv war, die Demokratie hingegen integrativ, im Neoliberalismus ist der Rechtsstaat mehr und mehr liberal, die Demokratie hingegen wird zunehmend exklusiver. Seit 2008 befinden sich die kapitalistischen Zentren in Ausnahmezuständen. Fisahn führt aus, wie die Krise der Demokratie zu fassen ist.

Die „grundsätzliche Krisenhaftigkeit heutiger (Lohn)Arbeit“ wird von Stefanie Hürtgen exzellent herausgearbeitet, sie spricht von einer „normalisierte[n] Dauerkrise im Arbeitsalltag“, wobei sie ihre Analyse auf den globalen Norden konzentriert. Es geht ihr um die Analyse konkreter „Organisationsweisen“ von Arbeit und der kapitalistischen Produktion. Sie bespricht „Formänderungen der Produktions-organisation“. Dies mündet in einem „global-flexiblen Produktionsregime“ (ebd.). Hürtgen spricht auch von „glokalen“, und gerade nicht globalen Produktionsnetzwerken, denn nur so wird deutlich, dass es Aufspaltungsprozesse der Arbeit und Fragmentierungen sowie Verlagerungen auch ganz regional und lokal ‚bei uns‘ gibt. Ein wichtiges Element der Krise ist dabei die permanente Optimierung von Kosten, Technik und Produkten und damit auch der Arbeitsprozesse. Fragmentierung und Kontrolle gehen dabei Hand in Hand, zugleich beobachtet Hürtgen Vereinheitlichung zum Zwecke des Vergleichs, um wiederum die Verwertung zu optimieren. Die tarifliche Zerklüftung beginnt innerhalb einzelner Betriebe und wird dann auf den Weiteren Ebenen nur noch schlimmer.

Christa Wichterich und Carolin Mauritz formulieren eine „intersektionale, feministische Perspektive auf den Covid-Kapitalismus“ mit Fokus auf Care-Arbeit. Die Corona-Krise fassen sie als „Krise sozialer Reproduktion“, die als solche „integraler Teil der Vielfachkrise des globalisierte[n] neoliberalen Kapitalismus“ ist. Corona traf auf eine ohnehin schon krisenhafte Situation im Care-Bereich und intensivierte diese.

Die Religion in der heutigen Zivilisationskrise ist das Thema von Ulrich Duchrow und Fritz Reheis gibt einen Überblick über linke „Transformationskonzepte“ von Wolfgang Streeck (unter Auslassung seines neuestens, nationalstaatlichen orientierten Buches), Klaus Dörre, Nico Paech, Ulrich Brand und Eva von Redecker. Er versucht ihre gegenseitigen Auslassungen auszugleichen und sie zu integrieren. Entscheidend ist dabei seine Überlegung zum Thema Zeit. Zuletzt fragen Fisahn und Peter Wahl, inwiefern die Linke „Subjekt der Transformation“ sein kann und gehen kurz und bündig den Ursachen der politisch-gesellschaftlichen Schwäche der Linken nach.

Der Band wäre auch eine gute Gelegenheit gewesen, das Konzept der Vielfachkrise weiterzudenken, implizit geschieht dies vor allem im Beitrag von Demirović. Aber auch die anderen Beitragenden bieten genügend Material, um hier systematisch weiterzudenken und eine adäquate, linke Erfassung der Komplexität kapitalistischer Realität zu ermöglichen.

Bei der Lektüre aller Beiträge wird besonders deutlich: Es kann und darf keine Rückkehr zu einer Normalität der Zeit vor Corona geben – nichts daran wäre auch nur ansatzweise erstrebenswert, sondern im Gegenteil katastrophal.

Alex Demirović, Andreas Fisahn, Birgit Mahnkopf et al. (Hrsg.): „Das Chaos verstehen. Welche Zukunft in Zeiten von Zivilisationskrise und Corona?“, Hamburg, VSA Verlag 2021

 

Geschrieben von:

Sebastian Klauke

Politikwissenschaftler

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