Das Desaster von Chile
1973 begann nach dem Putsch der Militärs unter Pinochet das erste große neoliberale Experiment in einer kompletten Volkswirtschaft. Das ökonomische Ergebnis war ein Desaster, die politischen Folgen verheerend. Rückblick auf eine wirtschaftspolitischen Kurs, der militärische Gewalt und politischen Terror zu seiner Durchsetzung brauchte.
Nach knapp zehn Jahren stand der General vor dem Scherbenhaufen seiner Wirtschaftspolitik. Eine Dekade ungeahnt offensiver neoliberaler Wirtschaftspolitik hatte Chile, das nach dem blutigen Putsch vom 11. September 1973 von den Militärs um Augusto Pinochet mit äußerster Repression gegen jedwede Opposition regiert wurde, an den Rand des ökonomischen Abgrunds gebracht.
Das Experiment eines Kapitalismus ohne jegliches menschliche Antlitz war selbst nach dessen eigenen Kriterien völlig gescheitert. Die Wirtschaftsleistung war 1982 um 19, die Industrieproduktion gar um 21 Prozent eingebrochen, die Arbeitslosenquote hatte den Rekordwert von annähernd 30 Prozent erreicht – allein in der Industrie waren in einem Jahrzehnt 177.000 Stellen gestrichen worden – und die Inflationsrate war binnen eines Jahres von 9,5 auf 20,7 Prozent gestiegen, um im darauffolgenden Jahr nochmals auf über 23 Prozent zuzulegen. Zudem hatten die keinerlei Regulation unterliegenden Finanzinstitute des Landes, denen auch ein Großteil der gewerblichen Vermögenswerte gehörten, einen Schuldenberg von über 14 Milliarden Dollar angehäuft, was deutlich mehr als der Hälfte des chilenischen Jahresbruttoinlandsprodukts entsprach. 16 von 50 von ihnen mussten schließlich Konkurs anmelden.
Das »Wunder von Chile«, das der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1976 und propagandistische Hardliner einer »von allen staatlichen Zwangsmaßnahmen befreiten Marktwirtschaft«, Milton Friedman, noch am 25. Januar des Krisenjahres in seiner »Newsweek«-Kolumne ausgerufen hatte, war wie ein Kartenhaus zusammengebrochen.
Begonnen hatten die Planungen für dieses gescheiterte Experiment einer »chilenischen Schocktherapie« (Friedman) schon in den Regierungszeiten des 1970 gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, dessen halbherzige Verstaatlichungen und Wohlfahrtsprogramme den konservativen Eliten des Landes bereits viel zu weit gegangen waren.
Im September 1971 hatten sich ihre Vertreter auf einer von den Militärs und dem von Orlando Sáenz geführten Industriellenverband organisierten Konferenz nicht nur darauf geeinigt, dass sich Allendes Regierung »nicht mit der Sicherheit in Chile und der Existenz von Privatunternehmen« vertrage und daher so bald als möglich weggeputscht werden müsse, sondern auch darauf, dass »spezifische wirtschaftliche Programme als Alternativen zu den Regierungsprogrammen« ausgearbeitet werden müssten.
»The Brick« wurde am Tag nach dem Putsch überreicht
Natürlich waren auch US-amerikanische Institutionen in ihrem traditionellen Hinterhof beteiligt. Ein Ausschuss des US-Senats stellte im Jahr 1975 fest, dass die CIA aktiv daran mitgewirkt hätte, »einen umfassenden Wirtschaftsplan auszuarbeiten, der die Grundlage für die wichtigsten ökonomischen Entscheidungen der Junta bildete«, wie es in dem Abschlussbericht heißt. Acht Millionen US-Dollar hatte das US-Außenministerium dafür zur Verfügung gestellt.
Mit der Ausarbeitung dieser Planungen wurde eine Gruppe von Ökonomen um Sergio de Castro und Sergio Undurraga beauftragt. Beide hatten ebenso wie sechs der acht anderen Mitglieder und circa 100 Studenten an dem Austauschprogramm zwischen den Wirtschaftsfakultäten der Katholischen Universität Santiago und der Universität von Chicago teilgenommen, wo Friedman und Arnold Herberger sie stramm auf eine ultraliberale Linie getrimmt hatten.
Das Ergebnis überraschte nicht. Die »The Brick«, der Backstein, genannte über fünfhundertseitige Studie, die pünktlich am 12. September – einen Tag nach dem Putsch – den nun herrschenden und mordenden Generälen übergeben wurde, enthielt erstmals konkrete Planungen für den in Friedmans »Kapitalismus und Freiheit« bisher relativ abstrakt vorgeschlagenen Dreiklang aus Privatisierungen, Deregulierungen und heftigen Einschnitten bei den Staats- und vor allem Sozialausgaben.
Schocktherapie wurde zu einem der größten Misserfolge
Fieberhaft wurde mit deren Umsetzung begonnen. »Die ›Chicago-Boys‹, wie sie in Chile hießen«, schrieb Allendes Botschafter in Washington, Orlando Letelier, der später dort von chilenischen Agenten ermordet wurde, »überzeugten die Generäle, dass sie bereit waren, die dem Militär eigene Brutalität mit ihren intellektuellen Errungenschaften (…) zu unterstützen.«
Viele der in Staatsbesitz befindlichen Betriebe und Banken wurden privatisiert, der Finanzsektor dereguliert, die Importzölle von 74 auf zunächst 33 und später 10 Prozent reduziert und der Staatshaushalt trotz des gestiegenen Militäretats gleich im ersten Jahr um zehn Prozent gekürzt. Das Ergebnis war schon hier verheerend. Das Bruttoinlandsprodukt, das 1973 noch etwa 18 Milliarden US-Dollar betragen hatte, war bis 1975 auf magere 7,9 Milliarden geschrumpft. Die Inflation, die im Krisenjahr 1973 bereits auf das Rekordhoch von 508 Prozent geklettert war, stieg auch in den beiden folgenden Jahren noch um jeweils mehr als 300 Prozent an und die Arbeitslosenquote verfünffachte sich binnen dreier Jahre auf über 15 Prozent. Selbst Industriellenboss Sáenz erklärte die »Schocktherapie« zu einem »der größten Misserfolge unserer Wirtschaftsgeschichte«.
»Orgie der Selbstverstümmelung«
Eine Abkehr vom neoliberalen Dogma fand dennoch nicht statt. Im Gegenteil: Im März 1975 empfing Pinochet Friedman und Herberger, die die Junta darin bestätigten, die »Hindernisse zu beseitigen, die jetzt noch den privaten Markt einschränken«. Mit der konsequenten Umsetzung – Pinochet hatte in einem offenen Brief an Friedman dies »in vollem Umfang« zugesagt – wurde nun de Castro als neuer Wirtschaftsminister beauftragt. Bis auf die staatliche Kupfergesellschaft Codelco wurden alle 500 noch in öffentlichem Besitz befindlichen oder mit staatlichen Beteiligungen versehenen Betriebe privatisiert, wobei zumeist Gefolgsleute des Regimes, die bis heute die chilenische Wirtschaft dominierenden Piranhas, großzügig bedacht wurden. Weiterhin wurden die öffentlichen Ausgaben, vor allem durch die weitgehenden Privatisierungen des Schul- sowie des Kranken- und Rentenversicherungssystems, stark gekürzt; 1976 gleich um 27 Prozent, bis sie 1980 weniger als die Hälfte des Niveaus unter Allende ausmachten.
Besonders hart trafen alle diese Maßnahmen naturgemäß die Beschäftigten. Aufgrund des Verbots von Gewerkschaften sowie Streiks und der permanenten Repression gegen die Reste der Arbeiterbewegung in den Betrieben sanken die Durchschnittslöhne der Arbeiter von 1973 bis 1980 um 17 Prozent. Hinzu kam, dass die unteren Lohngruppen am meisten verloren und durch die Privatisierungen zusätzliche Gelder für das Schulgeld und die diversen Sozialversicherungen aufgebracht werden mussten. Während selbst 1975 noch etwa 50 Prozent der staatlichen Haushaltsmittel für Soziales ausgegeben worden waren, betrug diese Quote 1980 nur noch 32 Prozent – und dies bei einem fast halbierten Etat. Selbst der »Economist« sprach 1982 in Bezug auf die Lebensumstände der chilenischen Bevölkerung von einer »Orgie der Selbstverstümmelung«. Als Pinochets Regentschaft 1990 endete, lebten 45 Prozent der Chilenen unter der Armutsgrenze, während die reichsten zehn Prozent ihr Vermögen fast hatten verdoppeln können. »Ohne militärische Gewalt und politischen Terror«, schrieb der aus der Universität von Santiago gejagte Ökonom André Gunder Frank, »hätten diese Maßnahmen nicht durchgesetzt werden können.«
Die Bereitschaft der Chicago Boys
1982 aber half alles Sparen nichts mehr. Das kurzzeitig durch Auslandsinvestitionen und Kredite stabilisierte System erodierte, weil durch Dollarbindung und fehlende Importzölle die Handelsbilanz immer negativer geworden war, steigende Ölpreise die Kosten in die Höhe getrieben hatten und die Banken auf haufenweise faulen Krediten saßen. Ironischerweise waren es gerade die Einnahmen aus der staatlichen Kupfergewinnung – bis heute ist Chile das Land mit der weltweit höchsten Förderung –, die das Land vor dem Staatsbankrott retteten. Auch die Einleitung eines »pragmatischen Neoliberalismus« durch den neuen Finanzminister Hernán Büchi – die »Chicago Boys« hatte man längst vom Hof gejagt – in Form einer (Re-)Verstaatlichung der sieben bedeutendsten Banken und einiger ehemaliger Staatsbetriebe, allerdings bei voller Entschädigung der Eigentümer, der Wiedereinführung von Agrarsubventionen und Importzöllen und einer flexiblen Währungspolitik brachte nicht mehr das »Wunder von Chile«. Der Anteil des Landes am Welt-Bruttosozialprodukt war von den 3,54 Prozent des Jahres 1973 auf 1,53 Prozent im Jahr 1990 gefallen.
Die Apologeten eines möglichst unregulierten Kapitalismus, die die Lehren des chilenischen Modells unzähligen Staaten vor allem des globalen Südens und des ehemaligen staatssozialistischen Blocks verordneten, ficht dies allerdings bis heute nicht an. »Die Bereitschaft der Chicago Boys, für einen grausamen Diktator zu arbeiten, war eines der besten Dinge, die Chile je passiert sind«, schrieb Gary Becker, Friedmans Kollege aus Chicago und wie er mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet, noch 1997 in der »Business Week«. Für einige wenige immerhin hatte es sich ganz offensichtlich doch gelohnt.
Foto: Putsch vom 11. September 1973. Bombardierung des Präsidentenpalasts La Moneda. Biblioteca del Congreso Nacional / CC BY 3.0 cl
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