Wirtschaft
anders denken.

Das Märchen vom Wachstum für alle

18.08.2017
Nahaufnahme alte Mobiltelefone.Foto: MikroLogika / wikimediacommonsExternalisierung der Müllversorgung vom globalen Norden in den Süden.

Welche Bücher fehlen in den Lehrplänen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten? Diese Frage beantworten Studierende für OXI. Dieses Mal Stephan Lessenichs: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis.

Warum wächst die globale Ungleichheit trotz jahrzehntelanger Bemühungen der Industrieländer um die »Entwicklung« der »Anderen« stetig an? Die Erklärung des Soziologen Stephan Lessenich ist: Weil wir in einer Externalisierungsgesellschaft leben. Der Wohlstand der »entwickelten« Industrienationen existiere auf Kosten des Missstandes anderer Gesellschaften. Dies illustriert Lessenich in seinem Buch Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis an eingängigen Beispielen: Er beschreibt den extensiven Abbau von Rohstoffen in Ländern des globalen Südens unter kaum existenten Sicherheits- und Umweltauflagen, den anschließenden Import dieser billigen Rohstoffe zur Weiterverarbeitung in Industrieländern und zuletzt den Müllexport vom globalen Norden zurück in den Süden.

Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. 2016. Hanser Berlin.

Mit der »Externalisierung« greift er ein ökonomisches Konzept auf. Anders als in der VWL jedoch, steht im Mittelpunkt von Lessenichs Analyse die Internalisierung der Kosten des westlichen Lebensstils. Menschen im globalen Süden bezahlten diesen mit anhaltender Armut, düsteren Lebensperspektiven oder ihrer Gesundheit. Die »Entwicklungs«-Geschichten des globalen Nordens und globalen Südens werden von Lessenich so in einen verhängnisvollen Zusammenhang gebracht. Ein Schlussfolgerung daraus ist: Nicht alle Länder könnten den gleichen Wohlstand erreichen – sonst breche das System der Externalisierungsgesellschaft zusammen. Ein Punkt, der in entwicklungsökonomischen Debatten, in denen es immer mehr um technokratische, lokale Interventionen wie Impfungen und Bildungsgutscheine geht, an den Rand gedrängt wurde.

Lessenich verfolgt im Buch eine »konsequenten Soziologisierung«. Das heißt, er sieht die Welt als soziales Beziehungsgeflecht. Sein Fokus liegt auf den dominanten Lebensstilen der westlichen Gesellschaften und den Strukturen, die diese stützen. So werden globale und lokale Machtstrukturen sichtbar, die in der Mainstream-VWL kaum thematisiert werden. Mit dem Begriff der sozialen Praxis zeigt er auf, wie die Gesellschaften des globalen Nordens die Externalisierung reproduzieren: Wir externalisieren alltäglich die Kosten unseres Lebensstils, weil wir es können und weil wir durch die bestehenden sozialen und ökonomischen Strukturen nicht anders können. Die Strukturen, die diese soziale Praxis aufrechterhalten, werden im Buch jedoch kaum behandelt. Damit produziert das Verharren in der eigenen Disziplin einige Leerstellen bei der Interpretation globaler Verteilungsmuster. Zu dieser können insbesondere heterodoxe Ökonomieansätze viel beitragen: Nur ein Beispiel ist Ha-Joon Changs Buch Kicking Away the Ladder, in dem der Autor das Konzept des Freihandels als Wunderwaffe gegen »Unterentwicklung« angreift.

Lessenich betrachtet die Welt als Beziehungsgeflecht und erkennt, dass Reichtumsproduktion immer auch Armutsproduktion impliziert. Damit stellt er den im VWL-Studium gelehrten Vorstellungen des unendlichen Wachstums und des unabhängigen ökonomischen Agenten eine starke alternative Deutung der globalen Ökonomie gegenüber. Für VWL-Studierende zeigt es: Es gibt auch radikal andere und kritische Möglichkeiten über Ökonomie nachzudenken!

Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser, Berlin 2016, 224 Seiten

Geschrieben von:

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