Wirtschaft
anders denken.

Das marktzentrierte Weltbild und seine Auswirkungen

16.09.2021
Die technische Zeichnung eines PlanetensystemsBild von Gordon Johnson auf PixabayWo ist hier der Markt im Mittelpunkt?

Ein kleiner Blick in die Wissenschaftsgeschichte tut den Wirtschaftswissenschaften gut. Ausschnitt eines Essays der AG Alternative Wirtschaftspolitik zum Thema von OXI 9/21.

Zu jener Zeit, als sich Galileo Galilei mit seinem Wirken in Florenz anschickte, zur Überwindung des überkommenen geozentrischen Weltbilds beizutragen und stattdessen die Sonne in den Mittelpunkt zu stellen, begann der Aufstieg des Handelskapitalismus. Mit der kopernikanischen Wende setzte sich dann in den Wissenschaften die Newtonsche klassische Physik durch, die im 18. Jahrhundert zu einem wichtigen Vorbild des fatalen neuen marktzzentrierten Weltbilds in den ökonomischen Wissenschaften werden sollte, das die Welt bis heute immer noch prägt:
„Der Markt“ stellt nun in dieser Ideologie den Mittelpunkt der Welt dar, um den sich Menschen und Natur drehen, wie die Planeten um die Sonne. Ein wesentlicher Unterschied: Galileo Galilei und seinesgleichen bezogen sich auf messbare physikalische und astronomische Erkenntnisse. Seine Gegner wollten naturwissenschaftliche Tatsachen nicht anerkennen.

Die Wirtschaftswissenschaften sind keine exakten Wissenschaften wie Mathematik und Physik, sondern Sozialwissenschaften, die im Kern nicht auf naturwissenschaftlicher Logik, sondern auf vorwissenschaftlichen Werturteilen basieren. Auch wenn es kein Fehler sei, „psychologische Kenntnisse“ zu haben, wird jungen Studierenden, die in die wirtschaftswissenschaftliche Forschung gehen wollen, jedoch empfohlen „so viel Mathematik, wie möglich“ zu lernen, wenn sie in ihrem Fach vorankommen wollen.

Allseits bekannt ist Adam Smith´ „unsichtbare Hand“ durch welche sich die vielen Eigeninteressen der einzelnen Menschen „am Markt“ angeblich zu einem harmonischen Ganzen fügen. Dies ist immer noch einer der wichtigsten Grundpfeiler im herrschenden Theoriegebäude.

Besonders aggressiv gestützt und verbreitet wird dieses Weltbild seit 20 Jahren von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, in der sich viele namhafte Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaftswissenschaften engagieren. Das populärwissenschaftliche Grundlagenbuch der Initiative von Randolf Rodenstock (2001)20 zeigt die gesamte Band-breite des marktzentrierten „wissenschaftlichen“ Weltbilds in bewusst allgemein verständlicher Sprache auf.21 Sozial heißt dabei, frei nach Adam Smith, dass das Handeln – und sei es noch so egoistisch motiviert – der Gesellschaft nutzt. Dafür sorge der Wettbewerb am Markt. Die auch der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zugrunde liegende vorherrschende ökonomische Theorie bezieht sich – im Gegensatz zu den Technologien, auf die Bezug genommen wird22 – ganz offensichtlich im Kern auf die Exaktheit der Newtonschen Physik und bleibt in einem mechanischen Gleichgewichtsdenken gefangen, dem psychologische und soziologische Erkenntnisse untergeordnet werden:

„Wenn wir die Chancen der neuen Technologien nutzen, werden wir alle älter, gesünder, wohlhabender, klüger und hoffentlich auch glücklicher werden, Trotzdem gibt der rasante Wandel der Wirtschaft zu Befürchtungen Anlass, die permanente Temposteigerung überfordere die Menschen. Dem ist nicht so. Dem Menschen eigentümlich ist eine gewisse psychisch-biologische Geschwindigkeit, die er zu optimieren sucht. Wenn es ihm zu rasch geht und er sich erschöpft fühlt, bremst er ab. Umgekehrt legt er etwas zu, wenn er sich unterfordert glaubt. In einer sich heftig und unter Brüchen wandelnden Welt ist der Mensch zugleich Täter wie Opfer, Auslöser, wie Betroffener. Aber als Konsument, Arbeitnehmer oder Unternehmer liegt es in seiner Hand, die technischen und ökonomischen Prozesse mitzugestalten. Hier wird sich im Laufe des Strukturwandels ein Optimum abzeichnen, jener Schnittpunkt, an dem die Entwicklung zu neuem Wohlstand führt, aber eine Überforderung der Menschen vermeidet“ (Rodenstock 2001: 187f).

Einmal davon abgesehen, wer mit „wir alle“ ernsthaft gemeint ist: Dass der Verfasser sich im alten Denken bewegt und damit keine „neuen akademischen Wahrheiten“ zur Sprache bringt, erwähnt er zu Beginn des Buchs sogar selber (a.a.O.: 13). Randolf Rodenstocks wichtigster Berater beim Schreiben des Buchs, der Journalist Peter Gillies, äußert darüber hinaus Gedanken, zu diesem Paradigma, die ohne Übertreibung mit „a-sozial“ bezeichnet werden können und sich am Rande zum Sozialdarwinismus bewegen:

„Der Wettbewerb jenes Prinzip von Vorstoß und Verfolgung, also die Jagd nach der möglichst besten und preiswertesten Lösung ist das Zentrum des marktwirtschaftlichen Leitbildes. Beim Sport hat niemand Probleme damit. Das Prinzip, stets der höheren und besseren Leistung nachzujagen wird dort allgemein akzeptiert. Da geht es um Zentimeter und Tausendstelsekunden. Das Publikum spendet brausenden Beifall. Nie käme es auf den Gedanken, dem Letztplatzierten etwa deswegen zu applaudieren, weil es sich um einen Alleinerzieher mit psychosozialen Problemen handelt. Beim Kampf um die sportliche Höchstleistung wird kein Pardon gegeben.“ (Gillies 2000: 7)

Am Ende seines „Werks“ mit dem bezeichnenden marktzentrierten Titel „marktwirtschaft.de“ bezieht sich Peter Gillies auf eine Metapher von Hans Haas in einem Buch über Management und vergleicht den (wohlgemerkt durch marktzentrierte Wissenschaft und Politik geschaffenen!) internationalen Wettbewerb mit dem Kampf zwischen „Löwe und Gazelle“, zwischen Räuber und Beutetier, die sich „durch Auslese“ gegenseitig zu höherer Entwicklung und Leistung verhelfen:

„Ist aber der globalisierte Wettbewerb nicht zu einem solchen Raubtierkäfig geworden, in dem Jäger und Gejagte unter Mutationsstress einer zwanghaften Höherentwicklung zutreiben? Hier endet der Vergleich, denn es kommt der menschliche Sozialstaat ins Spiel. Er wurde geschaffen, um die weniger Leistungsfähigen vor den brutalen Formen der Auslese zu schützen. Im Bilde von Hans Haas: Sozialhilfe für die schlappen Löwen und die langsamen Gazellen. Das Problem freilich liegt darin, dass im Nachbargehege, dessen Tore sich immer weiter öffnen, die Leistungsschwächeren vom Heger nicht gleichermaßen vor der Auslese geschützt werden. Prallen sie im freien Feld aufeinander, ist das Schicksal der Geschützten besiegelt.“ (Peter Gillies 2000: 96)

Wie bereits erwähnt: der Autor des Grundlagenwerks der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Randolf Rodenstock, ließ sich von Peter Gillies beraten. Bei ihm bedankt sich Rodenstock für dessen „wertvollen Rat“, den er „in fast endlosen Stunden intensiven Gedankenaustauschs gerne in Anspruch genommen habe“ (Rodenstock 2001: 13). Gillies habe ihm „immer wieder gekonnt die Feder geführt“.

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft bildet dabei nur die fundamentalistischeren Seiten des marktzentrierten Paradigmas ab, das jenseits von FDP und AFD in verschiedenen Abstufungen in nahezu allen größeren Parteien präsent ist.

Solch ein vorherrschendes Weltbild wird im Allgemeinen von jenen aktiv gestützt, die in Wirtschaft und Gesellschaft davon profitieren. Für die „breite Masse“ ist kaum etwas anderes vorstellbar, ist es doch auch in Universitäten, Lehrplänen und Schulbüchern verankert und andere Sichtweisen kommen kaum mehr als Kosmetik vor.

„Der Markt“ wird in diesem Weltbild nicht etwa von unterschiedlichsten „Tendenzen“ beeinflusst, sondern von einer Ordnung einiger weniger Naturgesetze regiert. So schreibt Gert Dahlmanns (1991: 7) im Vorwort zu einer Schrift des einflussreichsten westdeutschen Nachkriegs-Ökonomen Herbert Giersch (der auch die Ausrichtung des Sachverständigenrats-Wirtschaft prägte):

„[Ordnung] liegt allem Lebenden und Geschaffenen als Bauplan zugrunde – bestimmt den katastrophenfreien Lauf der Gestirne, hält den menschlichen Organismus in gesundem Gleichgewicht und ermöglicht der Maschine den störungsfreien Lauf. Ordnung als zweckmäßiges Zusammenwirken einer Vielheit von Faktoren kennzeichnet auch jedes funktionierende Wirtschaftssystem und wirkt mit ihren Strukturprinzipien auf die dazu gehörende Gesellschaft und ihre Mitglieder zurück.“

Solches mechanische Denken beherrscht – ohne „quantenphysikalische Zweifel“ seit Jahrzehnten die „modernen“ Wirtschaftswissenschaften und stellt damit weltweit das gesellschaftlich anerkannte „Fachwissen“ auch für die Politik dar. So „fahre“ Deutschland besser „mit marktwirtschaftlichem Klimaschutz“ (INSM). Wer etwas anderes, d.h. ein nicht (marktzentriertes Wirtschaftssystem fordert – oder es auch nur in Ansätzen reformieren will – wird als radikal, weltfremd, naiv und „nicht regierungsfähig“ bezeichnet, oder verunglimpft, wie die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock im aktuellen Wahlkampf durch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (ZDF 2021), obwohl die Grünen in ihrer Mehrheit das marktzentrierte ökonomische Weltbild etwa seit 1991 gar nicht mehr prinzipiell in Frage stellen.
Der Gegenwind gegen eine grundlegend neue Sichtweise dürfte heute ebenso groß sein, wie zu Zeiten Galileis, zumal sich die Anhänger des alten ökonomischen Weltbilds die Freiheit auf die Fahnen geschrieben haben.

Inzwischen gibt es die Forderung nach „pluraler Ökonomie“, damit in den Wissenschaften zum vollkommen einseitigen (vor allem „neoklassisch“ geprägten) Lehrbuchwissen verschiedene alternative Ansätze aufgezeigt werden. Auf Grund des paradigmenhaften Charakters des vorherrschenden ökonomischen Weltbilds und der damit verbundenen Verflechtung mit der realen Gesellschaft kann „plurale Wissenschaft“ alleine das Problem noch nicht lösen.
Für die Wirtschaftswissenschaften im deutschsprachigen Raum gibt es seit diesem Jahr mit dem neuen Standardwerk von Bontrup/Marquardt (2021) endlich ein Lehrbuch für „plurale Ökonomik“, so Rudolf Hickel im Vorwort. Ein heute dazu passendes gesellschaftliches Leitbild scheint der aus dem mexikanischen Chiapas stammende Vorschlag mit den Slogans „Eine andere Welt ist möglich!“ und „Fragend gehen wir voran!“ zu sein.

Eine Konzentration der Kritik auf neoliberale Politik vernachlässigt die fragwürdigen paradigmatischen Grundlagen und Methoden der herrschenden Wirtschaftswissenschaften, die auf ihrem fragwürdigen Fundament durchaus auch kritische Gegenspieler wie John Maynard Keynes integrieren und somit z.B. auch begrenzte Eingriffe des Staates in gewissem Rahmen tolerieren können.

Bourdieu wies auf die Umgestaltung der ökonomischen Rahmenbedingungen durch neoliberale Politik hin. Die wirtschaftsliberalen Veränderungen haben sich für die breite Öffentlichkeit lange „unmerklich, wie die Kontinentaldrift“ vollzogen (Bourdieu 1998: 117). Auf verheerende langfristige gesellschaftliche Wirkungen neoliberaler Umgestaltungen wies Bourdieu zudem hin (a.a.O. 49).

Weitsicht bewies in dieser Hinsicht in Deutschland Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Sturz durch eine neoliberale „Denkschrift“ aus dem Wirtschaftsministerium, dem so genannten Lambsdorff-Papier ausgelöst wurde. In dem Papier ist die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft als politische „Reform“- Aufgabe formuliert, womit die „geistig-moralische Wende“ Helmut Kohls eingeleitet wurde. Helmut Schmidt (1982a) erkannte (ohne das herrschende ökonomische Paradigma per se in Frage zu stellen) die verheerenden langfristigen Wirkungen der geplanten marktorientierten wirtschaftsliberalen Umgestaltungen. So sagte er in einer seiner letzten Reden als Bundeskanzler im Bundestag:

„Im [Ü]brigen aber hat die öffentliche Meinung die Denkschrift sehr richtig verstanden. Sie will in der Tat eine Wende, und zwar eine Abwendung vom demokratischen Sozialstaat im Sinne des Art. 20 unseres Grundgesetzes und eine Hinwen-dung zur Ellenbogengesellschaft.“

Zudem wies Schmidt zwei Wochen später in einer kritischen Frage an die damalige „F.D.P.“ auf die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit zur Verhinderung des weiteren CO2-Anstiegs in der Atmosphäre hin.30
Vollendet wurde die marktorientierte wirtschaftsliberale Umgestaltung ironischerweise weitgehend durch die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Der vollständige Essay mit Fußnoten und Quellenangaben lässt sich hier nachlesen.

Geschrieben von:

Tobias Kröll

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