Wirtschaft
anders denken.

Das traurige Universum der Salpeterindustrie

04.06.2017
Foto: Dieter Titz / flickr CC BY-ND 2.0Die Überbleibsel der Salpeterindustrie in Chacabuco

Was uns in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen und in Verlautbarungen der Politik, in Reden und Abkommen, wissenschaftlichen Untersuchungen und Sachbüchern über Wirtschaft erzählt wird, verhandelt auch die Literatur. Manchmal, nein oft, ist es erhellender, einen Roman zu lesen, um sich darüber klar zu werden, wie sich die Dinge entwickelt haben, worauf wir zusteuern und in welchem Schlamassel wir stecken. Und ob es ernste oder Unterhaltungsliteratur ist, die uns erhellt, sei allen überlassen, die genug haben, von den ewig gleichen Wortstanzen. Allemal kann es ein Vergnügen sein. Wenn auch oft ein beängstigendes.

Die Salpeterminen mitten in der chilenischen Wüste sind dem Untergang geweiht. Wir schreiben die 1960er-Jahre. Maria Margarita, die Erzählerin, ist zehn Jahre alt und lebt mit ihrem gelähmten Vater, einem filmbegeisterten Trinker und einstigen Minenarbeiter, und ihren vier Brüdern in einem winzigen Haus, dessen größtes Zimmer nur dem Namen nach über eine Couchgarnitur verfügt. Die Mutter ist gegangen, als der Mann Arbeit und Manneskraft zugleich verlor. Ein Topos in der Literatur. Nimm dem Mann die Arbeit, der Rest verschwindet von allein.

Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin. Roman, Insel, Berlin 2011

»Ich weiß noch, wie wir, als meine Mutter noch bei uns war (vor dem Unglück) und wir eine vollständige Familie waren und mein Vater arbeitete (und nicht so viel trank) und sie ihn nach der Arbeit mit einem Kuss begrüßte, wie wir da am Wochenende alle sieben zusammen ins Kino gegangen sind.«

Vorbei diese besseren Zeiten, die auch nicht gut waren. Aber aus dem Unglück des wirtschaftlichen Verfalls, blüht ein Talent auf, das die Zehnjährige und ihr kluger, trinkender Vater zu nutzen wissen.

»Weil daheim das Geld zu Pferd unterwegs war und wir zu Fuß, kratzten wir, wenn in der Siedlung ein Film gezeigt wurde, den mein Vater (nur wegen des Hauptdarstellers oder der Hauptdarstellerin) für sehenswert hielt, unsere Münzen zusammen, bis es für eine Eintrittskarte reichte, und ich wurde hingeschickt, um den Film anzuschauen. Wenn ich dann aus dem Kino kam, musste ich ihn im Garniturzimmer der vollzählig versammelten Familie erzählen.«

Es dauert nicht lang und die Nachbarn kommen dazu. Mehr und mehr Menschen drängen sich im Garniturzimmer, um die nacherzählten und nachgespielten Filme zu genießen. Maria Margarita legt sich einen Künsterinnennamen zu und wird ein Star. Auch sterbende Orte brauchen Glanz.

»Wie in jeder Salpetersiedlung in der Wüste, so konnte man auch in unserer an der Behausung gleich erkennen, zu welcher der drei sozialen Klassen die Bewohner gehörten: In den Wellblechhäusern lebten die Arbeiter, in den Häusern aus Lehmziegeln die Angestellten, in den Villen mit Holzveranden die Gringos.«

So einfach, so ewig gültig lässt sich Leben beschreiben. Dem Betreiber des Kinos gehörte ein Kleiderladen, er verwaltete das Schlachthaus und bestimmte die Preise der Kinokarten. Der Geldverleiher bekommt mehr Lohnzettel zum Pfand als Möbel oder gar Schmuckstücke. Die Besitzer der Salpeterminen kommen gar nicht vor im Buch. Man weiß ja sowieso, dass sie da sind.

Und doch wissen auch die in den Wellblechhütten, wie sich eine Marktlücke nutzen lässt. Fehlt den Leuten das Geld für eine ganze Kinokarte, haben sie vielleicht doch ein paar Pesos, um sich die großartigen Vorstellungen der Maria Margarita anzuschauen.

»Eines Tages ließ einer von den Gästen wie nebenbei etwas fallen, worauf wir als Familie im Leben nicht gekommen wären: Das wir Eintritt nehmen könnten. Was die Kleine da biete, das sei doch eine Vorstellung nach allen Regeln der Kunst. Und Kunst, meine Lieben, Kunst wird bezahlt.«

Dem Vater mit seinem noch nicht vertrunkenen Arbeiterstolz scheint das mit dem Eintritt zu brachial, aber eine freiwillige Spende, das könne man wohl von den Leuten erwarten. Das sei die sauberste Lösung. Und für diese Lösung würde man das Garniturzimmer so herrichten, dass es etwas hermachte. Denn auch für Spenden müsse dem Publikum etwas geboten werden.

Das Ungemach dieser ökonomisch rettenden Lösung kommt bald in die Siedlung: Das erste Fernsehgerät, von dem die Leute behaupteten, es würde bald dem Kino den Garaus machen.

»Einerseits ahnte ich, dass stimmte, was geredet wurde: Sollte das Fernsehen sich durchsetzen, so würde das zwangsläufig das Ende des Kinos bedeuten. Aber ich empfand auch eine leise Hoffnung für meine Arbeit, denn nachdem ich gesehen hatte, worum es sich handelte, schien mir ausgeschlossen, dass jemand auf Dauer lieber solche schemenhaften Bilder sah (obendrein noch in einer gefühllosen Kiste), als die Filme von mir erzählt zu bekommen.«

Wir ahnen, wie es kommt. Das Fernsehen sei die tote Großmutter, die uns grausame Geschichten erzählt, hat Heiner Müller zwar gesagt, aber tot heißt ja nicht machtlos. Der Siegeszug der Bilderkiste im Dorf der schon längst Verdammten bringt die Erzählerin um Lohn und Brot, und jene, die sich nun davor versammeln, um Antrieb, Lust und Verstand.

Letelier erzählt in dem kleinen, großen Roman nur in wenigen dürren Sätzen über das Leben derer, die in der Salpeterindustrie arbeiteten.

Salpeter hat Chile einst reich gemacht. Heute kann man in der Acatama-Wüste Geisterstädte besuchen, wie auch diese Reportage der FAZ aus dem Jahr 2011 erzählt. Der Text braucht mehr Sätze als Letelier, uns ein trauriges Universum zu offenbaren.

Das ist dann vielleicht der Unterschied zwischen Literatur und Journalismus. Er lebe hoch.

Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin. Suhrkamp / Insel Verlag, Berlin 2011

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Geschrieben von:

Kathrin Gerlof

OXI-Redakteurin

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